Mittwoch, 19.05.2004 – Der Aussteiger
Zum Glück besteht der Monstermittwoch üblicherweise weitgehend aus Routine, an sich muss man nicht viel darüber schreiben. Es sei denn, Dinge wie heute nehmen ihren Lauf…
Vor einer Woche hatte ich im Unterricht von Kondô-sensei einen Vortrag über das praktizierte, aber nach Interpretation des Autors nicht ganz legale japanische Autobahnfinanzierungssystem gehalten. Über die erste Hälfte des Aufsatzes, um genau zu sein. In der zweiten Hälfte steht gar nicht mehr so viel drin. Das Interessanteste sind noch die Vorschläge, wie man die Situation nicht nur auf nationaler, sondern auch auf lokaler Ebene angehen und lösen könne. Es war nun Misis Aufgabe, eine Zusammenfassung des Inhalts der zweiten Hälfte vorzunehmen. Zehn Tage vor dem heutigen Datum hatte ich ihm den Text gegeben.
Er war mit der ihm eigenen Motivation an den Text herangegangen, was mir zwar aufgefallen war, ich aber nicht weiter erwähnenswert fand, weil Kommentare wie „Ich will diesen langweiligen Scheiß nicht machen…“ unter Studenten nicht unüblich sind, während die Arbeit aber in den meisten Fällen dann doch irgendwie gemacht wird. Zu meinem Vortrag war er nicht erschienen, aber auch dabei dachte ich mir nicht allzu viel. Er gehört nicht zu der eifrigen Sorte und man könnte meinen, er gehöre zu denen, die genau Buch über blaugemachte Tage führen, um das Maximum aus der erlaubten Anzahl von verpassten Stunden herauszuholen.
Heute kommt er zumindest zu spät. Aber was macht das schon? Kondô selbst kommt grundsätzlich fünf Minuten zu spät. Als Kondô dann aber da ist und das stumme Warten beginnt, frage ich SangSu, ob er Misi anrufen könne – nicht, dass er am Computer die Zeit vergessen hat. Kondô bespricht währenddessen mit Nim ein paar Einzelheiten ihres Vortrages nächste Woche. Misi erweist sich als erreichbar (alles andere wäre auch seltsam), und aus dem, was SangSu von sich gibt, muss ich entnehmen, dass Misi entweder nur mangelhaft oder gar nicht vorbereitet ist. Meine erste Vermutung ist natürlich, dass er sich mit irgendeiner mehr oder weniger fadenscheinigen Ausrede entschuldigen lässt – aber er kommt einen Augenblick später tatsächlich durch die Tür herein! Betrunken? Wahnsinnig? Blöde? Er sieht auch recht verunsichert aus. Würde mir an seiner Stelle ebenso gehen. Ich weiß nicht mehr, was er beim Reinkommen gesagt hat, aber er hat sich für seine Verspätung nicht entschuldigt. Nach der mangelnden Vorbereitung (Vorbereitung?) und dem verspäteten Erscheinen an sich ist das sein dritter Fehler. Erstens ist es eine Sache der Höflichkeit und zweitens war Kondô ein hohes Tier in einem japanischen Wirtschaftsunternehmen – der Mann ist es gewohnt, dass man ihn in höflichstem Japanisch anspricht und es ist schon beinahe beachtlich, dass er solche Basiskurse ausgerechnet für Ausländer veranstaltet.
Aber gut, Misi fährt fort auf seinem Weg in den Abgrund. Er legt seine Unterlagen auf einen Tisch in der zweiten Sitzreihe, nimmt einen Stuhl aus der ersten Reihe, dreht in um und setzt sich darauf. Ich gehe in diesem Moment davon aus, dass er die Situation retten will, indem er das, was er vorträgt, direkt aus dem Text abliest. Ich muss nicht extra erwähnen, wie hirnrissig ein solcher Plan meiner Meinung nach ist. Aber es erweckt auch den Eindruck, dass er zumindest etwas davon gelesen hat. Ansonsten wäre er doch nicht so dämlich, tatsächlich zu erscheinen. Oder doch?
Er sitzt also erst mal und holt Luft. Kondô-sensei fordert ihn aber auf, ans Pult zu gehen und von dort aus zu sprechen, wie man das üblicherweise macht. Eine reine Formalität, würde ich sagen, denn immerhin hat Kondô nichts dagegen, wenn man während des Vortrags sitzt, auch mir hat er das angeboten, aber ich stehe lieber. Misi hasst es generell, vor einer Gruppe zu sprechen, und das gilt auch für die Englischstunden, die er im „York Cultural Center“ gibt, oder gegeben hat. Möglicherweise hat er zu viel Lampenfieber. Ich dachte eigentlich, das lege sich, wenn man mal zwei oder drei Vorträge gehalten hat, und ich mache es inzwischen eigentlich ganz gerne. Aber er nicht. Und wohl deshalb entfleucht ihm beim Aufstehen ein artikulierter japanischer Laut, der das exakte Gegenstück zum deutschen „Ja, ja…“ ist, das man in seiner besten Ausführung aus dem ersten „Werner“ Film kennt. Vierter Fehler! Kondô findet es gar nicht komisch, mit einem solchen Kommentar bedacht zu werden und weist den Ungarn zurecht: „Was soll das heißen, ‚ja, ja’? Ich bin der jenige, der ‚ja, ja’ machen sollte!“ Das steckt Misi noch weg.
Er fängt an zu reden. Ich bin gespannt. Ungefähr fünf Sekunden lang. Dann weiß ich, was läuft: „In dem Aufsatz geht es darum, dass japanische Autobahnen sehr teuer sind. Ich habe mit einer Bekannten gesprochen und sie erzählte mir, dass eine Fahrt nach Tokyo 10.000 Yen koste, und der Weg zurück noch einmal 10.000…“ Und weiter kommt er nicht mehr.
„Das ist nicht in Ordnung!“ unterbricht ihn Kondô unwirsch.
„Was ist nicht in Ordnung?“ Dass Misi in dieser Situation überhaupt nicht weiß, wie er gerade seinen Untergang besiegelt hat, sagt alles darüber aus, dass er in seinen „Lesebemühungen“, wenn überhaupt, nicht einmal bis zu dem Teil gekommen ist, über den er eigentlich reden sollte. Vermutlich hat er völlig vergessen, dass er nur die zweite Hälfte hätte behandeln müssen.
„Darüber haben wir letzte Woche bereits gesprochen! Sie waren nicht da, also wissen Sie wahrscheinlich noch nicht einmal, was Sie zu tun haben!“ Uh, Kondô ist sauer, die Luft zum Schneiden dick, und nachdem sich die beiden dann noch dreimal gegenseitig ins Wort gefallen sind, erklärt Misi, dass er den Kurs verlassen wolle. Ist wohl besser so in dieser Situation. Ich bezweifle auch stark, dass er den Kurs am Dienstag weiter besuchen wird, der Trottel. Kondô verlangt für die volle Vergabe der Leistungspunkte nur regelmäßige Anwesenheit, einen unbedeutend kleinen Vortrag, wenigstens vorgetäuschtes Interesse und offenbar ein Mindestmaß an Höflichkeit. Keine Hausarbeit, keine Klausur. Man muss schon arg einen an der Waffel haben, um sich das entgehen zu lassen. Immerhin ermöglicht Kondô damit seinen Zuhörern, die Klausuren zweier weiterer Kurse in den Sand setzen zu können, ohne dadurch unter die Grenze von 12 Punkten (= sechs erfolgreiche Doppelstunden-Kurse) zu rutschen. Er erklärt den heutigen Unterricht mangels Inhalt für beendet, stärkt mein Ego, indem er meinen Vortrag von letzter Woche gleich zweimal lobt, und sagt, dass das Wesentliche bereits erläutert worden sei.
Ich bin arg durstig und gehe zusammen mit Mei in den „Maruesu“ Supermarkt, um mir eine Flasche Yoghurt Kalpis zu kaufen. Das Brot ist gerade um 30 % reduziert, also lasse ich mir das auch nicht entgehen. Ich gehe dann mit ihr in die Mensa, bis der nächste Unterricht beginnt. Sie haut mir den Stuhl übrigens nicht um die Ohren, als ich sie darauf anspreche, ob sie in Japan möglicherweise zugenommen habe. Nein, sie wiege genauso viel wie vorher.
Was also noch folgt, ist Hugosson, der alte Schwede (Ende Dreißig). Da ist heute ebenfalls ein Vortrag fällig, über die sozialen Sicherungssysteme unserer jeweiligen Heimatländer. Soweit Deutschland betroffen ist, kann das ziemlich kompliziert oder umfangreich werden. Ich sage ihm also zu Unterrichtsbeginn, dass ich zwei oder drei Minuten (wie verlangt) damit füllen könne, einfach nur zu sagen, dass es diese und jene staatlichen Versicherungen gebe und zu was sie im Prinzip gut seien, aber darüber hinaus wisse ich nicht, was ich weiter sagen könne, ohne in unwichtige Details zu verfallen, wie zum Beispiel die Bestimmungen über die Berechnung der Beiträge. Er lässt die Vorträge darauf ganz einfach sein und organisiert die Sache als entspannte Diskussionsrunde. Und das geht auch ganz wunderbar, da wir nur zu dritt sind. MunJu ist heute nicht da. Und – wer hätte das gedacht? – Misi ebenfalls nicht. Er fragt, wieso, und ich versuche mich in den schönsten Euphemismen, um die Situation von vor 90 Minuten zu umschreiben. Das beflügelt für gewöhnlich die Fantasie des Zuhörers mehr, als wenn man einfach sagt, wie es wirklich gelaufen ist, und gleichzeitig simuliert der Sprecher eine zurückhaltende Höflichkeit. J
Ich gehe in die Bibliothek (uswusf.) und komme gegen Acht nach Hause.
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