Mittwoch, 05.11.2003 – Interview mit einer Mittelschulklasse
Der Japanischunterricht behandelt auch weiterhin Anfragen am Telefon, mit Hilfe von Rollenspielen. Das heißt, dass Keigo (ultra-höfliches Japanisch) dabei eine wichtige Rolle spielt – und das ist mir etwas fremd. Oder umständlich.
Vesterhoven behandelt in seiner Literaturklasse einleitend Tanizaki und empfiehlt uns wiederholt die Geschichte um „die Schwestern Makioka“. Aber er schließt es nicht in den offiziellen Stundenplan ein, da es sich um ein 600 Seiten starkes Buch handelt. Valérie beschließt aber, es zu lesen und ihre Seminararbeit darüber zu schreiben.
Um 13:30 beginnt ein weiterer Spaß. Eine Klasse des ersten Jahrgangs einer Mittelschule (das heißt, das Alter liegt bei 12 bis 13 Jahren) besucht uns und wir beantworten ihre Fragen. „Wir“ sind ca. 15 Freiwillige aus dem Kreis der Austauschstudenten. Und ich sah keinen Grund, mir das entgehen zu lassen. Die Klassensprecherin begrüßt uns. Sie ist wohl zwischen 1,60 und 1,70 Meter groß. Nicht schlecht für das Alter, und vor allem für eine Japanerin. Und ich würde gerne erfahren, wie sie in zehn Jahren aussieht.
Die Mädchen sind mit mehr Interesse, oder „Lebhaftigkeit“, dabei als die Jungs. Ich habe immer wieder das Gefühl, dass die Jungs ihre Unsicherheit hinter einer übersteigerten Coolness verbergen wollen. Was sollten sie auch tun? Sie sind mit Leuten konfrontiert, die die Fragen beim ersten Mal oft nicht verstehen. Wenn mir das passiert, werde ich auch ein bisschen nervös, weil ich mich ja verständlich machen will. Glücklicherweise habe ich eine Chinesin in der Gruppe, die ganz hervorragend Japanisch spricht und kann sie nach einer Erklärung der Frage des jeweiligen Schülers fragen. Die Schüler fragen uns eigentlich ganz banale Dinge:
„Was gefällt Euch in Japan besonders?“ – „Das Essen natürlich.“
„Was gefällt Euch nicht?“ – „Der Unterrichtsstil.“
„Was habt Ihr bisher in Japan besonders studiert?“ – „Die Speisekarte des Ramen-Lokals.“
„Warum studiert Ihr Japanisch?“ – „Weil Chinesisch zu schwer und Russisch unnötig ist.“
(Alexej, der aus der Gegend am Baikalsee stammt, nimmt diese Antwort mit Humor.)
„Warum studiert Ihr Japanisch ausgerechnet in Hirosaki?“ – „Weil es in Tokyo zu laut ist.“
„Wo seht Ihr Unterschiede zwischen unserer Heimat und Japan?“ –
„Japaner sind höflich, aber zurückhaltend; Deutsche sind ungehobelt, aber herzlich.“
Es sind jeweils sechs Schüler, die zehn Minuten Zeit haben, einer Gruppe von vier Studenten Fragen zu stellen. Die Schüler wechseln von einer Gruppe zur nächsten, wir bleiben sitzen und empfangen die nächsten. Die Größenunterschiede der Schüler sind wirklich immens. Die Klassensprecherin ist wirklich groß, während zwei oder drei der Jungs bestenfalls 1,30 „groß“ sind, und das ist eine großzügige Schätzung. Und einer der beiden würde einen Kieferorthopäden reich machen. „Der wird beim Küssen Probleme bekommen“, sagt Melanie. Die Obstkiste, auf die er sich dabei stellen muss, denke ich mir.
Eine der Schülerinnen hat eine Dauerwelle („Paama“ von engl. „perm“). Ich spreche sie darauf an: „Das ist doch eine Dauerwelle – ist das an japanischen Schulen nicht verboten?“ Aber statt einer Antwort bekomme ich nur ein schüchternes Kichern. Soll ich sie jetzt für niedlich oder für plemplem halten?
Nach einer Stunde sind wir durch, und ich habe nicht das Gefühl, meine Zeit verschwendet zu haben.
Melanie, die in einer anderen Gruppe untergebracht ist, sagt mir nachher, dass die drei Koreanerinnen, mit denen sie gesprochen hat, ebenfalls alle der Meinung seien, ich sei „kakkoii“. Hoffentlich steigt mir das nicht zu sehr zu Kopf. Oder ihr. 🙂
Danach will ich eigentlich Post schreiben, aber ich treffe Mei im Center und rede mich mit ihr fest. Mei ist eine der vier Chinesinnen, die auf der Festa so zaghaft ihr Lied gesungen haben.1 Sie will Englisch lernen oder das, was sie bereits beherrscht, verbessern und bittet mich, ihr dabei zu helfen. Vor allem, so weit es die Aussprache betrifft. Ja, sicher, kein Problem. Wir gehen ein paar Sachen durch und es ist unserer Angelegenheit sehr nützlich, dass sie das Internationale Phonetische Alphabet beherrscht. Nach etwa 15 Minuten habe ich es geschafft, ihr die Koartikulationseffekte der englischen Sprache etwas näher zu bringen und ihr auch noch zu erklären, was das eigentlich ist. Und die Grundlagen des Vokaltrapezes. Auf Japanisch ist das eine ganz gute Leistung, würde ich sagen, so ganz ohne Wörterbuch, nur mit Händen und Füßen und Ersatzvokabular für die Erklärung von Begriffen. Danach kann ich zumindest eine der Mails schreiben, mit denen ich so sehr hinterher hänge.
Eine kleine Überraschung hat der Abend aber noch parat. Eine der vielen Oberschulen der Stadt veranstaltet vom 11.11. bis zum 13.11. einen „Recitation Contest“. Und am 12.11. gehe ich da als Juror, als Punktrichter, hin! Versüßt wird die Angelegenheit durch die Auszahlung von 5000 Yen als Aufwandsentschädigung. Erstens also Geld (womit ich locker die Nebenkosten eines ganzen Monats bestreiten kann) und zweitens wird das bestimmt auch eine lustige Sache. Wenn ich schon mal hier bin, will ich mich auch sehen lassen. Wo ich doch so kakkoii bin… Ich finde es natürlich seltsam, als Deutscher gebeten zu werden, die Aussprache der Bewerber in einem englischen Vortragswettbewerb zu bewerten. Ich bin kein Muttersprachler, so gut ich auch sein mag. Ich muss noch ein bisschen mehr über den Wettbewerb erfahren, damit ich eine Art Bewertungsgrundlage habe. Aber mit solchen Dingen habe ich ja Erfahrung – dank des „Duplangschen Systems“, z.B. in den Oral Production Kursen der Universität Trier.2
1 Streng genommen ist sie zwar chinesische Staatsbürgerin, aber ethnische Koreanerin.
2 Ich habe allerdings mittlerweile vergessen, um was es sich dabei handelte.
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