Mittwoch, 02.06.2004 – Die Bauern, unsere Beziehungen, und die Neue Kuh
Von den Leuten, die ich gestern um Rat gefragt habe, haben tatsächlich wie erwartet drei geantwortet. Meinen besten Dank. Ich erfahre leider nichts Neues, außer, dass die weniger wissen als ich. Unter Trierer Studenten, die vorübergehend ins Ausland ziehen, geht man davon aus, dass es notwendig sei, die Rückmeldung mit Hilfe der TuniKa in Trier vor Ort vorzunehmen, indem man einem Treuhänder seine Karte überlässt und den bittet, die entsprechende Überweisung vorzunehmen. Dies entspricht aber nicht der Wahrheit – eine Überweisung des Semesterbeitrags mit Matrikelnummer als Verwendungszweck reicht völlig aus. Am meisten wundert mich, dass Katsuki-sensei noch nicht geschrieben hat. Sie ist als notorische Frühaufsteherin normalerweise recht schnell beim Beantworten der Post, und ich habe sogar einen hohen Prioritätsgrad angegeben.
Kondô-sensei lässt den Unterricht heute ins Freie verlegen, weil das Wetter so schön ist. Dann drückt er Mei 1000 Yen in die Hand und sagt, sie solle bitte zum Automaten gehen und bitte für alle was zum Trinken besorgen. Sie bringt Tee. Und dieses Zeug aus dem Automaten, allem voran Ôlong, ist einfach widerlich. Aber ich trinke ein paar Schlucke davon, um den Spender nicht zu beleidigen, wie man das in Japan halt macht.
Nim redet über den Zustand der japanischen Landwirtschaft, und der zu Grunde liegende Aufsatz (von 2003) zeichnet da ein reichlich düsteres Bild. Fünf Prozent der japanischen Bevölkerung sind in der Landwirtschaft tätig, in Deutschland sind es drei. Das ist an sich nicht atemberaubend. Die quantitative Reisversorgung ist sichergestellt, aber dennoch kann Japan aus sich heraus nur 40 % des nationalen Kalorienbedarfs decken. Die Nahrungsmittelimporte sind so hoch, dass sie die Exportgewinne in Höhe von etwa 7 Trillionen Yen (ca. 53 Mrd. Euro) fast vollständig aufzehren. Vom weltweiten Fischfang z.B. gehen 60 % (!) nach Japan.[1] Deutschland ist, laut Aussage des Verfassers, in der Lage, seinen Kalorienbedarf zu 99 % selbst zu decken. Natürlich bedeutet eine solche Angabe in der Statistik nicht, dass ein Staat mit einer Sättigung von 100 % keine Importe bräuchte. Schließlich könnte das auch bedeuten, dass das nationale Angebot zwar sehr kalorienhaltig, aber wenig abwechslungsreich ist.
Nim ist leider nicht leicht zu verstehen. Ihr Englisch (es mag nicht sehr gut sein, aber es ist auch nicht schlecht) macht dabei nur den geringsten Teil des Problems aus. Hinter ihr plätschert nämlich der Brunnen, neben mir übersetzt SangSu das Gesagte für Mei ins Koreanische und wir müssen andauernd Ameisen von unseren Kleidern verjagen, weil es hier in der Umgebung offenbar einen volkreichen Staat gibt.
Im Anschluss redet Hugosson, im Lehrsaal, über „Soziales Kapital“ (oder „Gesellschaftliches Kapital“), was man auf gut Deutsch „Vitamin B“ nennt – Beziehungen. Wie viele Beziehungen wir denn hätten, will er wissen. Ich gebe an, so um die 80 zu haben. Ich denke, so viele Leute stehen mir nahe genug, um sie um einen Gefallen bitten zu können, wenn es einmal notwendig sein sollte. Die Koreanerin JiGong schickt gleich „ein paar Hundert“ ins Rennen. Aha. Die Thailänderin Nun setzt der Sache die Krone auf und gibt „um die 2000“ an. Da fällt mir ja die Kinnlade runter! Und ich habe echte Probleme, das zu glauben. Ich möchte schätzen, dass es auf der Welt etwa 150 Leute gibt, die sich an meinen Namen oder an mein Gesicht (oder zumindest eines davon) erinnern können. Den „harten Kern“, also meine besten Freunde, gebe ich mit etwa einem halben Dutzend an, und da unterscheide ich mich nicht von den anderen, was meiner Meinung nach die These von den 2000 Kontakten weiter aushöhlt.
Als nächstes, nach dem Unterricht, schreibe ich „Entwarnungen“ an alle, die mir auf meine Anfrage geantwortet haben, und an meine Lehrerin. Dann gehe ich ins Sekretariat meiner hiesigen Fakultät und beantrage die Immatrikulationsbescheinigung – auf Englisch, bitte. Das Papier werde binnen der nächsten zwei Tage in meinem Postfach liegen, heißt es.
In eben jenem Postfach finde ich heute einen Bescheid des Centers, in dem ich aufgefordert werde, bis zum 30. Juni meine Rückreiseformalitäten mit der Angabe meiner Reiseroute zu beginnen. Ich gehe also zu Prof. Fuhrt, um eine mögliche Verlängerung zu klären, aber er verweist mich an meine Kontaktstellen in Trier. Außerdem bietet er mir an, das Faxen der Immatrikulationsbescheinigung für mich zu übernehmen.
Ich werfe am Abend einen Blick in die „Japan Times“ und finde darin einen interessanten Bericht. Darin ist zu lesen, dass das japanische Unternehmen „Kirin“ es geschafft habe, eine Kuh zu züchten, die gegen BSE immun sei. Man habe dazu ein Trägerprotein entfernt, das angeblich keine andere Funktion als das Übertragen von solchen Krankheiten habe. Die Kuh sei noch nicht geboren, sondern befinde sich derzeit noch im Mutterleib – nichtsdestotrotz laufen die Untersuchungen bereits. Jetzt frage ich mich allerdings, warum ausgerechnet eine Brauerei, wenn auch die zweitgrößte Japans, solche Forschungen betreibt. Die verkaufen nämlich Getränke jeder Art – nur keine Milch.[2]
[1] Ich frage mich heute, ob diese Zahl korrekt berechnet war. Im Jahr 2020 betrug der japanische Anteil am weltweiten Fischkonsum (laut de.statista.com) nämlich nur knapp 4 %.
[2] Patente sind immer eine Kapitalanlage.
Schreibe einen Kommentar
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.