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Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

28. Oktober 2023

Dienstag, 28.10.2003 – Seht da, die Deutsche Einigkeit, hier tut sie sich beweisen…

Filed under: Japan,My Life — 42317 @ 9:50

Nach dem Unterricht von Yamazaki-sensei findet im Center ein Meeting statt, dass nach wenigen Minuten in das Stockwerk darunter verlagert wird. Wir werden seelisch und moralisch auf das Zusammentreffen mit unseren Gastfamilien vorbereitet und werden gebeten, eine Erklärung zu unterschreiben, nach der wir die Gastfamilien nicht für Unfälle verantwortlich machen wollen, wenn uns während einer Aktivität mit der Familie (Schwimmen, Bergwandern, Skifahren, etc.) etwas zustoßen sollte. Eine formale Vorsichtsmaßnahme. Ich dachte, dass verstünde sich von selbst. Wenn Kai mich zum Kebab einlädt und ich danach an einer Lebensmittelvergiftung leide, werde ich ihn deshalb wohl kaum verklagen. Und das nicht nur der Freundschaft wegen.

Im Anschluss versuche ich, das „Haus Gottes“ zu finden. Nein, nein, ich verwende diesen Ausdruck nicht, weil ich plötzlich zur Religion zurückgefunden habe, sondern weil die Familie Jin, der man mich zugeteilt hat, ihren Namen so, wie „kami“ = „Gott“, schreibt. Ich glaube, ich habe das bereits erwähnt.

Die Straße zu finden, ist ganz einfach. Aber ich finde das Haus nicht. Ich solle nach Namensschildern an den Türen Ausschau halten, sagte Sawada-sensei. Leider hat die Hälfte aller Häuser in dieser Straße kein Namensschild. Sawada-sensei empfiehlt mir daraufhin, einfach morgen mit Nan zu der Straße zu gehen und anzurufen, sobald wir da sind. Nan hat ein Telefon, also sollte das kein Problem sein. Ich treffe sie morgen um 16:30. Wir sind für 17:00 eingeladen, also ist 16:30 eigentlich ein wenig früh, da es von der Uni bis zu der kleinen Straße nur 10 Minuten zu Fuß sind, wenn man sich Zeit lässt. Aber sicher ist sicher. Wir sind bei den Jins eingeladen, weil Frau Jin an dem Tag, an dem die Zusammenführung von Familien mit Studenten stattfinden soll, keine Zeit hat, daher die Sonderbehandlung.

Beim Schreiben meiner Post bemerke ich, dass ein weiterer der Rechner, die mit Windows XP arbeiten, das Programm Windows Word verloren hat. Wenn man es starten will, erscheint neuerdings eine Fehlermeldung. Wunderbar. Also kann ich auch hier keine längeren Mails schreiben (weil dem GMX-Server ja nicht zu trauen ist, der hat mich früher bereits mehr als einmal schon einfach so ausgeloggt, weil er Schreibarbeit offenbar nicht als Tätigkeit auf der Benutzeroberfläche betrachtet). Da ich ja nun nichts machen kann, frage ich Sawada-sensei nach dem Vorgang, wie man seine Miete bezahlt. Sie sagt, auf dem Vertrag sei gewöhnlich eine Kontonummer aufgedruckt, dorthin solle man überweisen. Aha… weiteres erfahre ich also in einer Bank.

Ich treffe mich noch mit zwei oder drei der übrigen Deutschen und stelle fest, dass die deutsche Beteiligung an dem Kulturfest „International Festa“ am 01.11. sehr dünn wird. Wir wurden gebeten, die Show vom letzten Mal doch zu wiederholen, weil dies ja dann auch ein minimaler Aufwand wäre. Wir erinnern uns: Die „Ode an die Freude“, absichtlich schief gesungen. Um Himmels willen… Ramona und sogar Luba wären dabei. Aber Marc ist nicht danach, weil ihm schon die Aufgabe zufällt, in einem Vortrag von fünf Minuten Deutschland vorzustellen, und wegen der kurzen Zeit wird er wohl nur über deutsches Essen reden. Er sagt, er werde über seltenere Speisen sprechen, um dem Klischee zu begegnen, dass Deutsche nur Bratwurst, Strudel und Eisbein mit Sauerkraut essen und dazu am liebsten Bier trinken. Aber okay, er hat eine Aufgabe. Ich will mich auch nicht an dem Projekt beteiligen. Erstens war ich von Anfang an dagegen und zweitens war die Vorstellung arm. Auf eine Art und Weise schlecht, dass es keinem auffiel, dass absichtlich schief gesungen wurde, und die Idee mit den Socken befand ich als völligen Bockmist. Ich will mein „Palästinalied“ auch nicht umsonst auswendig gelernt haben. Ich kündige an, dass ich das machen werde, solo und acapella (ohne instrumentale Begleitung).

Mareike, Tanja und auch Melanie haben absolut keine Lust („Lust ist für Tiere und Liebesspiele!“ will ich dazu mal zitieren), sich noch einmal mit Singen zu blamieren. Dabei hat sich niemand beschwert oder abfällig gelacht.

Und eigentlich wäre das nicht einmal so schlimm, wenn es dabei um Lampenfieber ginge. Viele Leute haben halt ein Problem damit, vor Publikum aufzutreten. Das ist mir bewusst und ich akzeptiere das. Was ich aber in diesem Fall abstoßend finde, ist die „ausschließende Übereinkunft“, die die drei geschlossen haben. Mareike und Tanja, immer in Personalunion, haben Sawada-sensei und Ramona gegenüber erklärt, sie würden nur mitmachen, wenn das alle anderen auch täten. Sie haben mit Melanie gesprochen, die ihre Abneigung gegen einen Auftritt zum Ausdruck brachte und beschlossen, sich durch allseitige Verweigerung gegenseitig zu blockieren – weil dann ja nicht alle „ja“ sagen. Bei Melanie muss ich die Sache aus offen ersichtlichen Gründen etwas anders handhaben, aber Tanja und Mareike haben heute bei mir einen Großteil der Achtung verloren, die ich auf menschlicher Ebene für sie hatte. Aber ich will nicht weiter lästern.

Wer nichts vorführt, muss Eintritt zahlen, 1000 Yen, habe ich gehört. Also wird sich die Zuschauermenge in Grenzen halten, die in erster Linie sowieso aus den Gastfamilien bestehen wird, die die ihnen zugeteilten Studenten kennen lernen wollen. Und wenn das Wetter schlecht wird, kommen wohl noch weniger Leute, weil das Kulturfest zum Großteil im Freien stattfinden soll. Sawada-sensei rechnet mit etwa 200 Personen im Zuschauerraum.

Am Abend kommt ein Einschreiben, wie bestellt. Der Postservice ist toll hier. Man muss verpasste Briefe nicht auf der Post abholen, sondern schreibt auf einen Benachrichtigungszettel, wann man Zeit hat, und wirft ihn in den nächsten Briefkasten. Zum ausgesuchten Termin erscheint dann der Briefträger (bis Abends um 21:00!) und bringt die Post vorbei. Das gilt allerdings (leider) nicht für Pakete. Die muss man persönlich auf der Hauptpost abholen, wie in der alten Heimat.

Der Fernseher bleibt heute aus, weil noch einige Hausaufgaben zu machen sind, und die Kanji für morgen sollten ein wenig besser sitzen, als sie das bisher tun. Gegen Mitternacht kann ich dann endlich dahinsinken und schlafen.

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