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Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

30. Oktober 2023

Donnerstag, 30.10.2003 – Propaganda

Filed under: Japan,My Life,Uni — 42317 @ 10:40

Das Wetter wechselt zwischen sonnig und wolkig, dennoch ist es relativ kühl.

In diesen Tagen spielen öfters Bands in der Mittagspause auf dem Platz der Uni. Heute spielt eine Punkband auf der Bühne, die für das Fest vom 01. bis 03.11. aufgebaut wurde. Die Jungs sehen eigentlich nicht nach Punk aus. Sie scheinen mir eher aus einem Tarantino-Streifen entlaufen zu sein, mit ihren „Anzügen“ und Hemden.

Egal, die Musik hört sich nach Punk an, vielleicht auch nur nach dem, was japanische Studenten für Punkmusik halten, oder ich habe einfach keine Ahnung von dem Krempel und halte es alleine für Punkmusik. Hin oder her, ich würde solcherlei Aktionen in Trier begrüßen. Ein bisschen Musik oder Krach zur Mittagsstunde, wenn kein Unterricht stattfindet, kann doch nicht verkehrt sein.

Die Ideen von Mareike und Tanja werden immer seltsamer. Jetzt heißt es, sie wollten sich allgemein bei deutschen Projekten zurückhalten, weil sie nicht zu sehr mit Deutschen und anderen Austauschstudenten rumhängen wollten, sie wollten sich mehr um japanische Kontakte bemühen. Aha. Gut, ich habe zu Beginn, Ende September, etwas ganz ähnliches gesagt (und mich damit bei Ramona gleich „beliebt“ gemacht), aber ich persönlich habe so meine Zweifel, dass aus dem frommen Vorsatz der beiden viel wird. Ich erlebe ja selbst, dass die Dinge so werden, wie sie halt kommen und man trifft halt, wen man trifft, und sich absichtlich aus gemeinsamen Projekten heraus zu halten ist doch unsozial. Außerdem könnte man was verpassen. Erstens einmal ist Tanja im Moment gar nicht danach, länger als ein halbes Jahr zu bleiben (obwohl die beiden mit dem Berufsziel Übersetzer studieren!?), zweitens machen sich die beiden jedes Mal ins Hemd, wenn sie in Gefahr laufen, japanisch reden zu müssen, und drittens hat Tanja sogar Probleme damit, ohne Begleitung (= Mareike) nach Hause zu gehen.

Mareike und Melanie durchsuchten z.B. vor einigen Tagen die Kramkisten im Naisu Dô, ich wartete auf Melanie, und Tanja stand mehr oder minder gelangweilt in der Gegend rum, obwohl sie nichts Bestimmtes mehr vorhatte. Sie könne doch nach Hause gehen, wenn sie sich langweile. Nein, das wolle sie nicht alleine. Und dann wollen die mir erzählen, dass hinter der gemachten Erklärung viel Wille steckt? Nein, meine Damen. Ich glaube, die werden ebenso sprachbegabt wieder abreisen, wie sie angekommen sind.

Okay, ich bin ja auch nicht ohne sturen Egoismus und sperre mich gegen eine Mitarbeit bei dem neuen „Ode an die Freude“ Projekt. Ich will mein Lied nicht umsonst geübt haben. Ich werde Ramona und Luba gerne helfen, wenn ich vorbereitend etwas für sie tun kann, aber ich mache mein eigenes Ding, egal, was die beiden zu tun gedenken.

SangSu sorgt heute im Unterricht über Kultur und Geschichte von Tsugaru für Unterhaltung.

Kitahara-sensei: „Wann kamen die ersten Ausländer wohl nach Hirosaki?“

SangSu: „Vor vielen, vielen, vielen, vielen, vielen Jahren, habe ich gehört.“

Wieder hat er für Lacher gesorgt, der arme Kerl, aber ich mag ihn. Er bezieht sich mit seiner Antwort auf die ersten Menschen überhaupt, die, wohl so in der Steinzeit, als Siedler hier in diese Gegend kamen. Natürlich existierte Hirosaki damals nicht, und natürlich war die Frage nicht so gemeint, wie er sie verstanden hat. Kitahara-sensei meint „die ersten Ausländer“ im Sinne von Leuten, die nach dem Sturz des Shôgunats und der Öffnung des Landes anno 1868 nach Tsugaru kamen.

Nur zur Erklärung des Vokabulars:

Hirosaki“ ist die Stadt und auch der „Landkreis“, wo ich lebe und wo sich die Universität befindet.

Aomori-ken ist (verdeutscht) gewissermaßen das „Bundesland Aomori“.

Tsugaru“ ist der „Gau“, in dem sich Hirosaki befindet und der einen bedeutenden Teil des Westens von Aomori-Ken ausmacht. Der andere „Gau“ von Aomori ist Hachinohe.

Um 14:40 treffe ich Yui. Wir besprechen eigentlich nur ein paar Hausaufgaben, reden über den Text, wo es um die Farben des Regenbogens geht und über meine Eindrücke von der Familie Jin, so weit diese gestern anwesend war.

Den Regenbogentext findet sie ebenfalls etwas schwierig zu verstehen, weil abstrakt, und die Familie Jin bedenkt sie wegen meiner Schilderung des Applaudierens und der „furchtlosen“ Tochter belustigt mit dem Begriff „okashii“ („merkwürdig, seltsam, komisch“).

Wegen der anstehenden Wahlen in Japan am 09.11.2003 will ich noch ein paar Worte über Wahlwerbung verlieren: Die regierende Jimintô (Liberal-Demokratische Partei) hat einen Werbespot, in dem der Premierminister auftritt. Er sitzt auf einem Barhocker vor einem neutralen Hintergrund, steht dann bedeutungsvoll auf und sagt ein paar Worte (die ich nicht verstehe). Dabei läuft im Hintergrund eine Ballade von… X-Japan!? Mit eine der legendärsten Rockbands des Landes. Da läuft „Forever Love“ um genau zu sein. Ich wusste nicht, dass diese Band für ihren Patriotismus so bekannt war, dass die Regierung ihren Werbespot damit schmücken wollte. Vielleicht auch, weil die Band eben „X-Japan heißt.

Die Minshutô (Demokratische Partei) trägt ein wenig dicker auf. Der Kandidat, das heißt, sein Gesicht, wird in Großaufnahme gezeigt, und er sagt „Watashi wa – Nippon – ga suki desu!“ („Ich – mag – Japan!“). Mit angedeuteten kurzen Pausen von je etwa einer halben Sekunde. Zur Unterstreichung der Feierlichkeit läuft im Hintergrund… die „Ode an die Freude“. „Freude schöner Götterfunken“, hübsch mit deutschem Text, in einer Werbung für eine japanische Partei, deren Kandidat Japan liebt. Hätte er dann nicht lieber die eigene Nationalhymne nehmen sollen? Das sollte hier nicht so übertrieben wirken wie in Deutschland. Wenn bei uns einer sagt, „Ich liebe Deutschland!“, dann macht er sich ja gleich verdächtig, Nationalist, Rassist oder Antisemit zu sein. In dieser Reihenfolge. Eigentlich traurig.

Am Abend essen wir Yakiniku, um mal was anderes zu essen. Auch hier wird die Stimmung besser, nachdem wir uns als Deutsche entpuppt haben (und nicht als Amerikaner). Das Yakiniku ist wirklich gut. Ich bedauere nur, dass es so schnell kalt wird. Außerdem füllt es nicht so gut wie Ramen, weil beim Yakiniku nicht so viel Flüssigkeit dabei ist, die den Bauch füllt. Dennoch plane ich, auch hier die Speisekarte einmal komplett zu essen. Seit dem Beginn unserer „Ernährungsforschung“ macht Melanie Notizen, welches Essen wie gut war. Das könnte ebenfalls eine Hilfe für nachkommende deutsche Studenten sein.1

Da ich ja nicht hundertprozentig gesättigt bin, esse ich zuhause die erste Mikan meines Lebens.

Die Dinger sehen zwar ähnlich aus wie Mandarinen, sie sind außen und innen orange, aber es sind keine Mandarinen. Will man die Schale entfernen, kann man sie nicht einfach lösen, sondern man muss die Frucht schälen. Allerdings stelle ich fest, dass man die Schale mitessen kann, wenn man sie vorher sauber macht. Das Innere besteht auch nicht aus mehreren Spalten, sondern besteht aus einem ganzen Fruchtkörper. Das Fruchtfleisch kaut sich wie eine perfekt reife Birne – nicht zu hart, nicht zu weich. Der Geschmack kommt mir entfernt vertraut vor, aber ich kann ihn nicht definieren. Vor allem kann man davon noch mehr essen.

Habe ich bereits erwähnt, dass „TRICK“ eine einmalig irre und lustige Serie ist? Mystery und Komödie sind hier fast in Perfektion verschmolzen. Der Humor basiert in erster Linie auf Slapstick. An dieser Serie ist ein Anime verloren gegangen, aber vielleicht kommt der eines Tages auch noch. Es geht um Yamada (w) und Ueda (m), die zusammen irgendwelche mysteriösen Dinge aufklären, wobei mir die Motivation nicht ganz klar ist. Sie ist eine reichlich durchschnittliche Showmagierin und er ein halbwegs erfolgreicher Autor. Interessant ist, dass dabei alle möglichen Tricks (daher wohl der Name), wie man sie in Zaubershows sehen kann, aufgeklärt werden.

Ich glaube, Yamada ist wirklich eine lebende Animefigur. Sie sieht gut aus, sie ist gerissen (wenn es darum geht, sich den Lebensunterhalt zu verdienen, auch mit Schummeleien), sie ist oft genug schusselig, sie fällt von einer Sekunde auf die nächste in Tiefschlaf, auch wenn Ueda gerade was erklären möchte, sie liegt auf lustig verdrehte Art und Weise und schnarcht, wenn sie schläft.

Ueda dagegen ist ohne all das seltsam genug. Als beide von den Handlangern eines Gegenspielers eingefangen und gefesselt werden, sollen sie verbrannt werden. Sie bittet um ein paar letzte Worte und sagt zu Ueda (auf englisch): „Why don’t you just try and do your best!?… Why don’t you just try and do your best?!?“ („Warum versuchst Du’s nicht einfach und gibst Dein Bestes!?“), worauf er die Fesseln sprengt und plötzlich so vor Kraft strotzt, dass ihm sogar das Hemd wegfliegt. Und dann steht er da, mit seinem Kampfschrei, in einer Pose, mit nach vorne gestreckten Armen, die ich bei Bruce Lee schon mal gesehen habe. Ich bin beinahe vom Stuhl gefallen, weil ich so lachen musste.

Die Hauptdarstellerin heißt Nakama Yukie. Seinen Namen konnte ich mir, wie gewohnt, nicht merken. Mein Gedächtnis für Männernamen ist offenbar kürzer.2

Danach läuft auf dem nächsten Kanal (ich schreibe nie auf, auf welchem) „Manhattan Love Story“.

Ja, der Titel klingt für die meisten wohl reichlich abschreckend. Aber der Titel täuscht ein wenig.

„Manhattan“ ist der Name des Cafés/Bistros/Restaurants (in Tokyo gelegen), in dem ein Großteil der Handlung stattfindet. Die Charaktere sind Anwohner oder Angestellte der Gegend, die das Manhattan zu ihrem Stammlokal gemacht haben. Dabei geht es um die (zum Teil sexuellen) Beziehungen der Charaktere untereinander, wer wen mag oder nicht mag, welche Frau mit welchem Mann eine Beziehung hat und mit wie vielen Frauen dieser schrecklich rückgratlose Typ (kein geringerer als Theaterregisseur Matsuo Suzuki) geschlafen hat, obwohl er verheiratet ist. Klingt ernst. Ist es aber nicht. Der Pächter des Lokals fungiert die ganze Zeit über als Erzähler im Hintergrund. Er redet während einer Episode vielleicht zwei Sätze direkt, alles andere kommt aus dem Off. Der Mann arbeitet die ganze Zeit mit seiner Mimik, die seine Gedanken untermalt – und das kann er richtig gut. Im Hinterzimmer hat er eine Schiefertafel hängen, auf die er das Soziogramm seiner Kundschaft aufgemalt hat. Die Schiefertafel hat er unter einem Kalender versteckt, damit Shinobu, sein Angestellter, sie nicht findet.

Wer Gelegenheit hat, sollte sich das mal ansehen. Man kann auch diese Serie bestimmt irgendwo runterladen, per „Bittorrent“ oder mit einem ähnlichen Filesharing-Programm. Wahrscheinlich ist die Sache dann sogar untertitelt.

Es ist festzustellen, dass ich in Japan viel begeisterter fernsehe, als in Deutschland. Die TV-Serien sagen mir mehr zu, als zuhause, und der Anteil an Animeserien ist dabei nicht wirklich gestiegen… irgendwas machen die Japaner im Fernsehen besser, als Amerikaner – oder Deutsche, deren Serien man in den allermeisten Fällen in den Mülleimer treten kann.3

1 Fast 20 Jahre später waren diese Notizen eine Hilfe oder Inspiration für unsere japanische Freundin Kazu, die zwar in Hirosaki aufgewachsen ist, aber noch nie im Bunpuku gegessen hatte.

2 Sein Name ist Abe Hiroshi.

3 Mein Eindruck ist, dass Japaner ein besseres Händchen für Serien als für Filme haben, und dass Serien ohne Spezialeffekte die besseren sind.

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