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Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

28. April 2024

Mittwoch, 28.04.2004 – Nicht nur Rache ist süß…

Filed under: Bücher,Japan,My Life,Uni — 42317 @ 7:00

Es regnet… ja, ja… und dann muss auch noch Mittwoch sein! Wegen der wieder geschrumpften Teilnehmerzahl (minus Misi und minus den Koreaner, der keinen Platz mehr fand) beschließt Ogasawara-sensei, den kleinen Saal weiter zu benutzen und auf den übergroßen Hörsaal zu verzichten. Mir allerdings wäre der Hörsaal heute lieber, weil Tei direkt neben mir ganz gewaltig nach seinem gut und vor allem chinesisch gewürzten Abendessen riecht. Der Geruch hängt im ganzen Raum und macht sich in meinem Magen bemerkbar. Das Fenster? Ja, das muss leider geschlossen bleiben, weil Melanie sonst friert, und erstunken ist ja angeblich noch keiner. Aber wenn ich noch ein paar Minuten länger als die Unterrichtsdauer hier hätte sitzen müssen, hätte ich mich übergeben müssen. Ich sage ja nicht, dass es fauliger Mundgeruch gewesen wäre… dieses eingelegte Gemüse schmeckt hervorragend, aber man bekommt die Rückstände nicht so schnell wieder aus dem Hals und aus diesem riecht es dann am Folgetag ganz gewaltig auf eine erdrückend exotische Art und Weise.
Mei ist heute nicht da… ich nehme an, dass sie mit FanFan zu der Teezeremonie gegangen ist.

Kondô eröffnet uns, dass er das angefangene Lehrbuch nicht weiterverwenden werde, weil es zu langweilig sei. Ich finde das Buch eigentlich gar nicht so langweilig – wenn auch nicht gerade spannend. Das, was wirklich langweilig ist, ist das Vorlesen der Texte während des Unterrichts, das meiner Meinung nach ausschließlich dem Totschlagen von Zeit mangels ausgearbeiteter Inhalte dient. Wir bekommen von ihm drei Themen zur Auswahl, über die Referate gehalten werden sollen. Straßenbau, Landwirtschaft, Finanzwesen. Ich entscheide mich für Straßenbau (Differenzen von Gesetzgebung und Praxis bezüglich der Autobahnfinanzierung, um genau zu sein) und Misi steigt mit ein. Nach der Themenvergabe lässt sich Kondô-sensei entschuldigen und sagt, dass er sich mit einigen Professoren aus Tokyo treffen wolle. Soll mir Recht sein – ich persönlich zahle ja keine Gebühren für den Unterricht.
Ich habe also Zeit, im Center meine Post zu bearbeiten und treffe Mei dort, die meine Vermutung bezüglich ihrer Abwesenheit bestätigt. Sie sagt, es sei interessant gewesen, ohne das weiter auszuführen. Ich bohre auch nicht nach, da ich persönlich der Teezeremonie überhaupt kein Interesse entgegenbringe.

Hugosson redet heute speziell über Non-Governmental Organizations (NGOs) und Non-Profit Organizations (NPOs) in Schweden – weil er sich dort am besten auskennt. Er teilt sie in Stiftungen, Kooperativen, Genossenschaften und… wie ich „Mutuals“ übersetzen soll, ist mir nicht klar. Ich kenne den Begriff nur als Adjektiv in der Bedeutung „gegenseitig“, aber als Nomen habe ich „mutual“ noch nicht gesehen.

Danach gehe ich ins Center zurück und schreibe einen Bericht, den ich mangels „Weltchronik“ Daten noch nicht versende. Währenddessen unterhalte ich mich mit Chris, dem Chilenen mit dem akzentfreien Englisch, dem ich vor einigen Tagen die Bedienung des Computers erläutert habe. Er studiert Medizin und hat sich, ohne irgendwelche Vorkenntnisse der Sprache, für das Hirosaki-Stipendium beworben, weil er von zuhause wegwollte. Er habe kein spezielles Interesse an Hirosaki oder Japan, er wollte einfach mal raus.
Misi sitzt gegenüber von dem Ägypter Baqr auf der Couch, MinJi an dem Computer direkt neben der Tür. Hastige Bewegungen dort erregen meine Aufmerksamkeit. MinJi unterhält sich anfänglich mit einer weiteren Koreanerin, die sich offenbar dafür interessiert, was da auf dem Bildschirm geschrieben steht, aber MinJi hält ihren Monitor mit beiden Händen zu, schiebt die Mitleserin immer wieder weg und kichert dabei. Verlegen? Misi hat das natürlich ebenfalls bemerkt. Ich sehe zu ihm herüber und sage: „Ich bin sicher, wenn man sie anbeißt, schmeckt sie süßlich.“ Ihr Verhalten spricht auf jeden Fall für diese metaphorische These, von der ich mich nicht distanziere, auch wenn sie nicht frei von Sexismus ist. Außerdem ist MinJi des Englischen nicht mächtig (was ich in dieser Situation nicht bedauere). Misi sieht mich an und grinst. Was sollte er auch sonst tun?
Als das Center schließt, gehe ich in die Bibliothek, die übrigen Herren folgen. Natürlich habe ich vergessen, meinen eben geschriebenen Text auch mit in die Bibliothek zu nehmen, um die fehlenden Daten für den Versand einzufügen… Aber immerhin ist der Text schon mal geschrieben.
Ich spiele einen Zug gegen Frank, der mir erste Verluste einbringt: Der OG Krämer wird auf seiner Erkundungsfahrt im Stadtgebiet von einem britischen Spähpanzer erschossen.

Ich gehe nach Hause und genieße den Abend, indem ich in meinem Latour lese. Was steht da geschrieben? Der Mann war bereits in Vietnam Kriegsberichterstatter und hat sogar den Schlamm des erst viel später berühmt gewordenen „Hamburger Hill“ live erlebt. Und 1951 war er in Indochina und hat die Fremdenlegion begleitet. Gar nicht schlecht. Ich habe das Gefühl, dass er deshalb spürbar auf die Generation von Wehrdienstverweigerern herabblickt, die derzeit das Sagen hat: George Bush, der (als Nationalgardist) „Texas gegen den Vietcong verteidigte“, ist damit ebenso gemeint wie die rot-grüne Riege Deutschlands, die sich vor gar nicht allzu langer Zeit noch mit dem Motto „Frieden schaffen ohne Waffen“ schmückte. Ich kann es mir heute erlauben, bis in die Nacht zu lesen, da morgen ja „Midori no Hi“ ist, „Grüner Tag“, und ich interpretiere: „Umwelttag“. Es findet kein Unterricht statt. Dennoch hoffe ich, dass die Bibliothek geöffnet hat, weil ich keinen gegenlautenden Anschlag an der Tür gesehen habe.

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