Freitag, 31.10.2003 – Easy Rider
Am heutigen Nachmittag findet kein Unterricht statt, weil die Vorbereitungen für das Fest, das ab dem morgigen Tag beginnen wird, auf Hochtouren laufen. Das heißt, die Räume werden entsprechend ausstaffiert und können nicht für Unterrichtszwecke verwendet werden. Also heute kein Yamazaki.
Stattdessen laufen ab 14:00 die Generalproben für unsere Auftritte. Marc ist für die Präsentation Deutschlands zuständig. Er soll etwas zeigen, was nicht schon jeder weiß oder kennt. Wie alle anderen Präsentationen auch handelt es sich dabei um eine Powerpoint Präsentation, von einem Computer mittels eines Projektors auf eine Leinwand übertragen. Die Zeitvorgabe dabei ist „drei bis fünf Minuten“. Das würde ich für etwas kurz halten, aber immerhin müssen wir ein Dutzend Nationen in kürzester Zeit durchgehen.
Bei den Proben schon nimmt sich Irena für Slowenien acht Minuten Zeit (ich habe aus Neugier mal die Zeit gestoppt), oder sagen wir objektiver: Sie benötigte für das, was sie über Slowenien gesagt wissen will, acht Minuten Zeit. Danach zeigt Dave Bilder aus Neuseeland. Aber er zeigt nicht einfach Neuseeland, sondern zum Großteil Bilder, die mit seiner Familie und seinem Heimatdorf zusammenhängen. Die zeigen eigentlich nichts, was ich nicht schon wusste oder mir nicht hätte vorstellen können. Er hätte besser ein paar Landschaftsaufnahmen aus „Der Herr der Ringe“ gezeigt, dann wäre Neuseeland viel besser rübergekommen.
Das geht Marc alles an die Nieren, weil er sich von dem gegebenen Zeitlimit besonders eingeschränkt fühlt und der Meinung ist, dass sich die anderen ruhig an das Zeitlimit hätten halten können. Genau genommen ist er eigentlich ziemlich sauer und entschuldigt sich wegen „Unwohlsein“.
Es stellt sich übrigens auch tatsächlich heraus, dass ich wegen der blockierenden Haltung der Hälfte der Deutschen der einzige „künstlerisch“ Vortragende sein werde. Da Ramona und Luba die „Ode an die Freude“ nicht unbedingt zu zweit singen möchten, melden sie sich freiwillig für das Kinderprogramm und machen damit immerhin etwas. Nicht so wie andere Leute, die sich ganz fern halten.
Nach den Proben begutachte ich die Rechner der Bibliothek genauer. Der Prozessor ist ein Celeron, aber als Angabe steht auf dem Bildschirm 1,2 GHz Frequenzleistung. Das ist doch nicht schlecht, und die Geschwindigkeit, mit der Programme gestartet werden, ist wirklich bedeutend höher als auf den lahmen Gurken im Center. Sie laufen schnell und vor allem stabil, Betriebssystem „Windows 2000 Professional“. Aber meine Kamera wollen sie nicht erkennen. Ich lade auch die entsprechenden Treiber für dieses Betriebssystem herunter, aber das zeigt keinerlei Wirkung. Na toll – dann werde ich die Mühlen im Center also doch noch dafür brauchen, so ungern ich das auch tue. Ich sollte anfangen, mir Sicherheitskopien zu machen.
Bei Anbruch der Dunkelheit besorge ich mir ein neues Fahrrad. Das alte ohne Bremsen war doch etwas gefährlich. Das „neue“ ist natürlich ebenfalls gebraucht. Ein Mountainbike. Es steht in einem dichten Haufen von Fahrrädern, der Sattel ist komplett zugestaubt, die Zahnräder und Kette trocken und rostig, die Reifen sind nahezu luftleer. Aber Öl und Luft sind hierzulande kostenlose Serviceleistungen (sofern man bereit ist, selbst zu ölen und Luft zu pumpen, während die Kompressorpumpen unglaubliche 20 Yen pro Benutzung kosten). Das sollte kein Problem sein. Eine halbe Stunde später ist das Mountainbike voll betriebsbereit. Sieht man davon ab, dass es kein Licht hat. Das ist ein Mangel – aber Licht braucht man nur nachts, Bremsen dagegen braucht man den ganzen Tag. Es hat hinten einen Reflektor… immerhin etwas. Die Bremsen sind wirklich gut, die Reifen haben ein ausgezeichnetes Profil und die Gangschaltung verfügt über 18 Gänge. Damit kann ich leben.
Am Abend verpackt Melanie Geschenke für Ricci, weil sie bald Geburtstag hat. Ich lege ein Paket Zucker und eine Packung Kakao dazu, weil Ricci sich vor einiger Zeit beklagt hat, was für ein minderwertiges Zeug sie in Tokyo bekommen habe. Melanie ist natürlich der Meinung, dass man so was nicht machen könne. Ich habe die Gründe leider nicht wirklich verstanden, aber es läuft wohl darauf hinaus, dass man diese Art von Geschenk (nicht niedlich, nicht ästhetisch) als „Abneigungsbezeigung“ verstehen könne. Ich bin dagegen der Meinung, dass Ricci mich lange genug kennt, um den Spaß (oder vielleicht den praktischen Zweck) dahinter zu verstehen. Ich traue ihr so viel Humorverständnis doch zu. Melanie tut das offenbar nicht, also schreibe ich ebenfalls eine Karte, auf der ich meine Hintergedanken offenbare und mich gleichzeitig scherzhaft über den Niedlichkeitszwang in Melanies Auffassung von Postversand beschwere. Sie klebt immer irgendwelche kleinen Figuren und Fotos in die Briefe und auf die Pakete, damit es schöner aussieht. Obwohl der Inhalt ausgepackt wird und der Karton anschließend im Müll landet… aber eben das habe ich in den Brief an Ricci geschrieben und eigentlich nichts anderes.
Und da beginnt das Drama des Abends. Melanie will unbedingt lesen, was ich geschrieben habe. Und ich wollte es ihr auch eigentlich zeigen – aber sie fragt gleich, nachdem ich fertig bin, explizit danach, und diese Neugier stört mich. Sie trifft damit einen Punkt, der bei mir eine Blockadehaltung hervorruft.
Nein, nein, nein – so nicht. Sie will aber unbedingt und fragt noch mehrfach. Jetzt erst recht nicht. Es wird eindeutig erkennbar, dass sie beleidigt sein wird, wenn ich es ihr nicht zeige. Damit legt sie den Schalter in meinem Gehirn endgültig um. Nichts gibt’s! Niemand hat ein Recht darauf, meine Post zu lesen, so harmlos sie auch sein mag, und wenn man wegen einer Absage auch noch beleidigt sein will, dann empfinde ich das als Erpressungsversuch („Zeig mir das oder ich bin böse mit Dir!“), und ich komme mir kontrolliert vor – und da reagiere ich empfindlich. Ich bin nicht erwachsen geworden, um mir das noch gefallen zu lassen.
Ich klebe den Brief ruhig und gelassen zu. Ich bin sauer. Sie ist beleidigt. Wegen einer Kleinigkeit. Manchmal ergibt eines das andere. Und in Folge dessen redet sie die kommenden zwei Stunden kein Wort mehr mit mir. Soll sie. Vielleicht nutzt sie die Zeit, um ein wenig über ihre Neugier nachzudenken? Ich bezweifle es eigentlich.
Natürlich findet sich beim zweiten Nachdenken immer etwas. Ich reagiere auf bestimmte Schlüsselreize zu heftig. Eigentlich regt mich so schnell gar nichts auf… aber bemuttert („Hast Du Dir die Zähne schon geputzt?“) oder kontrolliert zu werden („Lass mich mal lesen, was Du da schreibst!“) trifft den Schalter punktgenau. Es tut mir natürlich jetzt leid, dass ich so heftig reagiert habe. Offenbar muss ich noch ruhiger werden.
Die entstandene Situation lässt sich aber glücklicherweise durch ein Gespräch nach der „Frostphase“ wieder in Ordnung bringen. Melanie ist offenbar der Meinung, dass ich solche Dinge nur aus dem Grund mache, sie zu ärgern – mit anderen Worten: sie unterstellt mir, dass ich das das als boshaften Scherz meine. Aber oh nein, dem Vorwurf kann ich widersprechen. Das ist mir sehr ernst.
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