Code Alpha

Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

12. Mai 2024

Mittwoch, 12.05.2004 – Gebackene Teigfladen

Filed under: Japan,My Life,Uni — 42317 @ 22:19

Ich stehe um 05:30 auf und mache mich an die Arbeit. Und die geht auch gleich viel leichter von der Hand, wenn man ausgeschlafen ist! Dennoch hindert mich dieser Umstand nicht daran, während Yamazakis Unterricht vor Langeweile beinahe vom Stuhl zu fallen. Das spannendste Ereignis war noch, dass in diesem Saal der Kassettenrekorder fehlt und Yamazaki sich selbst einen organisieren musste. Und er bringt ihn, den Regeln entsprechend, auch wieder zurück, was ihrerseits Ogasawara-sensei dazu zwingt, selbst irgendwo einen herzubekommen, da wir uns heute ein Lied über Zuckerrohrfelder in Okinawa anhören sollen.
Dabei fällt mir die Ausrüstung dieser Universität wieder deutlich ins Auge. In jedem der Säle befinden sich ein großer Fernseher, dazu ein Videogerät für Kassetten und DVDs, und daneben noch ein Kassettenrekorder für MCs, CDs und MDs. Das will ich mal in Deutschland an einer staatlichen Uni sehen! Yamazaki-sensei bedient das Gerät neuerdings sogar mit einer Art Taschen-PC (?), indem er die Tondaten auf der MD mit einer Wellenlänge von 76,6 MHz auf die Antenne des Radios überträgt. Warum er die MD nicht einfach direkt in die Stereoanlage schiebt, ist mir schleierhaft.

In der Mittagspause verpacke ich zwei verkaufte Artbooks und rede ein bisschen mit BiRei, die heute den Wunsch äußert, auch mal was von Deutschland zu sehen.

Danach tritt Kondô-sensei in Aktion. Oder eigentlich trete ich in Aktion, weil ich ja einen Vortrag über das japanische Autobahnsystem halte, im Hinblick auf dessen Finanzierung. Das dauert auch gleich 70 Minuten, weil für Mei alles noch ins Japanische, bzw. Koreanische übersetzt werden muss, je nachdem, ob Kondô selbst meine Aussage zusammenfasst oder ob er SangSu „an die Front schickt“. Misi ist nicht erschienen, obwohl das eigentlich ganz ratsam wäre, da er nächste Woche über die zweite Hälfte des Aufsatzes reden soll.
MunJu fragt mich nach dem Unterricht nach dem deutschen Universitätssystem, nach Studiendauer, nach Finanzierung des Studiums und der Universitäten. Sie macht sich Notizen? Hat sie was Offizielles damit vor? Ich kann allerdings gerade nicht die Motivation aufbringen, danach zu fragen.

Dann ist Hugosson an der Reihe und erzählt uns was über NPOs in Japan, von denen es mittlerweile 16000 gebe, Tendenz steigend. Der Anfang sei das Erdbeben in Kobe gewesen, wo aus dem ganzen Land auf individuelle Initiative hin eine Flut von 1,5 Millionen freiwilligen Helfern eingetroffen war, die sich wegen des eklatanten Kompetenzmangels der staatlichen Hilfsorganisationen in kürzester Zeit selbst organisierten.
Es gibt natürlich schon seit langer Zeit Nachbarschaftsorganisationen, die ebenfalls in die Definition der NPOs fallen. In feudalen Zeiten und bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges handelte es sich dabei um eine Kontrollmöglichkeit der Regierung, um ein Auge auf die Leute werfen zu können. Auch die modernen Nachbarschaftsorganisationen lassen neu hinzugezogenen Anwohnern nicht wirklich eine Wahl, ob sie beitreten wollen oder nicht. Natürlich wird man heutzutage nicht mehr gekreuzigt – man wird ausgegrenzt. Und wer will das schon? Dafür werden Feste organisiert, wie zum Beispiel die „Undôkai“ – „Sportfeste“ – genannten Saufgelage, die ihren Namen nur deshalb tragen, weil die Kinder „organisiert spielen gehen“, während die Erwachsenen ihren asiatischen Enzymdefekt, Alkohol im Blut weniger gut als Europäer abbauen zu können, mit Nichtbeachtung strafen. Oder aber, was doch ganz nützlich ist, man zieht sich Gummistiefel an und sammelt den Müll aus einem „Fluss“, also diesen hässlich kanalisierten Gewässern – und dann geht man was trinken!
Für die kommende Stunde erhalten wir eine Hausaufgabe, wir bekommen Internetlinks mit Informationsquellen und sollen kurze Vorträge über die sozialen Sicherungssysteme unserer Heimatländer halten. Hurra, Deutschland!

Dann ist der Unterricht endlich gelaufen; ich treffe Melanie und fahre mit ihr ins „BariBari“, um Okonomiyaki zu essen. Nach einem unnötigen Umweg zum „Sushi Shôgun“ am Kaufhaus Sakurano heißt das, wo wir feststellten, dass der Laden mittwochs zu hat! Also dann halt gebackene Teigfladen zum Selbstanrühren. Da wollten wir eh schon länger mal hin.
Wir kriegen auch gleich ein Tabehôdai aufs Auge gedrückt, weil uns ein paar Details nicht bekannt sind. Man kann die Gerichte ja schließlich auch einzeln bestellen, aber auf den Gedanken komme ich gerade gar nicht, weil ich solchen Hunger habe. Genau genommen handelt es sich um ein Tabe-nomi-hôdai für 2000 Yen pro Nase, was zwar heißt, dass man essen und trinken kann, so viel man will, aber ich bin hier um zu essen – und da nehme ich für gewöhnlich nicht mehr als einen halben Liter Wasser zu mir. Man könne kein Tabehôdai ohne gleichzeitiges Nomihôdai machen, heißt es, aber umgekehrt ginge das schon. Wäre ich zum Trinken hier, und das Nomihôdai kostet nur um die 1000 Yen, würde sich das wirklich lohnen, denn die Getränkekarte ist recht großzügig: Die enthält sogar „echte“ alkoholische Getränke. Im „SkattLand“ gibt es ja nur „Sour“ und Softdrinks für diesen Preis. Die Dauer ist begrenzt auf 90 Minuten… mal sehen, was in der Zeit alles reinpasst. Ich will von den 2000 Yen auch möglichst viel haben.
Es gibt hier nur Knietische… autsch! Es ist nichts los, also suche ich mir einen Platz in der Ecke des Raums, damit ich die Wand im Rücken habe, und – römische Dekadenz hin oder her – meine Beine längs des Tisches ausstrecken kann. Unter den Tisch passen sie nicht, weil sich dort die Heizvorrichtung für die Backfläche befindet.

Ich trinke dann auch tatsächlich nur ein großes Glas Wasser – esse dafür aber drei Okonomiyaki. Mehr geht auch nicht in 90 Minuten… man muss die Dinger ja mit den Zutaten selbst machen. Man bezahlt hier, wie in wohl so ziemlich jedem Okonomiyaki-Restaurant, nicht die Arbeit eines Kochs, man bekommt die Zutaten auf den Tisch und macht sich das Essen selbst. Von daher sind die Preise meines Erachtens etwas stark.
Man bekommt also die Schüssel mit etwas Teig, Ei, Kraut und verschiedenen Zutaten, wie z.B. Ingwer (zum Glück war nicht viel dran – ich hasse eingelegten Ingwer), Käse, Krabben, Tintenfischstücke oder verschiedene Fleischsorten, je nach Angebot. Das Ganze wird verrührt und dann auf die geölte Bratplatte verteilt, mit einem Durchmesser von vielleicht 15 cm, 4 cm hoch, und gleichmäßig angebraten. Man sollte noch Soße und Mayonnaise darauf verteilen, des Weiteren auch Fischflocken und Aonori (Blaualgen) Puder. Man sollte es gegessen haben, wenn man schon nach Japan kommt. Ist wirklich gut. Nur das Selbermachen nervt.

Melanie isst nur einen solchen Fladen und wendet sich dann einer Reihe von Vorspeisen wie frittiertem Huhn, Kartoffeln und „Omuraisu Cheese“ zu. Bei „Omuraisu“ handelt es sich eigentlich um Reis in einem Omelett, daher der Name, aber in dieser Käsevariante ist überhaupt kein Reis drin – es handelt sich eigentlich nur um ein zugeklapptes Omelett mit Käsefüllung. Diese Sondergerichte allerdings treiben den Preis pro Person um 300 Yen in die Höhe – wer lesen kann, ist klar im Vorteil! An der Wand hängt ein Plakat, auf dem genau das geschrieben steht, aber da wir, anders als Einheimische, informative Inhalte nicht auf einen Blick erkennen können, sondern die Schriftzeichen analysieren müssen, bemerken wir das erst, als es ans Bezahlen geht.
Stelle fest: Tabehôdai lohnt sich hier nicht. Dann lieber drei Okonomiyaki ohne Zeitdruck essen (ich esse eh ziemlich schnell) und 500 Yen weniger dafür ausgeben.

Während des Essens kommt auch eine „Kernfamilie“ in das Lokal, also Eltern mit einem Kind. Und was für eine Familie! Er sieht aus, als hätte er den örtlichen HipHop-Laden ausgeraubt und sie scheint mir dem Ganguro-Milieu nahe zu stehen (Ganguro sind die Mädchen, die sich die Gesichter braun färben und Klamotten tragen, deren Extravaganz eigentlich nur von Cosplayern übertroffen wird). Ich schätze die beiden auf Mitte bis Ende Zwanzig, ihre Tochter auf etwa fünf Jahre. Und die Kleine ist… recht lebhaft, um es so zu nennen. So patscht sie unserer Kellnerin auf den Allerwertesten (die muss sich ja hinknien, um die Zutaten zu servieren) und ruft „Daikô!“. Jetzt habe ich natürlich so einen Verdacht und suche die sino-japanische Lesung des Kanjis für „Shiri“ in meinem elektronischen Wörterbuch… ja, sie lautet „kô“. Das kleine Balg hat eben lautstark die Größe des Hinterns der Kellnerin mokiert. Die lacht verlegen und ich möchte wetten, dass sie gerade hofft, dass die beiden Ausländer da in der Ecke keine Ahnung haben, was für ein Begriff da gerade eben in den Raum gestellt wurde. Die Eltern stören sich daran nicht besonders. Ich dachte, Entschuldigungen für alles, was auch nur entfernt unangenehm sein könnte, seien eine japanische Eigenart? Nicht bei den dreien hier. Nun gut, die Kellnerin (vielleicht 20 Jahre alt) ist zu meinem Wohlgefallen wirklich nicht dürr in der Hose (ohne „dick“ zu sein allerdings, sie liegt nahe an der „Goldenen Mitte“). Aber dennoch…
Wollte ich die Eltern nach ihrem Aussehen beurteilen (was man natürlich unterlassen sollte), dann würde ich annehmen, dass der Nachwuchs nicht das Ergebnis vorheriger Planung war, sondern eher eine Art Unfall.

Auf dem Rückweg zahle ich meine Miete am Bankautomaten, und mache noch einen „Umweg“ in die entgegengesetzte Richtung, zur Bibliothek, aber viel gearbeitet kriege ich heute natürlich nicht mehr.

Schreibe einen Kommentar