Freitag, 21.05.2004 – Gemurmel mit musikalischer Untermalung
Kuramata-sensei leitet heute den Unterricht nicht selbst, sondern überlässt ihn einem jüngeren Assistenzprofessor, der sich eingehend mit der Bedeutung des Reises für die japanische Kultur beschäftigt und fließend Englisch redet, wenn auch mit Akzent. Seinen Namen habe ich leider schon wieder vergessen. Er redet über alles Mögliche in Bezug auf Reis, also Ursprungsgebiete, Sorten, Ausbreitung und Verbreitungsrichtungen der letzten 3000 Jahre. Man geht davon aus, dass der Reis aus Südchina gekommen ist, weil es dort die größte Zahl von Sorten gebe, das heißt also, der Reis hatte dort die meiste Zeit, sich zu diversifizieren.
Er redet auch ein wenig über Verarbeitungsmethoden und führt uns dabei eine Rechnung vor, in der er darzustellen versucht, wie viele Reiskörner der durchschnittliche Japaner im Laufe einer Mahlzeit verzehrt. Er geht dabei von einem Go Reis aus, und das sind offiziell 165 Gramm (trocken). Anhand des Gewichts eines einzelnen Reiskorns kann man nun errechnen, dass ein Abendessen das Ende von ca. 448.000 Reiskörnern in einem einzelnen Magen sieht. Diese Zahl erscheint mir so unglaublich hoch, dass ich versucht bin, bei Gelegenheit mal zu zählen.[1] Im Gegensatz zu der vergangenen Stunde habe ich keine weiteren Fragen. Was das Thema „Entschlüsselung der Genstruktur des Reises“ angeht, bin ich bedient worden.
Und wir sollen einen Aufsatz über ein vergleichbares Produkt in unserer Heimat schreiben, bis in zwei Wochen. Also was wäre das? Kartoffeln sind zwar ein bedeutender Faktor deutscher Ernährung, aber sie sind viel zu „jung“, da sie erst seit ca. 300 Jahren in großem Stil bei uns angebaut werden. Dann bleibt ja nur Getreide, also Weizen oder Roggen, würde ich sagen. Eher Weizen. Melanie schustert mir auch gleich die ganze Arbeit zu – aus Kompetenzgründen, sagt sie. Erstens seien mein Englisch und meine Ausdrucksfähigkeit viel besser und zweitens käme ich ja vom Land, also sollte mir das Thema ja liegen, ich sei „prädestiniert“ für ein Agrarthema. Dabei hatte ich mit Landwirtschaft nie mehr zu tun, als zum Zeitvertreib Kornfelder mit Heuballen platt zu walzen, abgeerntete Felder anzuzünden und Traktoren zu sabotieren – was abenteuerlustige Kinder halt so alles treiben.
Ogasawara-sensei lässt uns heute das Lied „Satô Kibibatake“ („Zuckerrohrfelder“) singen, nachdem wir es in den letzten Stunden gelesen und zu verstehen versucht hatten. Allerdings würde ich den Begriff „singen“ hier lieber nicht verwenden. Ein misstönendes Etwas kommt dabei heraus. Für meine Begriffe hat das Lied eine etwas unglückliche Tonlage. Die ist höher als mein Ideal, aber wenn ich eine Oktave tiefer gehe, renke ich mir den Kehlkopf aus. Man muss es mit lauter Stimme singen, damit das was wird, und danach ist mir in dieser Situation nun wirklich nicht.
Ich gehe noch in die Bibliothek, schreibe aber wegen der Kürze der Zeit nichts mehr.
[1] Ein trockenes Reiskorn wiegt 0,02 bis 0,03 Gramm. Ein Gramm Reis sind also höchstens 50 Reiskörner, 165 Gramm Reis sind also demnach ungefähr 8250 Reiskörner. Die genannte Zahl von 448000 wären also über 54 Go Reis (mit denen man über dreißig Leute satt bekommt).
Schreibe einen Kommentar
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.