Code Alpha

Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

18. Juni 2024

Freitag, 18.06.2004 – Reis, Reis, Reis

Filed under: Japan,My Life,Uni,Zeitgeschehen — 42317 @ 7:00

Ich gehe früh ins Center, um mit meiner Datenübertragung fertig zu werden, damit ich mit Misi die Memorysticks wieder tauschen kann. Ich lerne nebenher meine Vokabeln und lese ein paar „Kevin & Kell“ Comicstrips. Ich erfahre dabei, dass man auch Bücher davon kaufen kann, man kann sie im Internet bestellen. Aber eine Ausgabe kostet umgerechnet 10 E, und zwar ohne Angabe, wie viele Seiten oder Strips ich dafür bekomme.

Weil Eve gerade da ist, kläre ich mit ihr ein paar Einzelheiten meines Kampfberichtes. Sie hat sich dazu bereit erklärt, ihn nach Fehlern zu durchsuchen, obwohl ihr das Thema nichts bis wenig sagen dürfte, aber ich habe sie eingehend vorgewarnt, um was es dabei geht und sie hat trotzdem zugestimmt. Leider ist sie die einzige Muttersprachlerin vor Ort; wären Dave oder David noch da, hätte ich die fragen können. Ich glaube, dass männliche Leser eher einen Bezug zu dieser Materie haben könnten.

Kuramata-sensei hat einen Professor zu Gast, der eine „echte“ Vorlesung über die wirtschaftliche und ökologische Bedeutung des Reisanbaus für Japan hält – das heißt, er hat eine Powerpoint-Präsentation vorbereitet und liest den Text exakt so ab, wie er auf der Leinwand erscheint. Aber gut, Stil beiseite. Ich habe mich schon woanders mehr gelangweilt. In seinem Text heißt es, dass Reisfelder das Land vor Taifunen schützen. Dieser Punkt ist mir nicht klar und ich frage nach. Die Reisfelder fungieren als ein gigantisches Netz vieler kleiner Staudämme und nehmen das Regenwasser auf, weswegen Überflutungen in Japan eine eher seltene Erscheinung seien. Ja, wenn ich „Taifun“ höre, muss ich in erster Linie an einen heftigen Sturm denken, und erst lange danach kommt mir der Gedanke an Regen. Offenbar ist die Trennung von „Sturm“ und „sintflutartiger Regen“ in japanischen Köpfen nicht so strikt wie in europäischen.
Dann erscheint unter „wirtschaftlichem Nutzen“ die Aussage „Reisfelder schmücken die Landschaft und ziehen Touristen aus den Großstädten an“. Nun ja, über die Ästhetik von Reisfeldern kann man sich streiten, aber man kann wohl sagen, dass es schön aussehen kann, wenn der Reis in Blüte steht. „Wie ein goldener Teppich auf dem Land“ sagen manche Beobachter.
Interessant fand ich auch das Argument „Reisfelder nehmen Giftstoffe (engl.: contaminants) auf und reinigen die Luft“. Ja, wenn sich das Gift im Reisfeld sammelt, landet es dann nicht in meiner Schüssel? Darüber muss der Professor einen Augenblick nachdenken, wirft einen Blick in die japanische Vorlage und meint dann: „Das verwendete Wort (Giftstoffe) ist vielleicht keine gute Wahl gewesen. Damit sind Stoffe wie Kohlendioxid gemeint.“ Aha, damit wird der Fall schon klarer.
„Aber machen das nicht alle Pflanzen?“
Der Professor lacht (verlegen?): „Ja, natürlich… aber dennoch ist es auch ein Vorteil der Reispflanze, oder?“
Wie kommt mir diese Argumentation vor?
„Benennen Sie die Vorteile eines Rotstiftes!“
„Man kann damit schreiben.“
Unter den statistischen Angaben findet sich die folgende Angabe, die mir (in aktuellerer Version) durch den Vortrag von Nim über Reisanbau in Japan bereits bekannt war: „Etwa die Hälfte der japanischen Bauern pflanzt ausschließlich Reis an.“
Ja, sind die denn alle von Sinnen?
„Warum pflanzen die denn keine Varietät von Reis, Gemüse und Obst, damit ihnen ein schlechtes Jahr nicht alles nimmt, was sie investiert haben?“
Darauf weiß er keine Antwort. Eine weitere Frage, die ihm unangenehm scheint. „Ja, das wäre sicherlich besser.“ sagt er. Warum kommt es mir vor, als hätte ich heute nur Fragen gestellt, die nicht genehm waren?
Die Statistiken offenbaren mir eine weitere Schwachstelle: Ich habe an anderer Stelle erwähnt, dass Japan nur 40 % seines Kalorienbedarfs selbst decken könne, die Reisversorgung aber sichergestellt sei. Klingt gut, vor allem als Wahlkampfslogan: „Die Reisversorgung ist sicher!“ Aber das hat einen Grund, der den Slogan ins Stolpern bringt: Seit dem Beginn der Sechziger Jahre ist der Pro-Kopf-Reisverbrauch aufgrund des steigenden Verzehrs von Brot und Nudeln von etwa 120 kg auf knapp 50 kg pro Jahr gefallen. Das heißt, wenn den Japanern Brot und Nudeln plötzlich nicht mehr schmecken würden (oder wenn sie der ewigen „Esst mehr Reis!“ Propaganda nachgeben würden), dann würde der Reis eben nicht reichen und es müssten gewaltige Mengen importiert werden.

Apropos Reisimporte: Japan wurde vor einiger Zeit von der Welthandelsorganisation WTO gezwungen, pro Jahr etwa 700.000 Tonnen Reis aus anderen ostasiatischen Staaten zu importieren (was etwa 9 % des eigenen Erntevolumens ausmacht). Dieser Reis aber landet nicht auf dem japanischen Markt, sondern wird in Hafenhallen gelagert, um bei Bedarf in Staaten mit Ernährungsengpässen geliefert zu werden, also zum Beispiel nach Nordkorea. Das mag an sich sehr nobel sein, aber für diese Starrsinnigkeit gegenüber dem Import von Reis kann man nur die Machtliebe der Liberaldemokratischen Partei LDP verantwortlich machen. Japanische Bauern sind aufgrund der Primitivität ihrer Mittel überhaupt nicht in der Lage, mit dem Ausland zu konkurrieren, sie würden untergehen, weil der Reis aus dem Ausland nicht nur billiger, sondern zum Teil auch besser ist. Allerdings stellen Reisbauern einen erheblichen Anteil der LDP Wählerschaft, und die Partei hat natürlich ein großes Interesse daran, ihre jahrzehntelange Alleinherrschaft aufrecht zu erhalten.
Der größte Nachwuchsfaktor für Reisbauern ist übrigens nicht der Familiennachwuchs der Bauern selbst, sondern Leute über 50, die sich pensionieren lassen, um dann als Bauern auf dem Land zu leben. Der Bauernstand veraltet, im wahrsten Sinne des Wortes. Der durchschnittliche Reisbauer ist um die 60 Jahre alt.

Ogasawara-sensei gibt uns unsere Klausuren zurück und bespricht sie. Ich komme auf 61 % und habe damit meinen Schnitt seit dem vergangenen Semester weiter gesteigert. Man muss es auch positiv sehen können.
Zuletzt gehen wir „Shima Uta“ weiter durch und sollen für die kommende Stunde den Text flüssig ablesen können – was bedeutet, dass mal wieder gesungen wird. Hat ihr denn die Vorstellung vom letzten Mal nicht ausgereicht?

Ich gehe ins Center und rede eine Weile mit Marc. Wie wir darauf kommen, weiß ich nicht mehr, aber er erzählt von „Baldur’s Gate II“, einem Rollenspiel für PC, das offenbar große Spielräume für das Verhalten des Charakters lässt, und das interessiert mich. Nichts ist übler in einem Rollenspiel, als dem Spieler keine Aktionsfreiräume abseits der Haupthandlung zu belassen.
Izham, der Malaye, rät mir, es auch mal mit „World of Warcraft“ zu versuchen. Ich wiederum tue mein bestes, ihn für „Combat Mission“ zu erwärmen, weil er ein Faible für Taktik- und Strategiespiele zu haben scheint, also gebe ich ihm die CD mit, bevor ich mich in die Bibliothek verziehe.

Schreibe einen Kommentar