Code Alpha

Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

29. Oktober 2023

Mittwoch, 29.10.2003 – Zu Gast im Hause Gottes

Filed under: Japan,My Life — 42317 @ 19:50

Am Morgen regnet es, und es ist kühl, auch in den noch nicht geheizten Klassenräumen.

Im Kaikan, dem Internationalen Studentenwohnheim, gab es gestern einen Feueralarm – Gerüchten zu Folge, weil jemand sein Öl in der Bratpfanne zu heiß gemacht hat. Der Rauch löste dann den Alarm aus. Die Feuerwehr rückte an (nach 30 Minuten – schlimmer als im Petrisberg!) und wieder ab. Mehr war nicht zu erfahren.

Literaturseminar: Professor Vesterhoven ist seit 28 Jahren in Japan, erzählt er selbst. Wir lesen einen Ausschnitt einer Vorlesung von Kawabata Yasunari über Individualismus, und Vesterhoven sagt, dass es durchaus Individualismus in Japan gebe, die Japaner seien entgegen aller Klischees dazu fähig, aber den Individualismus auch zu zeigen, sei noch recht schwierig. Nun ja, nach 28 Jahren traue ich ihm das Urteil zu.

Da ich immer noch keinen Adapter gefunden habe, heute aber der Besuch bei Familie Jin ansteht, gehe ich zum Friseur. Meine Haare werden mir allmählich zu lang und außerdem gibt es einen Friseurladen direkt auf dem Campus. Man muss nur in das Mensagebäude hinein- und an der Mensa selbst geradeaus vorbeigehen und steht, am gegenüberliegenden Ausgang, vor der Eingangstür des „Hair Salon“.

Einige Minuten später habe ich meinen gewünschten Sechs-Millimeter-Haarschnitt und kann mich wieder unter Leute wagen. Das Haareschneiden kostet mich 1000 Yen, also etwas mehr als 7 E, dafür gibt es Haareschneiden mit der Schermaschine für Schafe, Kopfwäsche und Haarwasserbehandlung.1 Für den Preis lasse ich mir das gefallen. Alle zwei Monate kann ich mir das sicher leisten. Hätte es mich mehr als umgerechnet 10 E gekostet, hätte ich beschlossen, meine Suche nach einem Adapter wieder zu verstärken. Aber so hat das Zeit.

Um 16:45 gehe ich mit Nan los und wir stehen auf der Straße im Regen. Aha! Ich brauchte Nan nicht aus dem Grund, weil sie weiß, wo das Haus ist, sondern weil sie ein Telefon hat, das dann quasi als Verlängerung der Türglocke fungiert. Sie ruft also bei Familie Jin an und wir werden 20 Sekunden später von Tochter Yûmiko (11) abgeholt. Wir standen bereits direkt davor. Allerdings hätte ich das Haus lange suchen können, weil es gewissermaßen in der zweiten Reihe steht. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, eine Autoeinfahrt zu betreten, um zu prüfen, ob sich hinter dem Haus an der Straße noch ein weiteres befindet.

Die Begrüßung geht schnell vor sich. Außer Frau Jin und ihrer Tochter ist ja nicht viel los. Herr Jin (47) ist nicht da, er befindet sich auf einer Ärztetagung in Chiba (bei Tokyo) und lässt sich entschuldigen. Selbiges gilt für die Großmutter (74), die sich derzeit in Kyoto aufhält. Aber der Großvater (74) ist da. Die Großmutter geht ohne den Ehemann auf Reisen? Das überrascht mich etwas. Aber ich habe eine zu liberale Einstellung, um mich mit diesem Gedanken länger aufzuhalten. Oh, und der 14 Jahre alte Sohn Yûtarô ist auch da.

Das Wohnzimmer ist relativ groß (ca. 16 qm), aber voll. Von der Eingangstür aus betrachtet stellt sich das Ganze so dar: In der hinteren, rechten Ecke steht eine Art Bett, davor der Esstisch. In der hinteren linken Ecke steht ein Bücherregal, zwischen dem Regal und dem Tisch steht ein Teleskop, mit dem man den Mond betrachten kann (wenn das Wetter es erlaubt). Die linke Wand wird eingenommen von einem weiteren Bücherregal und einem Schrank in der Wand. Im Regal stehen Bücher und ein Computer. An der rechten Wand steht oder hängt noch ein Regal, dann ein Großbildfernseher, davor eine Schachtel mit sechs (!) Fernbedienungen für die verschiedenen Elemente der Anlage und fünf verschiedenen Kanji- und Wordtanks (das sind kleine Computer im Handtaschenformat, mit denen man Wörter nachschlagen kann), rechts neben dem Fernseher noch mehr Regal mit Souvenirs, das sich noch über die Wand erstreckt, in der die Tür zu dem Raum ist. Ein Drittel des gesamten Raums wird von einem Konzertflügel eingenommen, eine Version mit Stecker für Kopfhörer, damit man auch lautlos spielen kann, wenn andere fernsehen oder Radio hören wollen.

Das Wohnzimmer Gottes

Der Sohn spielt Klavier und bezeichnet sich selbst als „Anpanman“. Man braucht ein wenig Bildung in japanischer Populärkultur, um das zu verstehen. Bei „Anpanman“ handelt es sich um eine weit bekannte Animeserie für Kinder um eine Art Superhelden mit kugelrundem Kopf (der Kopf ist eine Art Brötchen = „Pan“ mit süßen Bohnen = „An“ als Füllung). Der Kopf ist austauschbar, denn wenn der Held was auf den Deckel kriegt und sich sein runder Kopf verformt, verliert er seine Kräfte und muss von seinen Freunden erst einen neuen Kopf zugespielt bekommen. Yûtarô ist also nicht ganz schlank und hat ein kugelrundes, fröhliches Gesicht, auch wenn er etwas verunsichert durch den Besuch wirkt. Vor allem, wenn er englische Begriffe verwendet – und ich nehme an, dass er Angst hat, sich durch Fehler bloßzustellen.

Yûtarô vor 20 Jahren

Yûmiko macht das doppelt wett: sie hat weitaus weniger Probleme mit dem fremden Besuch. Sie fühlt offenbar keine Scheu, uns sogar anzufassen, wenn sie auf etwas aufmerksam machen will. Das hätte ich jetzt nicht erwartet. Aber ich empfinde das nicht als unangenehm oder unhöflich. Yûtarô ist auch eine eher stille Natur (ohne jedoch irgendwie abweisend zu wirken), aber Yûmiko dagegen ist wie ein kleines Kraftwerk, sie redet einfach drauflos und legt keinerlei kommunikative Berührungsängste an den Tag.

Yûmiko und Nan

Bei dieser Gelegenheit stellt sich ein Erfolgserlebnis ein – ich weiß, wie man „eigo“ („englisch“), schreibt, Yûmiko nicht. Ich kann also mindestens ein Kanji mehr als eine elf Jahre alte Japanerin! Bin ich nicht ein Supermann? (Es darf gelacht werden…)

Es werden Fotos von der Familie gezeigt, eines wurde vor der Kulisse des hiesigen kleinen Schlosses aufgenommen. Aha. Yûmiko in entsprechender Pose. Ich lache und sage „SailorMoon!“ Was denn, kennt man das auch in Deutschland, will sie wissen. Ja, das sei sehr populär, wenn es auch von „Pokemon“, „Digimon“ und den relativ neuen Sachen wie „One Piece“ und „Yû-Gi-Ô“ inzwischen überholt worden sei. Yûmiko freut sich darüber und zeigt mir eine Plastiktüte voll mit „Yû-Gi-Ô“ Spielkarten. Holla… in dem Sack liegen garantiert einige Tausend Yen in Form von diesem Merchandising. Und Yûmiko lässt es sich auch nicht nehmen, uns ihre Sammlung von „Winnie Pooh“ Stofftieren zu präsentieren. Dazu habe ich nun überhaupt keinen Bezug, aber einer Elfjährigen sei es gestattet.

Überhaupt ist die ganze Familie sehr musikalisch. Klavier scheinen irgendwie alle zu spielen, der Vater spielt noch eine Reihe anderer Instrumente, mit denen man Jazzmusik spielen kann, die Mutter spielt außerdem Flöte, die Oma spielt Koto, und die Tochter lernt es gerade von ihr. Nur der Großvater scheint kein musikalisches Hobby zu haben, zumindest wurde er in der Musikantenreihe nicht erwähnt. Der gute Mann war Skilehrer, mehr war nicht zu erfahren, und ich habe auch nicht weiter gefragt.

Der Großvater ist, wie alle älteren Leute, mit denen ich hier bisher gesprochen habe, etwas schwer zu verstehen, weil seine Stimme altersbedingt verändert ist. Ob er einen lokalen Dialekt spricht, kann ich nicht beurteilen. Ich brauche Frau Jin auch so, um mit ihm reden zu können. Aber auch die Kinder sind stellenweise schwer zu verstehen. Die haben beide einen Sprachfehler: sie lispeln. Bei palatalen und alveolaren Lauten entweicht die Luft seitlich der Zunge. Bei der häufigen Anwendung von Affrikaten in der japanischen Sprache nicht gerade ein leichtes Unterfangen. Man muss sich erst reinhören, bis man weiß, welche Laute verzerrt sind und man auf die richtige Form umdenken kann.

Frau Jin lernt derzeit sieben Sprachen gleichzeitig, in einer Gruppe, die sich „Hippo Family Club“ nennt. Der Hippo-Club ist wohl selbstorganisiert und umfasst etwa ein halbes Dutzend Familien. Über Sinn und Unsinn dieses Unterfangens kann man sich streiten, aber ich finde es auf jeden Fall beeindruckend, dass man etwas solches überhaupt in Angriff nimmt. Schließlich geht man hier bereitwillig auf Ausländer zu, um denen den Aufenthalt angenehmer zu machen, und das ist nirgendwo so selbstverständlich, wie es schön wäre.

Frau Jin hat ein dem entsprechend großes Interesse an deutschen Vokabeln. Den lautlichen Unterschied zwischen „Mutter“ und „Mütter“ konnte sie jedoch nicht erkennen, trotz meiner Bemühungen. Es muss damit zusammenhängen, dass der entsprechende Laut, das „ü“, im Japanischen nicht existiert, und daher das Ohr wegen mangelnder Gewohnheit die deutschen Phoneme „u“ und „ü“ nicht unterscheiden kann.

Die Konversation bleibt dennoch vielseitig. Und wenn es Schwierigkeiten gibt, stehen genügend elektronische Lexika zur Verfügung. Und was haben die da für ein Teil!? Das Ding hat Sprachausgabe – und als ob das nicht schon irre genug wäre, hat es auch noch Sprachunterstützung für Japanisch, Englisch, Deutsch, Spanisch, Französisch, Italienisch, Portugiesisch, Chinesisch, Koreanisch und Russisch!

Ich glaube, ich spinne… ich wage gar nicht zu fragen, was das gekostet hat.

Aber zum Essen:

Sukiyaki wurde mir versprochen, und das ist ein bisschen wie Raclette auf Japanisch. In der Mitte des Tisches befindet sich ein Pott mit eingebauter Heizfläche. In diesen Topf legt man dann Gemüse, Salat, Zwiebeln, Glasnudeln, Pilze und Fleisch, das alles köchelt in einem Sud aus Wasser und einer Art Sojasoße. Als Beilage gibt es daneben Reis und Süßkartoffeln, einen grünen Salat mit dünnen Schinkenscheiben und bestimmt noch etwas, was aufzuschreiben ich vergessen habe. Man nimmt sich was aus dem Pott heraus und taucht es in eine kleine Schüssel mit geschlagenem Ei. Klingt für Deutsche seltsam, aber das Ganze schmeckt einfach umwerfend gut.

Sukiyaki

Ich musste übrigens nicht bei der Herstellung helfen, weil alles so weit fertig war, ich habe nur etwas Teig in eine Form für Muffins gefüllt. Umwerfend, nicht wahr? Den Teig hat Yûmiko angerührt, und sie sagt, sie wolle eine professionelle Köchin werden, wenn sie mit der Schule fertig sei.2 Mir gefällt der Gedanke irgendwie. Somit ist sie wohl auch kein Anwärter für die grausamen Elite-Oberschulen und die bösen Elite-Universitäten mit ihren diabolischen Aufnahmeprüfungen, bei deren Vorbereitung sich jedes Jahr mindestens zwei Millionen japanische Jugendliche vor lauter Stress und Erwartungsdruck erhängen – wenn man den deutschen Medien glauben will.

Frau Jin vor 20 Jahren

Nur was Rotwein betrifft, scheint diese Kulturfamilie etwas unerfahren. Es ist schon überraschend, dass welcher angeboten wird, und ein guter noch dazu. Allerdings – und ich musste wegen der „Blasphemie“ etwas lachen – kommt der Rotwein fest verschlossen direkt aus dem Kühlschrank. Ich erkläre also so diplomatisch wie möglich, dass man Rotwein bei Raumtemperatur trinkt und dass man die Flasche eine Stunde vor Genuss öffnet, damit der Wein „Luft holen“ kann und entschuldige mich für die Belehrung. Von der Lehre vom „richtigen Glas“ habe ich zu wenig Ahnung, also lasse ich das aus.

Ja, natürlich war ich mit meiner Belehrung vorsichtig – es soll ja Leute geben, die der Meinung sind, ich würde grundsätzlich alles mit der „großen Keule“ verkünden und mich auch noch in meinem Wissen sonnen. Ja, natürlich sonne ich mich immer wieder mal in meinem Wissen, aber ich bin durchaus in der Lage, mich der Situation entsprechend auszudrücken.

Beim Essen kommen alle zusammen, also auch der Großvater, der eigentlich ein Stockwerk tiefer wohnt. Er redet etwas Englisch. Und er verwendet einen deutschen Ausdruck, den er schwierig findet: „Das Mädchen“. Die Aussprache wolle ihm nicht gelingen, und er bittet mich, es ihm vorzusprechen. Ich komme seinem Wunsch nach, und beim dritten Versuch macht er es richtig, wenn auch mit Akzent. „Hai, tadashii!“ („Ja, richtig!“) sage ich und die anderen drei Familienmitglieder am Tisch klatschen Applaus für den Großvater. Schon wieder bin ich überrascht. Etwas derartiges wiederholt sich mehrfach am Abend, mit wechselnden Zielpersonen. Ich begrüße diese Art von Pädagogik. Ich habe in Deutschland das Gefühl, dass man zu wenig durch Lob motiviert wird. Macht man Fehler, erntet man Tadel, auf die eine oder andere Weise. Wenn man etwas richtig macht, wird das als normal betrachtet und kein Wort darüber verloren, und nur bei schwierigeren Angelegenheiten wird möglicherweise ein Lob ausgesprochen.

Um 20:00 machen wir Schluss, ich werde nach Hause gefahren. Ich bitte Frau Jin darum, mir eine E-Mail zu schreiben für den nächsten Termin, weil ich kein Telefon habe. Sie erklärt mir, von solchen Dingen keine Ahnung zu haben, verspricht aber, zu schreiben. Ich habe diesmal meine Fotos zurückbehalten, und sagte, ich wolle damit warten, bis die ganze Familie anwesend sei, damit auch jeder etwas davon hätte und nicht drei Viertel der Familie meine langweiligen Fotos aus der Heimat und aus Italien zweimal sehen müssten. Sie bittet mich außerdem, beim nächsten Mal auch Melanie mitzubringen. Oha, dann wird der Raum aber voll. Drei Gäste, zwei Ehepaare, zwei Kinder. Wie passen die alle an den Tisch? Das ginge schon irgendwie, sagt sie. Nun denn.

Zwanzig Minuten, nachdem wir uns verabschiedet haben, steht Frau Jin wieder vor der Tür – ich Trottel habe meine Kamera auf dem Tisch liegen lassen. Ich kriege meine Nase kaum noch vom Boden hoch, so unangenehm ist mir das, aber sie sagt, das sei nicht weiter schlimm und drückt mir nebst meiner Kamera auch noch eine schwere Plastiktüte in die Hand. In der Tüte befinden sich vier riesige Äpfel und drei Mandarinen, dazu drei Mikan – jene Früchte, die ein wenig wie abgeflachte Mandarinen aussehen. Ich bin platt vor Erstaunen. Ich mag diese Familie. Eigentlich würde ich dort am liebsten gleich einziehen.

1 Mein nächster Besuch endete allerdings ohne Haarwasser. Ich habe nicht gefragt, sondern ging in der Folge davon aus, dass es sich möglicherweise um einen Service für Erstkunden handelt.

2 Sie wurde stattdessen Kindergärtnerin

Schreibe einen Kommentar