Samstag, 15.05.2004 – Erdbebenalarm! (Annahme Üb)
Ich stehe um 07:15 auf, weil ich vermeiden möchte, wieder bis zum kommenden Freitagabend warten zu müssen, um die „SailorMoon“ Episode vom Samstag sehen zu können. Es kommt jeden Abend was anderes, und weil ich inzwischen früher schlafen gehe, habe ich nicht mehr so viel Zeit, das TV-Programm zu verfolgen. „Ogami“ läuft derzeit fünfmal die Woche… mittags wird die Episode aufgezeichnet und abends angesehen… das ist zu viel. Die Serie ist cool, aber sie kostet so zuviel Zeit. Wird gestrichen. Und ich will „SailorMoon“ in Zukunft aus Zeitgründen wieder „live“ sehen.
Sieht aus, aus würde sich die Episode heute in erster Linie mit Makoto/Jupiter beschäftigen. Makoto erklärt sich bereit, für den am Arm verletzten Motoki zu kochen und landet mit ihm im Kino. Nachdem es ihm in der vergangenen Episode nicht gelungen ist, sie in „Finding Kame“ („Findet die Schildkröte!“, um dem deutschen Titel der Anspielung nahe zu kommen) zu schleppen, schafft er es diesmal, sie zu „Kame Fighter“ zu überreden (meiner Meinung nach eine Anspielung auf „Street Fighter“ oder vielleicht „Kamen Rider“, eine der unzähligen schlechten, aber auch erfolgreichsten und langlebigsten japanischen Superheldenserien). Und dann erklärt sie dem todunglücklichen Motoki, dass aus ihnen nichts werden könne. Die Gründe haben sich seit der Zeit der Animeserie offenbar nicht geändert, kurz: Sie ist ein Tomboy (sie findet sich ganz und gar nicht weiblich) und hat Komplexe deswegen. Motoki zieht ab („So gründlich hat mir noch niemand eine Abfuhr erteilt.“), worauf Makoto von einer Handvoll Yôma angegriffen wird. Es entspinnt sich die übliche Vorführung in Gelenkbeweglichkeit und sie muss auch was einstecken. Aber der Ausgang bleibt natürlich wenig spannend. Und nachdem der Feind (mit Unterstützung der übrigen Senshi) dann in die ewigen Jagdgründe eingegangen ist, sieht sie passend zur heutigen Gelegenheit auch ein, dass man alleine ja doch nur mehr Probleme hat, klarzukommen (und zeigt dabei mit dem metaphorischen Ellenbogen auf die eher zufällig anwesende SailorVenus, um den unfeinen Zeigefinger zu vermeiden). Mittlerweile hilft Zoisyte dem Gedächtnis von Nephlyte auf die Sprünge, indem er Mamoru gleich vor Ort erscheinen lässt – und wenige Augenblicke später nennt auch Nephlyte ihn „Master Endymion“.
„SailorMoon“ Merchandising wird übrigens immer toller! Es gibt inzwischen nicht nur die Klamotten zu kaufen (für Vierjährige), sondern auch noch die Haartracht – und die sieht aus wie der Skalp eines gelben Langohrdackels, falls es einen solchen gibt.
Ich bekomme zufällig auch wieder eine „Pokemon“ Werbung zu Gesicht, und die macht mir das folgende lebhaft deutlich: „Pokemon“ lebt! Und es erfreut sich offenbar immer noch ungebrochener Beliebtheit, während „Digimon“ so unsichtbar ist, als habe es nie existiert. Kaum Merchandising, keine Werbung, nichts. Mir scheint, dass die Serie in den USA und in Deutschland viel erfolgreicher ist, als in ihrem Ursprungsland. Offenbar haben die japanischen Animefans „Digimon“ hier nicht nur als Plagiat erkannt, sondern auch gleich als solches von der Programmliste gebürstet.

Überdies ist zu hören, dass Deutschland hier inzwischen als „Zweites Animeparadies“ bekannt geworden ist. Das deutsche Fernsehprogramm scheint einen Ruf bis nach Japan zu genießen, und die deutsche Fangemeinde ruft ständig nach mehr. Natürlich kommen Lobeshymnen dieser speziellen Art auf das deutsche Vaterland nur von eingefleischten (japanischen) Fans der animierten Filmkunst; die ganze übrige (japanische) Bevölkerung ist bass erstaunt, wenn man ihnen erzählt, dass man „SailorMoon“ und „DragonBall“ in Deutschland kenne, und diese Serien sogar übersetzt worden seien.
Ich fahre in die Stadt, um mich nach einem Memorystick umzusehen und darf vor dem Kaufhaus eine halbe Stunde warten, weil der Laden erst gegen zehn Uhr aufmacht. Und dafür werde ich auch noch herb enttäuscht. Das Daiei hat überhaupt keine Elektronikabteilung mehr, seit der Pächter „Laox“ zu Gunsten des 100 Yen Shops „Daisô“ zugemacht hat, und im Ito Yôkadô gibt es kein Computerzubehör. Dass es noch das „Denkodô“ gibt, das auf solche Dinge spezialisiert ist, habe ich in dem entscheidenden Moment natürlich völlig vergessen und Melanie erinnert mich daran, als ich wieder zuhause bin. Stattdessen fahre ich erst einmal ziellos durch die Innenstadt, in der Hoffnung, vielleicht einen kleinen Computerladen zu finden, wie sie in Deutschland relativ häufig sind, aber auch da ist nichts zu finden. Reine Zeitverschwendung, weiter zu suchen. Ich gehe also ins „Game and Game“ in der Nähe vom Bahnhof. Ich wollte schon seit letztem Herbst wissen, was man da drinnen so alles spielen kann.
Da wäre zunächst der übliche Taikô-Automat. Vor dem Automaten sind zwei japanische Trommeln angebracht (in japanerfreundlicher Höhe, d.h. ein bisschen niedrig für meinen Geschmack), die man mit den vorhandenen Holzklöppeln bearbeiten muss. Auf dem Bildschirm liest man ab, in welchem Takt man auf die Trommeln zu schlagen hat (indem man für jeden Schlag eine optische Aufforderung erhält). Das Angebot an Melodievorgaben ist großzügig.

Weiter hinten befindet sich ein „Time Crisis 3“ Automat, der hier nur 100 Yen pro Spiel kostet, und nicht 200, wie im Ito Yôkadô. Wahrscheinlich ist er deshalb dort so schnell wieder verschwunden. Und hier hat man zwei Monitore, was bedeutet, dass der Handlungsablauf anders ist – die beiden Spieler trennen sich auch schon mal und nehmen den Gegner in die Zange. Weiter links befindet sich auch ein Shooter zur Serie „Lupin III.“, mit einer Walther P38 (was sonst?) Spielpistole aus Plastik.

Daneben wiederum stehen zwei Boxautomaten, deren Schlagflächen schon ziemlich mitgenommen aussehen. Ui, die Dinger sind von 1994 und zeigen irgendein Superhelden-Setting, anders als im Ito Yôkadô, wo das Setting der Anime „Ashita no Joe“ ist. Und da oben ist eine Kamera angebracht… wofür? Das kann man bald auf dem Bildschirm sehen: Es erscheint eine grobe Kopfform auf dem Bildschirm und da soll man seinen Schädel ranhalten, bis die beiden Objekte deckungsgleich sind. Dann macht die Kamera ein Bild, verzerrt und verfärbt das Gesicht und setzt es auf die Hälse der Gegner! Wenn man also jemanden nicht ausstehen kann, bringt man ein entsprechend großes Foto mit, hält es vor die Kamera und drischt dann lustig drauf los.
Den Rest der Geräte im unteren Stockwerk kenne ich bereits – bis auf den „legendären“ Angel-Automaten von SEGA, den ich bisher nur aus einschlägigen Zeitschriften kannte, in denen Leute über Japan-Erlebnisse schreiben. Es gibt ihn also immer noch… und man angelt damit auch tatsächlich. Dort, was sonstwo der Joystick, bzw. das Joypad, angebracht ist, befindet sich hier der Griff einer Angel, und man sollte sich vorher die Erklärungen auf dem Bildschirm ansehen, um zu verstehen, wie Hochseeangeln à la SEGA überhaupt funktioniert. Aus dem Griffstück ragt eine Spule heraus und der dazu gehörende Faden verschwindet in einer Öffnung unterhalb des Monitors. Man muss allerdings nicht warten, bis nach drei Stunden endlich mal ein Fisch angebissen hat, der Fisch kommt sofort. Das Spiel besteht aus der richtigen Handhabung der Angelegenheit. Am unteren Bildschirmrand befindet sich ein Balken, der länger und rot, bzw. kürzer und blau wird, und stellt die Kraft dar, die gerade auf der Leine lastet – und die Leine zieht tatsächlich recht kräftig, man langweilt sich also nicht. Wenn die Leiste rot wird, muss man Schnur geben, sonst reißt die (virtuelle)Leine, wenn die Leiste blau wird, muss man anziehen, sonst verliert der Fisch den Haken.

Im Obergeschoss findet man weitere Automaten. Da sind natürlich die obligatorischen Kampfspiele, die meisten davon 2D, aber mit sehr guter grafischer Qualität. Auch zwei Pferderennen sind vorhanden, aber diese hier ohne die Modellrennbahn; man verfolgt das Rennen nur auf großen Bildschirmen.

Es gibt Einarmige Banditen und natürlich auch Pachinko, dazu die üblichen Münzspiele, wo man Münzen vor einen Schieber wirft und hofft, dass mehr herausgeschoben werden, als man hineinwirft. Aber hier befinden sich vor allem interessante Fahrsimulatoren. Der Anime „Initial D“ hat natürlich einen Simulator hervorgebracht… in der Ecke steht ein „F-Zero“ (Super NES) Nachfolger, der allerdings so weit vom Original entfernt ist, dass mich das Spiel mehr an „WipeOut“ erinnert. Aber die Maschine ist cool, mit dem schaukelndem Cockpit, den Pedalen und der futuristischen Lenkvorrichtung.
Daneben aber steht das, was mich am meisten interessiert. Das Spiel heißt „Tokyo Wars“ und bietet die Möglichkeit, mit vier Leuten gleichzeitig unterwegs zu sein – in modernen Kampfpanzern, in den Straßen von Tokyo. Grüne Panzer gegen weiße Panzer. Sieht interessant aus… vielleicht sollte ich mir mal zwei oder drei Leute suchen, um eine Runde zu fahren. Allerdings kann ich auch nicht erkennen, ob man nur miteinander oder auch gegeneinander spielen kann. Nur miteinander wäre ja schlicht langweilig und kaum mehr als eine Versuchsfahrt wert.

Ich kehre zur Universität zurück, es ist inzwischen elf Uhr. Ich schreibe zwei Berichte und gehe dann um kurz vor Zwei zu dem verabredeten Treffpunkt der Teilnehmer des Erdbebenexperiments, für das Alex in den letzten Tagen kräftig die Werbetrommel gerührt hat. Und damit fängt der eigentliche Tagesbericht erst an!
Man hat einen speziellen LKW kommen lassen, in dem man, jeweils in Paaren, ein Gefühl für Erdbeben bis Stärke 7 bekommen soll. Der Zufall hat mir die Chinesin ReiGen als „Partnerin“ zugeteilt. Sie sieht meines Erachtens unglaublich gut aus, aber allein deshalb ein Bild von ihr zu machen und es in das Poster einzubinden, wäre falsch. Wenn ich mehr kommunikativen Kontakt mit ihr bekomme, werde ich sie auch in meine Porträtsammlung aufnehmen, alles andere wäre sexistisch. Aber zurück zu unserem Simulator: Der Boden der Ladefläche kann mittels einer Hydraulik ganz heftig bewegt werden. Allerdings soll man während der Vorführung auf dem Boden sitzen, was dem Ganzen ja wieder einen Teil des Reizes nimmt – schließlich sitze ich die meiste Zeit auf einem Stuhl. Interessant ist das Gerüttel schon, aber eigentlich ist das Ding hier nur ein Spielzeug. Es ist zu klein für effektive Übungen und taugt vielleicht als Attraktion für ahnungslose Ausländer und Grundschüler. Man hat es also für die Ausländer hergefahren, und das kostet die Fakultät auch umgerechnet 1200 E. An dem Experiment nehmen nur Ausländer teil, also Nicht-Japaner, weil es bei dem Gesamtexperiment darum geht, wie verständlich die japanischen Radiodurchsagen für Ausländer sind. Da fängt der Unsinn auch schon an: Man will ein leicht verständliches Japanisch finden, anstatt für Ausländer ganz einfach Durchsagen auf Englisch zu machen.
Nach der „Erdbebenerfahrung“ wird je eine Sechsergruppe in einen Warteraum geführt. Als ich den Simulator verlasse, will mir einer der Betreuer meinen Rucksack reichen, hebt sich daran aber fast einen Bruch. Ich hebe ihn lieber selbst auf und bedanke mich für seine Mühen. Im Warteraum bekommt man ein Getränk und Kekse und sieht eine kurze Vorführung mit Bildern aus Kobe. Danach wird man einzeln zum Experiment geführt, in einen präparierten Raum also, ich bin der vorletzte in meiner Gruppe. Ich erhalte eine „Begleiterin“, die mir einen Schrittzahlmesser an den Gürtel hängt. Man soll erst den Radiodurchsagen zuhören und tun, was man vom Sprecher gesagt bekommt. Im Raum befinden sich der Versuchsleiter und eine Protokollantin, die natürlich eigentlich gar nicht da sind (Annahme Üb halt).
Die Situation (laut Faltblatt, das man vorher bekommt): Morgens um 07:00, gerade aufgestanden, wird man von einem Erdbeben überrascht. Gegenüber von dem Tisch, an dem ich stehe, fällt effektvoll und dramatisch ein Regal aus Pappe um und die leeren Dosen scheppern auf den Boden. Ich bin zuerst gar nicht in der Lage, das mit dem Experiment in Verbindung zu bringen, weil natürlich nichts wackelt und auch keiner ruft: „ERDBEBEN! JETZT!“. Stattdessen ertönt eine ruhige Stimme aus dem Radio, die mich auffordert, mich unter den Tisch zu legen, um mich vor Trümmern von der Zimmerdecke zu schützen. Ich wackele selbst ein bisschen herum wie bei einem Erdbeben und fühle mich augenblicklich wie auf einem alten „Star Trek“ Filmset. Dann soll ich Haus- oder Straßenschuhe anziehen. Und dann heißt es, das Erdbeben sei vorbei und ich solle unter dem Tisch hervorkommen.
Was ist das für eine Reihenfolge? Ich glaube, ich ziehe lieber dann meine Schuhe an, wenn das Erdbeben vorbei ist, und nicht, wenn alles noch wackelt, bzw. greife die Schuhe auf dem Weg zum Tisch. Dann soll ich meinen Helm anziehen und nachsehen, ob das Gas abgeschaltet ist. Aha… an der Garderobe hängt ein Helm… so ein Zufall! In meinem Apartment habe ich keinen Helm. Wer hat überhaupt einen Helm zuhause? (Ha! Ich habe einen zuhause – in Gersheim, auf dem Regal im Keller!) Und ich soll sehen, ob das Gas ausgeschaltet ist? Kein Problem, ich kümmere mich darum, muss mich aber fragen, ob bei einem echten Erdbeben nicht sowieso gleich das ganze Gestänge aus der Wand raus bricht und das Gas im Raum verteilt.
„Überprüfen Sie, ob die Fenster offen sind!“ fordert mich das Radio auf. Exakt so formuliert – auf Japanisch natürlich. Ich denke: „Was heißt das jetzt?“ Was hat man mir in der Grundschule beigebracht? Bei Erdbeben kommt es oft zu Bränden. Was tut man da? Möglichst keine Fenster und Türen aufmachen, damit das Feuer keine Luft erhält. Ich interpretiere die Aufforderung also falsch und vergewissere mich, dass die Fenster geschlossen sind, indem ich theatralisch dranklopfe. Später erzählt man mir dann, dass die Fenster geöffnet werden sollen, damit die Feuerwehr schnell Löschwasser reinspritzen kann. So einen Unsinn habe ich ja lange nicht gehört! Wenn’s in dem betreffenden Raum brennt, platzen die Scheiben mit hoher Wahrscheinlichkeit (ganz zu schweigen von den Auswirkungen der Erschütterungen selbst), und im Zweifelsfall wird die Feuerwehr die Fenster selbst zerstören können, und sei es mit Trümmern, von denen es dann bestimmt genug gibt.
Dann soll man den Rucksack (ein bereitgestellter, ebenfalls an der Garderobe gelagert, nicht mein eigener) und das kleine Radio (liegt auf dem Tisch) nehmen und sich gemäß (nie zuvor gesehenem) Fluchtplan zum Rettungsplatz begeben. Der Rucksack ist mir zu klein, also schnalle ich ihn nicht auf den Rücken, sondern behalte ihn in der Hand (ist natürlich ein Fehler, weil man über Trümmer stürzen könnte) und stopfe das Radio hinein. Klarer Gedanke: Zuerst mal aus dem Gebäude flüchten, bevor es über mir zusammenstürzt, und dann höre ich mir im (kleinen) Radio an, was ich beachten muss – wo gibt es Kleidung, Nahrung und Notunterkunft, oder vielleicht auch einen Arzt? Dazu heißt es später, dass man bereits auf dem Weg nach draußen das Radio angeschaltet haben sollte. Der Mann im (großen) Radio sagt „Stellen Sie die Apfelwelle ein!“ Das ist ein lokaler Regionalsender, der offenbar eine Immunität gegen Erdbebenschäden besitzt, weil man hier ganz natürlich davon ausgeht, dass er nicht ausgefallen ist. Aber auf welcher Frequenz? Das wird entweder nicht gesagt oder ich habe es beim Wandern durch den Raum nicht mitbekommen. Ich nehme mal letzteres an, denn so katastrophal kann der Katastrophenschutz hier dann doch nicht sein.
Der Fluchtplan besteht erst mal aus fünf oder sechs Zeilen japanischen Textes. Ja, bin ich denn blöd? Ich will schnell aus dem Haus raus, und nicht erst die Höhen und Tiefen japanischer Schriftzeichen und Grammatik analysieren! Ich versuche, das Wichtigste zu erfassen. Da ist ein Bild… aha, das ist schon mal gut. Es stellt ein Viereck dar, unten ist eine bunte Fläche, da steht „Sie sind hier!“ Oben rechts befindet sich ein weiteres Feld, da steht „Fluchtpunkt“ und darüber steht geschrieben, halb im Text versteckt, aber dennoch groß, „3. Stock“. Am linken Rand des Vierecks ist dann noch ein weiteres Feld, daran steht „Fahrstuhl“. Ich nehme also an, dass das Viereck das Gebäude ist. Aber… von meiner Position aus betrachtet, ist der Fahrstuhl rechts den Gang runter und nicht links. Ist das ein Test, in dem man sich die Karte verkehrt herum vorstellen muss? Oder hat irgendein Idiot den Plan falsch gezeichnet? Ich stehe dreißig Sekunden lang wie der Ochse am Berg in der Gegend rum und versuche, aus dem Plan schlau zu werden. Ein paar Pfeile auf dem Papier, um den Weg zu markieren, wären sehr hilfreich gewesen!
Ich entscheide mich dann dafür, den Plan als falschrum zu betrachten, gehe aus der Tür und wende mich nach links. Eine Studentin (die tatsächlich meinen eigenen Rucksack mit dem schweren Zeug drin geschultert hat) folgt mir, um meinen Fluchtweg mit einer Kamera festzuhalten. Ich folge also 30 m weit dem Gang nach links und komme ins Treppenhaus. Ich überlege nur eine halbe Sekunde. Ich erinnere mich daran, dass auf dem Plan die Rede vom dritten Stock war… aber das kann gar nicht sein! Welcher Trottel flieht bei Erdbeben oder Feuer denn die Treppe hoch? Ich folge dem natürlichsten Gedanken und gehe die Treppe runter. Ich passiere dabei einen Stuhl mit (japanischer) Aufschrift, beachte ihn aber nicht weiter – im Notfall würde ich es auch nicht tun, ich will schließlich raus hier. Ich folge im Sturmschritt den „Notausgang“ Schildern, wie man das halt so macht; die Assistentin (vielleicht 1,50 m) keucht hinterher – aber die Notausgänge sind alle zu. Die sind an Wochenenden grundsätzlich abgeschlossen. Was ist denn das für ein Blödsinn? Ich mache also ein Fenster auf und mache Anstalten, hinauszuklettern, aber dann verkündet die Kamerafrau „Übung Ende“. Und führt mich tatsächlich in den dritten Stock! Im dritten Stock liegt tatsächlich der designierte Fluchtpunkt! Haben die von Psychologie denn gar keine Ahnung? Haben die von überhaupt irgendwas Ahnung?
Auf dem genannten Stuhl steht übrigens geschrieben, dass der Keller nicht zum zur Verfügung stehenden Gelände gehört – aber ich kann, in Eile, keinen japanischen Text so schnell lesen, wie ich gehe!
Zur Ermittlung der zurückgelegten Entfernung soll ich zehn Schritte weit gehen. Ich frage extra nach: „Soll ich so gehen wie eben?“ „Aber natürlich!“ Also stürme ich los und komme etwa neun Meter weit, was deutlich weiter ist, als mit der Bodenmarkierung vorgesehen. Der Mann mit der Messlatte staunt. Er fragt meine Begleiterin, ob das so stimme. Sie nickt. Dann soll ich einen Fragebogen ausfüllen, in dem ich meine Beweggründe für dieses oder jenes Verhalten darlegen soll – kundenfreundlich in englischer Sprache. Ich äußere mich (für japanische Begriffe) recht ungehalten über die unsinnige Karte, was den Zeichner (ein Doktorand aus Indien) zu einem „Aha!“ Erlebnis führt, weswegen er sich mit der flachen Hand an die Stirn fasst. Das Viereck auf dem Plan ist nicht etwa das Gebäude – es ist ein Innenhof! Der Gang im Gebäude stellt die Außenseite des imaginären Wohnblocks dar, und man verlässt den „Sie sind hier!“ Punkt nicht aus dem Viereck heraus, sondern in das Viereck hinein! Darauf muss man erst mal kommen! Ich glaube, die Jungs werden die Karte in Zukunft anders machen.
„Warum sind Sie in den Keller gelaufen, wenn doch auf dem Plan steht, dass Sie in den dritten Stock laufen sollen?“ fragt mich einer der Übungsleiter.
„Weil man Gebäude verlässt, indem man die Treppe hinunter-, und nicht hinaufsteigt!“
„Ich verstehe…“ Der andere Deutsche habe genau das gleiche gesagt, erzählt er. „Der andere Deutsche“ kann nur Marc sein, und der hat die japanische Beschriftung des Plans garantiert besser verstanden als ich. Außerdem ist auch der Chinese (also ein geborener Kanjispezialist), der vor mir dran war, die Treppe runter gelaufen. Das sollte dem Team zu denken geben und die Fluchtpunkte in Zukunft realistischer anlegen.
Schließlich muss ich noch einen kurzen Sprachtest machen, der meiner Mittelstufe entspricht. Oder „entsprechen soll“. Da werden Ausdrucksformen und Begriffe abgefragt, die ich noch nie gehört habe (und auch da sagt mir Marc später das Gleiche, was mich doch beruhigt). Als Geschenk erhält jeder ein Taschenradio, sogar mit Digitalanzeige, Uhr und Wecker und einem speziellen Aufdruck, der den Namen des Experiments wiedergibt.
Ich werde von einem Helfer aus dem Gebäude geführt, auf einem Umweg, damit ich nicht mit anderen Probanten zusammenpralle. BiRei gehört ebenfalls zu den freiwilligen Helfern, und weil sie so verloren vor dem Gebäude herumsteht, bleibe ich noch eine Weile und leiste ihr Gesellschaft.
Es scheint, dass zeitgleich eine Veranstaltung für Studenten im letzten Studienjahr stattgefunden hat. Um etwa 17:30 ergießt sich eine Masse von mindestens 100 jungen Männern und Frauen im Geschäftsanzug (!) aus der Mensa und defiliert an uns vorbei. BiRei macht sich über die Jungs lustig.
„Da, schau Dir an, wie klein die alle sind! Die sind kaum größer als ich. Und wie die rumlaufen! Die sehen doch total weibisch aus mit ihren Umhängetaschen am Arm!“ Ich grinse still vor mich hin. Immerhin können die Jungs für ihre Größe nichts. Aber BiReis Idealbild von einem Mann ist nicht schwer zu erraten. Solche, wie die da, gebe es auch in China, sagt sie. Ich glaube, „männliche“ Männer sind in Japan (prozentual) ebenso häufig wie in China, klammert man aus, dass in China zehnmal mehr Menschen (und damit „männliche“ Männer) leben.
Es erscheinen auch immer wieder Mitglieder des Forschungsteams, die meine Darbietung sehr amüsant fanden. Auch die Protokollantin, offenbar Kettenraucherin, kommt zu uns nach draußen, nachdem das Experiment für heute beendet ist. Ich frage sie, warum man neben den Informationsblättern für Mülltrennung nicht auch welche mit Informationen zum Verhalten bei Erdbeben im Rathaus oder (als Student) an der Universität erhalte. Ein A5-Blatt könne wohl nicht so teuer sein? Und dann legt sie los mit einer fünfminütigen Erklärung, von der ich nicht genug verstehe, um auch nur ansatzweise zu wissen, was sie da gerade gesagt hat. Sie redet eine Spur zu schnell für meine Ohren, und nach dieser Informationsflut pocht mir der Schädel.
MinJi kommt vorbei, sie trägt eine große Tüte mit Essen. Sie gehört ebenfalls zu den Helfern und bringt einen Teil des Essens für die „Afterparty“, das gesellige Beisammensein nach der Arbeit, das um 18:30 beginnen soll. Ich könne auch daran teilnehmen, es sei genug für alle da, sagt die Protokollantin, die übrigens 21 Jahre alt ist und wie Anfang Dreißig aussieht. Ich lehne das Angebot dankend ab, Melanie wartet zuhause. MinJi schließt sich der Einladung an. Sie zupft mich am Ärmel, sieht mich an und sagt: „Komm, wir essen zusammen, wir essen zusammen!“ Da bricht mir doch der Schweiß aus! Mal unter Männern gesagt: Wenn MinJi Dich mit ihren hübschen Äuglein auffordernd anschaut und Dich mit der ihr eigenen Art um etwas bittet, dann sagst Du nicht einfach so Nein.
Ich tue es aber trotzdem und sehe zu, dass ich wegkomme, bevor ich umkippe. Ich flüchte sogar zuerst in die falsche Richtung, obwohl mein Fahrrad unter der Treppe der Bibliothek steht. Natürlich bereue ich das (ein ganz kleines bisschen), aber ich glaube, es war richtig so. Ich war ja schon überrascht (ist das das richtige Wort?) genug, als sie eingangs sagte, sie wolle meine Augen anfassen, weil ihr die Farbe so gut gefalle. Da kam ich mir schon vor wie im Schnellkochtopf.
Ich fahre also nach Hause und gehe mit Melanie zum Essen. SangSu hört uns beim Hinausgehen auf dem Gang reden und zeigt uns stolz die Sommerklamotten, die er sich heute gekauft hat. Sehen gut aus. Ich glaube, ich will auch so ein Hemd. Aber ich habe Hunger (und damit noch weniger Sinn für Ästhetik als sonst) und wir radeln los. Ich bestelle mir gebratene Leberstücke mit Sojasprossen und Reis, dazu Misosuppe. Ich wusste nicht, dass man Leber so gut machen kann… zuhause kann ich Leber essen, auch mit Genuss, aber danach braucht es erst mal eine Zeitlang keine mehr zu geben. Das hier scheint mir beinahe was Anderes zu sein. Die Leber kaut sich sehr angenehm und schmeckt dezenter nach Leber, als ich das gewohnt bin.
Wir beenden den Tag später mit den Anime, die wir in den letzten Tagen aufgenommen haben.
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