Freitag, 07.05.2004 – Auf altem Boden
Wir haben uns einen guten Tag ausgesucht, um die Ruinen von Sannai Maruyama in Aomori zu sehen. Die Sonne scheint vom blauen Himmel, wenn auch der kräftige Wind ein wenig kühl ist. Und beinahe hätte ich den Abfahrtstermin verpasst, weil ich in mein Schrifttum so versunken war. Melanie holt mich im 12:31 aus der Bibliothek und ich mache mich im Dauerlauf auf den Weg zum Bus.
Die Fahrt dauert eine Stunde bei einer Entfernung von ca. 50 km. Ich nutze die Zeit, um das Handout von Hugosson zum Thema NGOs, NPOs usw. zu lesen. Es handelt sich um einen Auszug aus seiner Doktorarbeit und die Angelegenheit liest sich dem entsprechend „spannend“. Die Angelegenheit ist sogar doppelt langweilig, weil mich eingehendere Wirtschaftsstudien nicht die Bohne interessieren. Das letzte Drittel braucht genauso viel Zeit wie die vorangegangenen Abschnitte zusammen, weil ich mich kaum noch konzentrieren kann und die Erläuterungen dreimal lesen muss, um sie zu verstehen. Ich gleite oft genug nur noch mit den Augen über die Zeilen, sehe die Wörter, erfasse aber den Sinngehalt nicht mehr.
Wir kommen dann endlich an und man weist uns einen älteren Herrn als Führer zu. Es handelt sich um einen freiwilligen Helfer, direkt passend zu meinem Text eben, der über ein überraschend gutes Englisch verfügt.
Man kann schnell erkennen, dass die Reste des Stadions, das hier errichtet werden sollte, zum Fund der Siedlung geführt hat und auf den Luftaufnahmen noch zu sehen war, längst entfernt worden sind. Und das, was man hier von der 7000 Jahre alten Anlage besichtigen kann, ist eigentlich nur ein geringer Teil dessen, was tatsächlich vorhanden ist. Man hat vor ein paar Jahren alles ausgegraben, analysiert und erfasst und anschließend wieder eingegraben, um das Material vor dem Einfluss von Wind und Wetter zu schützen. In Europa hätte man wohl alles offen gelassen und die Anlage überdacht.
Die Größe der Siedlung ist dabei der Umstand, der es notwendig machte, die Geschichtsbücher umzuschreiben. So war man bisher davon ausgegangen, dass die Dörfer der damaligen Jäger- und Sammlerkultur nicht mehr als einige Dutzend Menschen beherbergt haben dürften, weil es noch nicht möglich war, Nahrungsmittel effektiv zu lagern oder überhaupt anzubauen. Damals gab es noch keinen Reisanbau – womit der Besuch dieses Freilichtmuseums streng genommen das Thema des Seminars verfehlt. Die Ausgrabungen haben aber aufgezeigt, dass hier etwa 500 Menschen zur gleichen Zeit gelebt haben. Die Müllhalden der damaligen Bewohner legen Zeugnis darüber ab, dass die Gewässer fischreich genug waren, um eine solche Anzahl von Menschen zu ernähren und auch noch weitgehend auf das Jagen verzichten zu lassen. Man findet kaum Überreste von Landtieren in den Abfallhaufen, und das, obwohl die Siedlung etwa 1400 Jahre lang bestanden haben dürfte, bis ein globaler Klimaumschwung zu einer Abkühlung führte, die die Winter strenger machte und die Küste nach und nach auf ihren jetzigen Stand einige Kilometer weiter nördlich verlagerte. Der Meeresspiegel sank um fünf Meter, und 80 % dessen, was heute die Stadt Aomori ist, wurde damals vom Wasser erst freigegeben.
Trotz der an sich großzügigen Natur war die Kindersterblichkeit hoch, die Angaben schwanken zwischen 60 und 80 %. Kinder bis zu drei Jahren wurden übrigens in speziellen Tongefäßen beerdigt. Nach zwei Jahren grub man sie wieder aus, säuberte die Gebeine und beerdigte sie aufs neue, während Erwachsene in Erdkuhlen gelegt wurden und ein paar Beigaben erhielten, dann aber nicht mehr „bearbeitet“ wurden.

Interessant ist auch der etwa 20 m hohe Turm. Er besteht aus zwei „Stockwerken“ (ohne Leiter oder ähnliches allerdings) an vier dicken Baumstämmen. Es handelt sich natürlich um eine Rekonstruktion; der eigentliche Fundplatz befindet sich einige Meter weiter in einem der kleinen Gebäude, die die wichtigsten Stücke oder Fundstellen vor Umwelteinflüssen schützen. Das Original, bzw. die Vorstellung davon, sorgt bei Archäologen gewissermaßen für schlaflose Nächte, weil erstens Baumstämme dieser Größe in Japan sehr selten waren und sind (das Rohmaterial für die Replik stammt aus Sibirien), weil zweitens das damalige Werkzeug kaum zugelassen haben dürfte, solche Stämme zu bearbeiten, und weil drittens niemand eine Vorstellung davon hat, wie die Stämme aufgerichtet worden sein könnten. Schließlich handelt es sich um mehrere Tonnen Holz. Eines dagegen ist sicher: Es handelte sich nicht um einen Wachturm im kriegerischen Sinne. Es scheint sehr friedlich zugegangen zu sein in dieser Gegend. Keiner der Knochenfunde weist Spuren von Waffengewalt auf. Man geht davon aus, dass es sich um eine weit sichtbare, künstliche Landmarke gehandelt hat. Das senkrechte Aufrichten von kleineren Konstrukten jedoch scheint bereits kein Problem gewesen zu sein: In dem kleinen Museumsgebäude entdecke ich ein einfaches, aber nichtsdestotrotz effektives Senkblei – ein Stein von ca. 500 g an einer Schnur aus Flechten. Zum Schluss werden noch ein paar Gruppenfotos gemacht und ich sehe mir vor der Rückfahrt noch einen kurzen Werbefilm über die Anlage an.
Man hat von dem Gelände übrigens einen sehr schönen Ausblick auf den Berg Hakkôda („Acht-Affen-Feld“). Unser Führer erzählt uns auch eine interessante Geschichte dazu, von der Kashima-sensei sagt, sie sei in Japan sehr bekannt. Im Winter des Jahres 1903 (er sagte eigentlich „zwei Jahre vor dem Krieg mit Russland“, aber ich will von meinen Lesern nicht zu viel verlangen) hatte das örtliche Regiment auf dem Berg den Winterkampf geübt und dabei 100 Mann durch Wettereinflüsse verloren.

Zurück in Hirosaki will Melanie eigentlich mit mir ins Kino, um „Crayon Shin-chan: Kasukabe Boys“ anzusehen, aber leider hat ausgerechnet heute jemand ihr Fahrrad geklaut – das Rad, das sie sich für 5000 Yen gekauft hat, anstatt sich eines aus den Haufen alter Räder zu nehmen, wie ich ihr geraten habe. Absperren stellt halt eine Unbequemlichkeit dar und kostet Zeit. Und Bequemlichkeit kostet Fahrräder. Wenn jemand mein Fahrrad klaut, bin ich zwar nicht begeistert, aber mir geht dadurch finanziell nichts verloren. Während sie sich dann (zusammen mit Misi, der scheinbar immer das passende Werkzeug dabei hat) auf die Suche nach Ersatz macht, besuche ich Yukiyo an ihrem Arbeitsplatz – im Schnapsladen – gegenüber vom Maruesu Supermarkt. Ich bin ja bereits seit längerer Zeit auf der Suche nach einem trüb-weißen Sake, dessen Existenz bisher von allen verneint worden war, die ich gefragt hatte, auch von Leuten mit Japan-Erfahrung und auch Japanern. Aber Yukiyo hat ihn für mich gefunden. Das Zeug heißt „Nigori Sake“ (= „trüber Sake“, einfacher geht’s nicht) und ist bestimmt nicht jedermanns Ding. Man muss das Getränk schütteln, um die staubartigen Bestandteile aufzuwirbeln. Man spürt die Schwebeteilchen auch deutlich auf der Zunge beim Trinken. Schmeckt stärker als gewöhnlicher Sake (bei gleichem Alkoholgehalt), und der Geschmack ist meiner Meinung nach auch gar nicht schlecht – nur der Geruch ist unhaltbar. Ich bleibe lieber bei Standard-Sake. Ich nehme an, dass diese Art von Sake nicht vollständig vergoren oder gesiebt wurde.
Ich besorge mir im Maruesu eine Kundenkarte, weil es dort öfter preisreduziertes Brot gibt, als das im Beny Mart der Fall ist, und weil ich sie endlich entdecke, kaufe ich auch eine Dose „Fire – Gold Rush“ (das ist Dosenkaffee). Dann gehe ich in die Bibliothek und schreibe meine Post. Als ich fertig bin, um kurz vor Acht, fahre ich noch ins Naisu Dô und kaufe ein „Tenchi Muyô“ Artbook mit Produktionsskizzen drin. Ich setze die Fahrt fort und gehe ins Ito Yôkadô. Dort kaufe ich ein weiteres Artbook – mein erstes neues – das aus Teilen von „Dai Undôkai“, „El Hazard“, „Pretty Sammy“ und „Tenchi Muyô“ zusammengesetzt ist. Darunter befindet sich auch ein Crossover Manga „Dai Undoukai Vs. Pretty Sammy“. Ich stelle später beim Lesen (ja: Lesen!) fest, dass es sich hierbei weniger um ein Artbook als eher um eine Sammlung kurzer Mangastrips handelt. Mir scheint, dass es sich bei den kurzen, farbigen Szenen um Beigaben der Laserdisks handelt, aber es sind auch viele wohl „unabhängige“ in Schwarzweiß dabei. Und eine kleine CD-ROM ist auch drin. Aber da ist wohl nur das gleiche drauf, was schon im Buch drin ist. Ich sollte mir das bei Gelegenheit ansehen. Wenn ich mal Zeit habe… hahaha, Zeit! „Spässle g’macht, Witzle g’risse“, wie mein badensischer Kamerad Jordan immer zu sagen pflegte.
Die Tenchi Manga scheinen übrigens so schlecht gar nicht zu sein – man muss sie nur lesen können, weil viel von dem dargestellten Humor auf Sprache und nicht auf Bildern beruht. Und ich finde eine Übersetzung, die den Humor auch ohne Kenntnisse der japanischen Sprache rüberbringt, stellenweise unmachbar. Beispiel?
Aeka (außerirdischer Herkunft) fragt: „Was ist Hanabi?“ (Hanabi = Feuerwerk)
Ryôko (auch nicht „von hier“) scheuert ihr eine und Aeka sieht Sterne.
Tenchi: „Nein, Ryôko, das ist Hibana, nicht Hanabi!“ (Hibana = Funken)
Der Witz, der aus der simplen Verdrehung der beiden Kanji „Hi“ („Feuer“) und „Hana“ („Blume“) herrührt, kann nicht 1:1 übersetzt werden, die japanischen Begriffe müssen drin bleiben – sonst müsste der Text radikal verändert werden. Übrigens ist dieser Witz, im Rahmen der Geschichte um Tenchi, eigentlich nicht zulässig, weil man auf der Heimatwelt von Aeka erstens ebenfalls Japanisch redet und zweitens auch Feuerwerke kennt. In dem Tenchi Film „Manatsu no Eve“ wird ein solches gezeigt.
Das Lesen der Manga dauert länger als bei „Pokemon“ oder „Bôbobo“, weil hier nämlich keine Hilfszeichen gegeben sind, die mir die Lesung verraten und ein schnelles Nachschlagen möglich machen würden. Zum Glück sind die Namen der Personen derart kompliziert geschrieben, dass man sie schnell lesen lernt – sie schreiben zu lernen, würde allerdings eine ziemliche Mühe bedeuten.
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