Mittwoch, 12.11.2003 – Judgement Day
Heute morgen haben wir eine Stunde zu lange geschlafen und sind erst um 0750 wach geworden.
Die Frage: Duschen oder Essen? Hm… da der Reis schon fertig ist… dann lieber essen.
Die übrigen Anwesenden überleben meinen Körpergeruch mit knapper Not, und überhaupt sind wir viel zu sehr abgelenkt. Der Unterricht behandelt noch immer höfliche Anfragen mit einer kräftigen Portion Keigo. Tolle Zungenbrecher sind das zum Teil. Da reicht die Form „-te kudasai“ nicht mehr, da muss schon was vom Kaliber „-te itadakenai deshô ka“ oder „-suru dake ii no desu“ her. Man will ja niemandem auf die Füße treten, wenn man schon über diese Satzform stolpert. Wir sollen die Beispiele im Buch zweimal üben und sie dann auswendig aufsagen… anstatt uns eigene auszudenken. Das hätte der Memorisierung sicher gut getan. Ich nutze die Gelegenheit, um etwas Humor in die Angelegenheit zu bringen. Über das Stadium, mich sinnlos aufzuregen, bin ich hinaus, denke ich. Bringt mir eh nichts. Wenn man nicht siegen kann, soll man nicht kämpfen.
Nach dem Unterricht fahre ich nach Hause und hole die Dusche nach, bevor ich zur Seiai-Oberschule fahre, die mich eingeladen hat, die Teilnehmer des Rezitationswettbewerbs (mit-) zu bewerten.
Außer mir gibt es noch drei Juroren:
Annie Apple-Mathews, eine ältere Dame aus Kalifornien, die vor 26 Jahren nach Japan kam, um Forschungen über Textilien anzustellen, dann aber den Mann fürs Leben fand und gleich geblieben ist; sie arbeitet jetzt als Übersetzerin. Ihr Vater hieß übrigens noch „Appelbaum“, weil ihre Großeltern aus Deutschland stammen. Sie passt also so richtig gut nach Hirosaki.
Dann wäre da noch Mathew Bosch, der auf Grund einer Bemerkung meinerseits voller Erstaunen feststellen muss, dass sein Name ein deutscher ist. Man habe die Deutschen vor knapp 100 Jahren mal „Les Boches“ genannt, informiere ich ihn. „Das hat doch hoffentlich keine abwertende Bedeutung?“ fragt er, aber ich kann ihn beruhigen, dass die Bezeichnung lediglich auf die Häufigkeit der Ersatzteile der deutschen Fahrzeuge im Ersten Weltkrieg zurückzuführen sei, die von der Firma BOSCH hergestellt worden waren. Ich halte mich zurück, ihn auch noch darauf hinzuweisen, dass so ziemlich jeder Rufname, den man pauschal einem ganzen Volk gibt, abwertend gemeint ist. Dieser Herr Bosch jedenfalls führt seinen Stammbaum auf die Niederlande zurück. Er ist der einzige unter den Juroren, der „zum Inventar“ gehört. Er ist Lehrer an dieser Schule.
Der letzte im Bunde heißt Stefan Desliu und ist Rumäne. Er arbeitet ebenfalls als Englischlehrer, wenn auch an einer anderen Schule. Eigentlich ist er ausgebildeter Programmierer, mit Brief und Siegel. Und er möchte natürlich in diesem Fach arbeiten, aber der Arbeitsmarkt hält nichts für ihn bereit. Also ist er im Lehramt kleben geblieben.
Was denn seine Qualifikation dafür sei, frage ich ihn. Er habe zehn Jahre lang Englisch auf der Schule gelernt, sagt er. Auch auf der Universität? Nein, da habe er lediglich englische EDV-Literatur gelesen. Ja, was für Qualifikationen braucht man denn, um in Japan Englischlehrer werden zu können? Man muss fließend Englisch sprechen können, und das wird anhand eines Einstellungsgespräches festgestellt. Pädagogische Fähigkeiten? Lehramtspraktikum? Nein, das sei nicht notwendig. Nicht einmal für Leute, deren Muttersprache nicht Englisch sei.
Wenn Muttersprachler einfach so in Japan Englischlehrer werden könnten, würde ich dafür noch ein Mindestmaß an Verständnis aufbringen, aber das dürfen auch Leute machen, die nie gehobenen Unterricht in Literatur oder Landeskunde (Kulturstudien) hatten. Das ist doch lächerlich. Andererseits eröffnet mir das völlig neue Perspektiven… ich hätte nichts dagegen, in Japan als Lehrer zu leben, wenn sich was besseres nicht findet, jetzt mal unabhängig davon, ob in Deutschland oder sonst wo auf der Welt. Allerdings entscheide ich das, wenn ich weiß, wie es mit meinem Studium weiterläuft… hoffentlich bis zum regulären Ende. Außerdem kann ich nicht, dieser Laune folgend, einfach hier bleiben und Melanie nach Hause schicken.
Im Kreis der Preisrichter stelle ich fest, dass ich der einzige bin, der das noch nie gemacht hat. Bei Bosch ist der Fall klar, aber auch die anderen beiden sind bekannte Gesichter an dieser Schule. Stefan hat an der Bewertung zumindest letztes Jahr bereits teilgenommen, und Mrs. Apple hat das schon gemacht, als diese Schule noch eine reine Mädchenschule war. Das sei schon ein paar Jahre her, wenn auch noch nicht lange. Ich gehe von einem Zeitraum unter zehn Jahren aus, aber ich frage nicht weiter nach.
Ich höre mir von den anderen an, welche Dinge ich hier beachten muss. Zum Beispiel erhält die erste Vortragende generell 70 Punkte (von 100) auf ihre Rezitation, quasi als Messlatte für die anderen, die nach ihr sprechen. Des weiteren gibt es zwar einen Schlüssel für das Punktesystem (maximal 25 Punkte für Erinnerungsleistung, 20 für Redefluss, 20 für Intonation, 25 für Aussprache, und so weiter), aber wir haben nur wenig Zeit, also schreibt man gewöhnlich „aus dem Bauch heraus“ eine angemessene Zahl auf das Punkteblatt der jeweiligen Schülerin.
Es ist übrigens durchaus angebracht, wenn auch nicht ganz richtig, von „Schülerinnen“ zu sprechen, weil von den 16 Teilnehmern gerade einmal zwei männlichen Geschlechts sind.

Die Seiai ist übrigens eine christliche Oberschule. Das heißt nicht, dass da nur Christen hingehen (einige Leute erinnern sich vielleicht an Hino Rei, die, als Miko eines Shinto-Schreins, ebenfalls auf eine katholische Mädchenschule ging), aber die Schule wird wohl entsprechende „Sponsoren“ haben. Der Eingang zu der Aula wird auch verziert von einem Bild, dass den gütigen Jesus zeigt. Genauer habe ich es nicht betrachtet.
Umehara-sensei, der für die Betreuung der Juroren verantwortlich ist, öffnet die Flügeltüren zur Aula, und in diesem Moment komme ich mir ein bisschen vor wie beim Einmarsch der Gladiatoren, abgesehen davon, dass ich hier nicht um mein Leben kämpfen muss. Aber die Stimmung, die mir entgegen wallt…
Moment, von vorn erzählen!
Da sitzen um die 250 SchülerInnen (mit dem Rücken zum Eingang) und das Ambiente der Aula kommt mir gleich komisch vor. Es ist keine dieser nüchternen Hallen, die ich aus Deutschland kenne – hier handelt es sich um die Kapelle/Kirche der Schule. Ich würde sagen, dieser Bau ist etwa 100 Jahre alt, mit dunklem Holz und hoher Decke, das… Rednerpult zeigt ein großes Christenkreuz.

Wir kommen herein und man klatscht. Oh, danke sehr, danke. Der Zufall will, dass ich an der Spitze gehe, aber weil ich keine Ahnung habe, wo ich überhaupt hingehen muss, nutze ich die erste Kurve, um die anderen drei vorzulassen. Wir bekommen einen Platz in der ersten Reihe und werden der Reihe nach vorgestellt, also Name und Tätigkeit. Applaus, Applaus. Danke, danke. Eine höfliche Verbeugung in Richtung Zuschauerraum.
Die 14 Mädchen und zwei Jungs der zweiten Klasse dieser Oberschule (ca. 17 Jahre alt) haben also einen Text auswendig gelernt. Es handelt sich um 95 Worte über die Eröffnung eines Friedensdenkmals auf Okinawa im Jahre 1995. Eigentlich hatte ich gehofft, dass die Schüler individuell (in einem gewissen Rahmen natürlich), nach eigenem Ermessen, einen kurzen Text hätten aussuchen können. 100 Worte Hemingway hier, 100 Worte Shakespeare da, vielleicht noch ein bisschen Joyce… na ja, wir wollen mal nicht übertreiben. Es wäre bunter geworden, aber ich gebe zu, dass die Bewertung sich viel einfacher gestaltet, wenn alle den gleichen Text vortragen. Bequem, aber eigentlich bedauerlich.
Unsere vier Einzelwertungen werden von der Leitung addiert und uns das Ergebnis vorgelegt. Wir vergleichen dann Teilnehmer, die gleiche Punktzahlen haben (oder nah beieinander liegen) und entscheiden anhand unserer Notizen, wer die besten fünf sind und ob wir vielleicht Sonderpreise geben. In diesem speziellen Fall gibt es zwei fünfte Preise, weil die beiden Mädchen nur 2 Punkte Differenz aufweisen, und beide immer noch über der „magischen“ Marke von 75 % liegen.
Nach unserer Besprechung (im Gästeraum) kehren wir in die Kapelle zurück und nehmen unsere Plätze ein. In der Zwischenzeit hat das Schulorchester aufgebaut. Man spielt uns drei Stücke vor. Etwas klassisches am Klavier, das ich zwar kenne, aber dessen Titel ich nicht weiß; das ganze Orchester (15 bis 20 Personen) spielt dann „A whole new World“ (ein Soundtrack aus dem „Aladdin“ von Disney, wie man mir sagte) und eine Interpretation eines Stückes von Hisaishi Jô (Hauskomponist von Studio Ghibli), dessen Titel ich ebenfalls nicht kenne, das ich aber schon einmal gehört habe.
Was die junge Dirigentin da tut, weiß ich allerdings nicht. Sie bewegt ihre Arme rhythmisch und gibt offenbar den Takt vor. Aber von „Direktion“ oder „Leitung“ des Orchesters kann keine Rede sein. Sie bewegt die Arme zweimal nach oben (in einer Art von Geste, als würde sie die Höhe eines Gegenstandes anzeigen), einmal über Kreuz und dann öffnet sie sie, und fängt dann wieder von vorne an. Aber was soll’s. Die Musik ist eine nette Einlage und sie sieht niedlich aus, wie sie da die Arme schwenkt – wenngleich ich den Vorgang auch nur von hinten betrachten kann, sie steht knapp einen Meter halb-rechts vor mir (auf der „Zwei-Uhr-Position“).

Danach folgt eine „Modellansprache“. Es soll also vorgeführt werden, wie man die Textvorlage im Optimalfall liest. Und das mache ich. Wie, ich!?! „Ja, machen Sie nur.“ Natürlich muss ich ablesen. Ich kann den Text schließlich nicht in derartig kurzer Zeit auswendig lernen. Ich betone das am Mikrofon noch einmal und entschuldige mich für Fehler, die ich wegen der kurzen Vorbereitungszeit machen könnte. Aber zuerst einmal mache ich ein Foto von meinen Zuschauern. Dafür ernte ich Lachen und eine Menge gute Laune. Meine Gestikulation und Mimik tun das übrige. Da wird man mich also so schnell nicht vergessen.

Annie liest daraufhin unsere Gesamteindrücke vor. Das heißt, sie spricht die SchülerInnen auf Japanisch an und weist auf auffällige Fehlerquellen hin. Problembegriffe in diesem Text waren u.a. „worked“ (daraus wurde oft „walked“), „civilisation“ (das wurde zu „Shivilisation“, weil es die Silbe „si“, wie man sie auch im Deutschen kennt, im Japanischen nicht gibt) oder „peace“ (und nicht, ähem, „piss“, weil viele die Längung des Vokals verpassten).
Stefan übergibt daraufhin die Preise. Und er tut das nach Art eines Ringansagers bei hoch dotierten Boxkämpfen. Die Namen betont er übermäßig amerikanisch. Das klingt grausig, die Aufgerufenen zeigen eine Mischung aus Amüsement und Lampenfieber, und es ist ja nur zum Spaß. Sein Japanisch ist nämlich wirklich hervorragend, wie ich einigen Gesprächsfetzen entnehmen kann.

Die „Top 5“ besteht nur aus Mädchen. Die Jungs waren kein Vergleich, viel zu schlecht. Der beste kam in der Gesamtwertung auf etwa 60 %. Und die Mädchen haben offenbar eigene Fanclubs. Wenn ein Name genannt wird, kreischt es jeweils woanders im Saal. Es ist wirklich lustig.
Zuletzt kehren wir wieder in den Gästeraum zurück und erhalten unsere Gratifikationen – jeweils 5000 Yen.
Bevor ich gehe, unterhalte ich mich mit Umehara-sensei und einer Lehrerin über das deutsche Image der japanischen Schulen und bekunde mein Interesse, mir den Betrieb an einer Schule ansehen zu wollen. Ja, das sei kein Problem. Ich solle mich einfach an Umehara-sensei wenden, seine Karte habe ich erhalten. Ich bitte mir die Zeit nach den Winterferien aus, das heißt, wenn die Schulferien vorüber sind, aber die Semesterferien der Universität noch nicht vorbei sind. Ja, das sei in Ordnung, einfach eine Mail schreiben. Na denn. Dann kann ich Marc bei der Gelegenheit gleich mitbringen, da Unterrichtsmethoden im Fremdsprachenunterricht in Japan ja sein Forschungsthema sind.1
Um 1530 verlasse ich die Schule wieder und mache mich auf den Weg in die Uni, weil ich mich um 1600 mit einer Chinesin namens Yuan treffen will. Sie interessiert sich für „deutsche Lieder“ (und ich glaube ihrem Redefluss entnehmen zu können, dass sie „alte“ Lieder, also keine NDW, meint) und möchte, dass ich ihr in punkto Aussprache ein paar Dinge beibringe. Aber… entweder habe ich mich beim Treffpunkt zu unklar ausgedrückt (ich schlug erst „GakuseiHall“ vor, und dann „Center“, als sie ersteres nicht zu kennen schien), oder sie hat es vergessen, jedenfalls taucht sie nicht auf. Aber ich treffe Yui und zwei ihrer Freundinnen im Center (die beide Mio heißen) und gehe mit denen in die Mensa. Die beiden Mios finden Italienisch interessant, wegen „O sole mio“ und „Amore mio“, also wegen des italienischen Pronomens „mio“ („mein/e“). Wir unterhalten uns eine Stunde lang, in denen ich zu vermitteln versuche, dass es mir nicht sehr leicht fällt, „deutsches Essen“ zu definieren, weil die deutsche Küche zu viele Anleihen aus dem Ausland hat, um klar sagen zu können „das ist deutsch und jenes nicht“.
Anschließend fahre ich in den Supermarkt, um Getränke und Nori zu kaufen. Danach wollte ich eigentlich essen gehen, aber Melanie ist nicht zuhause. Sie wird wahrscheinlich wieder an einer „Hello Kitty“ Auslage hängen geblieben sein. Also fahre ich zurück zur Uni, um meine Post zu schreiben.
Auf dem Weg dorthin werde ich beinahe angefahren. Ich bin ohne Licht unterwegs und der Fahrer des Wagens hatte es beim Abbiegen etwas zu eilig. Ich kann ausweichen, aber mein rechtes Pedal reißt ein Stück von der Plastikverkleidung der Stoßstange vorne ab.2 Ich sammle die Stücke auf und drücke sie dem Fahrer in die Hand, gleichzeitig entschuldige ich mich für das Missgeschick. Der Mann (um die 50 Jahre) nimmt das alles mit Fassung. Offenbar muss man nur eine Plastikniete ersetzen. Er will das Ganze auf sich beruhen lassen. Aber seine Frau fährt mich ziemlich ungehalten an. Ja, ohne Licht zu fahren ist unvernünftig, ich gebe es zu. Aber sie wird nicht müde, mich aufgeregt anzusprechen, und ich verstehe kein Wort, weil sie viel zu schnell redet. Ich kann nur vermuten, dass sie nicht allzu viele freundliche Dinge sagt. Währenddessen fummelt ihr Mann an der Plastikverkleidung rum. Und sie schimpft weiter. Das reicht mir dann doch irgendwann. Ich beschließe, sie mit japanischen Waffen zu schlagen: Ich lächele sie freundlich, aber verständnislos an, nicke zustimmend, und teile ihr mit, dass ich leider nicht genug verstehe, um ihr folgen zu können. Das hat gesessen. Sie redet noch lauter und noch schneller. Offenbar mögen Japaner ihre eigenen Angewohnheiten nicht.
Ihr Mann hat dann auch inzwischen eingesehen, dass er nicht die Möglichkeit hat, die Verkleidung seiner Stoßstange hier in Ordnung zu bringen. Er setzt seine Gattin in den Wagen und sagt, dass es in Ordnung sei. Ich bedanke mich für seine Kulanz. Dann fährt er davon.
An Wochentagen ist die Bibliothek bis 2200 geöffnet. Da ist also Zeit. Aber so lange brauche ich nicht.
Ich treffe noch Misi, der mir mitteilt, dass er „Kill Bill“ gesehen habe. Zu einem Eintrittspreis von 1000 Yen. Na, das geht doch. Ich hatte mit dem doppelten gerechnet. Dann kann ich dem „Yûbiwa Monogatari“3 getrost entgegenblicken. Mein Dank an meinen Freund Hiroyuki, der mir dieses Wort beigebracht hat.
1 Aus dem Vorhaben ist nie etwas geworden, aus Gründen, an die ich mich nicht erinnern kann. Es ist nicht unmöglich, dass ich das schlicht vergessen habe.
2 Es handelte sich um ein Stück Verkleidung an einer Stelle, wo man einen Nebelscheinwerfer hätte einbauen lassen können, wie eine Blende, die man herausnehmen und wieder einsetzen kann.
3 Dies ist der japanische Titel der Bücher, die man hier als „Der Herr der Ringe“ von J.R.R. Tolkien kennt. Ich erinnere daran, dass die Filmreihe damals brandneu im Kino lief.
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