Donnerstag, 20.05.2004 – Kamikakushi[1]
Ich schaue mir am Morgen eher zufällig die Nachrichten an und sehe, dass sich zwei Geiselnehmer, ein Mann und eine Frau, in einem Haus verschanzt hatten, das wohl heute Morgen von einem Polizeikommando gestürmt worden ist. Der „spannende“ Bericht ist live und geht über mehrere Minuten, aber alles, was es zu sehen gibt, sind ein Haus mit zerbrochener Fensterscheibe, die obligatorische blaue Plane, um das Sichtfeld vor der Presse zu schützen und abfahrende Krankenwagen. Noch nicht einmal einen gesprochenen Kommentar gibt es. Mich interessiert heute der Wetterbericht mehr, da wohl gerade ein Taifun nach Norden rollt. Aber er wird bestenfalls den Ostrand der Kantô-Ebene mit seinen Ausläufern streifen (= Tokyo) und hier oben bei uns im schlimmsten Fall für unspektakuläre Wolken und ein bisschen Regen sorgen, heißt es. Und der Regen fällt heute zu günstigen Zeiten, nämlich dann, wenn wir unter einem Dach sind, und wir werden beim Radfahren nicht nass.
Nach Yamazakis Unterricht betreibe ich weiter Werbung für das gemeinsame Sushi-Essen am Samstag. Unser chinesisches Ehepaar Han (sie) und Jo (er) erklärt, Interesse zu haben. Und währenddessen passiert etwas sehr Merkwürdiges. Drehen wir die Zeit für die Einleitung zwanzig Minuten zurück:
Ich finde unter meinem Tisch im Lehrsaal einen Ordner mit Unterrichtsunterlagen und Hausaufgaben, einiges davon Englisch. Kein besonders gutes Englisch, der Autor (eher „die Autorin“, der Schrift nach zu urteilen) hat Probleme mit Präpositionen. Na egal. Ich suche nach einem Namen und finde schließlich eine Arbeitserlaubnis für Ausländer, wenn ich das richtig sehe. Eine Chinesin offenbar… ha, und den Namen darauf kann ich sogar lesen: „Das fröhliche, fröhliche Pferd“ – Ma FanFan. Aha… und sie ist zwei Jahre älter, als sie mir gesagt hat… sie ist 1980 geboren, nicht 1982. Eitelkeit kennt offenbar keine Grenzen. 🙂 Das würde zum Teil erklären, warum sie mich damals so vehement gebeten hat, ihr Geburtsjahr wieder zu vergessen. Ich lache in mich hinein. Es wäre auch nicht das erste Mal, dass ein Chinese sein Geburtsjahr für sich behält, so wie Tei, der Programmierer, der mir erzählen will, dass das Jahr der Geburt in China für amtliche Vorgänge nicht von Bedeutung sei. Ich lege den Ordner schön sichtbar auf den Tisch, damit ich ihn nicht vergesse. Bei Unterrichtsende, nach den zwanzig Minuten der Einleitung, wende ich mich dann zuerst dem Ehepaar zu und rede zwei Minuten mit den beiden, zuzüglich der Zeit, die ich brauche, um das Foto zu machen, das mir noch von den beiden fehlt. Sie kriegen ein gemeinsames.
Als ich mich dann wieder zu meinem Tisch umdrehe, ist die Mappe verschwunden. Sie liegt auch nicht darunter. Ich gehe also davon aus, dass Melanie, die neben mir saß, das Ding an sich genommen hat und gehe ins Center, um sie zu fragen, aber Melanie hat den Ordner nicht angefasst. Ich gehe in den Raum 313 zurück und durchsuche ihn gründlicher. Aber ich kann so viele Würfe auf „Durchsuchen“ machen, wie ich will, das Ding ist nicht mehr da. Ich gehe wieder ins Center und frage Valérie und Eve, die in der 313 vor mir sitzen, aber die haben nicht gesehen, was daraus geworden ist. Das ist doch zum Mäusemelken! FanFan wird nicht begeistert sein, wenn ich ihr erzähle, dass ich ihre offizielle Arbeitsberechtigung gefunden habe, nur um sie zwanzig Minuten später wieder zu verlieren.
Den Rest des Tages verbringe ich in der Bibliothek und gehe mit Melanie am Abend noch mal in den LKW essen.
[1] Etwa: das „Verschwinden auf Grund übernatürlicher Einflussnahme“
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