Mittwoch, 26.05.2004 – Aus dem Leben eines Schweden
Der nächste lange Mittwoch steht mir ins Haus, und ich darf ihn damit beginnen, zwei Dialoge für Ogasawara-sensei, für den heutigen Unterricht, zu schreiben – weil ich diese Hausaufgabe völlig vergessen habe. Ich wehre mich gegen den Vorwurf der erfolgreichen Verdrängung – ich habe eine Schwäche für solche Schreibangelegenheiten. Wegen des Zeitmangels schaffe ich es leider nicht, der Sache den üblichen Schwung zu geben. Da jeder Teilnehmer zwei Dialoge hat schreiben müssen, lässt die Lehrerin die Notizen wandern, von einem Tisch zum anderen, und man soll markieren, welcher Text der bessere sei. Die Texte mit den meisten Markierungen werden vorgelesen – meiner ist dabei, und ich würde das ein Armutszeugnis für die Kreativität meiner Mitstudierenden hier nennen.
Kondôs Unterricht fällt aus. Ich gehe in den nächsten Supermarkt und kaufe eine Tüte Brot, die eigentlich drei Portionen Frühstück abgeben soll, aber sie verschwindet im Laufe des Nachmittags Stück für Stück in meinem Bauch. Die Flasche Yoghurt Kalpis dagegen ist tatsächlich für den Sofortverzehr gedacht. Dieses Getränk könnte ich ernsthaft vermissen. Nudelsuppe und sogar Sushi bekomme ich auch in Deutschland auf die eine oder andere Weise, aber Yoghurt Kalpis?
Ich setze mich in die Bibliothek und vertreibe mir die Zeit bis zum nächsten Unterricht mit dem Schreiben meines Kampfberichtes, aber ich vergesse die Zeit ein bisschen zu sehr und komme zehn Minuten zu spät zum Unterricht von Hugosson. Der fragt mich zuerst nach deutschen „Schuhsitten“:
„Trägt man in Deutschland im Haus Straßenschuhe?“
„Das ist von Haushalt zu Haushalt verschieden, aber es spricht an sich nichts dagegen, solange die Schuhe nicht deutlich verschmutzt oder nass sind.“
Er fragt auch die anderen Anwesenden, aber die kommen ja alle aus Asien, und Asiaten sind sich in dieser Frage einig, wie es scheint. Er erzählt, in Schweden sei es üblich, die Straßenschuhe auszuziehen und mitgebrachte, saubere Schuhe anzuziehen, während es völlig in Ordnung sei, das Haus barfuß zu betreten, auch wenn man gerade durch die Wiese oder den staubigen Garten spaziert war.
Ansonsten erzählt er, wie er anno dazumal, 1992, zum ersten Mal nach Japan gekommen war, als Kampfsportlehrer. Man stelle sich das vor: Ein Europäer, dazu noch einer aus dem friedlichen Schweden, kommt ins Land der weisen Sensei und will sich als Kampfsportlehrer betätigen, und dazu noch in einer offenbar japanischen Disziplin: „Taidô“ heißt der Sport. Ich hab noch nie davon gehört. Jedenfalls kam er auf Vermittlung des betreffenden Sportverbandes zuerst nach Tokyo, mitten im Winter, und er hatte nur Sommerklamotten dabei. Er hatte ein milderes Klima auf der geografischen Höhe des Mittelmeers erwartet.
Nachdem er dann eine Woche lang von McDonald’s gelebt hatte, weil er kein Wort Japanisch sprach, wurde er von dem Sportverband ausgerechnet nach Hirosaki weitervermittelt – in seinen Sommerklamotten. Also im überhitzten Bus mitten in die „Arktis“; eine kurze, aber heftige Erkältung war die Folge.
Er lebte dann ein Jahr lang „Homestay“ bei einem wohlhabenden Arzt (ich glaube, in Japan sind alle Ärzte wohlhabend, nicht wahr, Jin-san?), arbeitete aber nicht als Trainer, sondern als Kucheneinwickler in einer Konditorei im Norden der Stadt. Man entzog ihm ziemlich schnell die weichen Tortenstücke wieder, weil er ein wenig zu kräftig zupackte und gab ihm „härtere“ Backwaren zum Einpacken. Außerdem musste er im Spagat an dem Tisch arbeiten, weil der für Japaner gebaut war, was heißt, dass er für einen durchschnittlich großen Nordeuropäer zu klein zum davor Stehen und zu groß zum davor Sitzen oder Knien ist. 1995 kehrte er zurück, diesmal als Forschungsstudent/Doktorand, machte seinen Doktor an der Universität von Hirosaki. Er heiratete eine Japanerin und blieb im Land.
Ich habe keine Ahnung, was das mit dem Thema zu tun hat, aber ich finde es sehr unterhaltsam und es macht den Mann auch sehr sympathisch. Immerhin erwähnt er hier und da eine der Organisationen, um die es in dem Unterricht eigentlich gehen soll.
Danach verschwinde ich wieder in der Bibliothek, bis etwa 21:45. Ein großer Artikel zum Thema „D-Day“ hält mich auf. Aber es geht nicht um die Landung selbst, sondern um eine Übung an der englischen Küste:
Da sollen doch 1943 die Übungsgegner aus nicht bekanntem Grund scharfe Munition erhalten haben, wahrscheinlich ein fataler Fehler der Ausrüstungsstelle. Die Probelandung soll 750 (!) Amerikaner das Leben gekostet haben, und noch lebende Anwohner der Gegend sagen aus, sie hätten die Leichentransporte gesehen, beim Herstellen von Särgen geholfen oder beim Ausheben von Massengräbern, während andere sich ausschweigen und kein Wort über die Angelegenheit verlieren wollen, die vom Pentagon vehement abgestritten wird. Die Verluste werden offiziell einem Angriff deutscher Schnellboote auf einen Konvoi tags darauf zugeschrieben.
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