Donnerstag, 23.10.03 – Netzwerk Japan
Heute gab es Geld. Die ersten 80000 Yen meines Stipendiums. Ich bin gespannt, was am Ende des Monats übrig bleibt. Wenn überhaupt. Aber bislang bin ich guter Hoffnung. Ich habe Miete und Nebenkosten mit Melanie anteilig mit unserem jeweiligen „Einkommen“ verrechnet. Ich bekomme 80.000 Yen pro Monat, sie knapp 140.000. Dementsprechend trägt sie ca. 60 % der anfallenden Kosten. Natürlich ist sie anfänglich von dem Plan nicht begeistert, aber sie kann überzeugt werden. Abzüglich ihrer Anteile hat sie pro Monat immer noch mehr Geld zur Verfügung als ich überhaupt bekomme…
Am Nachmittag machen wir eine Exkursion zum Schloss von Hirosaki. Vor einigen Tagen war ich ja schon einmal dort, scheute mich aber, den Bereich zu betreten, für den man bezahlen muss. Heute also sind wir in der Gruppe angereist, genießen etwas Ermäßigung und sehen uns den inneren Teil des Schlosses an.
Es handelt sich dabei um ein geradezu winziges Gebäude von drei Stockwerken Höhe, in einem Baustil, wie man ihn von japanischen Postkarten her kennt. Abgesehen davon, dass diese Postkarten meist das Schloss von Osaka zeigen, das ein wirklich beeindruckender Bau zu sein scheint. Aber in Hirosaki steht eben dieses… Schlösschen, über dessen mangelhafte Schutz- und Trutzfunktion ich bereits gesprochen habe – keines der Tore würde einem ernsthaften Versuch, es aufzubrechen oder einfach niederzubrennen, lange widerstehen können.

Wir erfahren auch, dass es sich bei dem momentan existenten Schloss eh nur um einen Nachbau aus dem 19. Jh. handelt, weil das Originalschloss schon vor längerer Zeit durch einen Blitzschlag in Brand gesetzt wurde und durch das Feuer das Munitionslager in die Luft geflogen ist. Das alte Schloss war auch fünf Stockwerke hoch und stand an der gegenüberliegenden Ecke des inneren Parks.1
Das Innere des Schlosses ist zunächst recht dunkel, aber die Exponate sind gut beleuchtet und die Fotos sind auch was geworden. Blitzlicht ist verboten. Leider gab es nicht allzu viel zu fotografieren. Und von überall her strahlt mich dieses Tempelkanji, das gespiegelte Hakenkreuz, mit seinem für mich äußerst unheilig anmutenden Glanz an. Der Bau ist zugig und kühl. So richtig dicht sind die Holzläden an den Fensterlöchern nicht. Die Treppen sind aus Platzgründen sehr steil und nicht für Leute meiner Größe gemacht. Einer der Chinesen, der nach mir nach oben geht, stößt sich den Kopf an. Die Aussicht aus den kleinen Fenstern verrät mir, dass der Verteidigungswert des Gebäudes nicht sonderlich hoch ist. Man sieht hier seitlich eine Brücke, immerhin ein wichtiger Punkt. Aber ansonsten in erster Linie Bäume, die den Feind verbergen, bis er auf 50 Meter an das Gebäude heran ist.2
Na egal, als das Gebäude wieder aufgebaut wurde, war man sich wohl bereits bewusst, dass es darauf nicht mehr ankommen würde. Die primitive Artillerie der US-Amerikanischen Bürgerkriegszeit hätte das Gebäude bereits in einen Schutthaufen verwandelt – warum also sich die Mühe machen? Ich bin durchaus der Meinung, dass es sich um ein schönes Haus handelt, und das wird wohl die vordergründige Absicht des Erbauers gewesen sein.
Danach gehen wir ein Stück durch den Park. Leider herrscht gerade ein recht ungemütliches Wetter. Es regnet nicht, aber es sieht aus, als würde es bald anfangen. Daher macht auch der Park nicht so viel her. Ich werde auf jeden Fall wiederkommen, sobald mal an einem Wochenende die Sonne scheint und ich nicht gerade mit wichtigeren Dingen beschäftigt bin. Alexej, ein Russe aus dem Gebiet Irkutsk/Baikalsee, empfiehlt auch dringend, sich das Hanami, die Kirschblütenschau, in Hirosaki anzusehen. In dem kleinen Park stehen 2000 Kirschbäume, und es werden (zur gegebenen Zeit) mindestens ebenso viele Menschen pro Tag erwartet, die die Kirschblüten bewundern, sich kräftig einen antrinken und möglicherweise ihren Mageninhalt gleich als Dünger hinterlassen. So schlimm wird es wohl nicht werden, aber man sollte solche Events nicht romantisieren und nicht glauben, der durchschnittliche Besucher (Japaner oder nicht) werde im strengen Geiste der Ästhetik unter den Bäumen harren und mit vor Rührung tränennassen Augen Haiku dichten.
Wir erfahren, dass an dieser Stelle, wo heute die vielen Bäume stehen, eigentlich die Häuser der niederen Samurai und der anderen Angestellten gestanden haben. Als dann die große Finanzknappheit über den Hirosaki-Clan hereinbrach, wurden die alle hinausgeworfen und an Stelle ihrer Häuser der Park angelegt. Die Angestellten, die nicht gleichzeitig ihre Anstellung verloren, wurden außerhalb des neuen Parks angesiedelt, und genau da gehen wir jetzt hin.
Zuerst besuchen wir das Haus des Familienarztes des hiesigen Daimyô (des Lokalfürsten). Ein sehr gemütliches Haus, mit niedriger Decke im Eingangsbereich. Zum ersten befindet sich oberhalb der Decke ein Versteck, falls das Haus in Gefahr geraten sollte, überfallen zu werden und zum zweiten macht es die niedrige Decke recht schwer, ein Schwert von 120 cm Länge zu ziehen. Im Inneren gibt es einen Arbeitsraum mit Kochstelle und einem kleinen Schrank, in dem wohl das Geschirr steht. Daneben befindet sich ein Raum mit nicht näher definiertem Verwendungszweck und an diesen angeschlossen ist eine Art Wohnzimmer mit einem langen Tisch und mehreren Sitzkissen. An der Wand hängt eine Rolle mit Kalligrafieschrift (Tokonoma), davor ein Blumengesteck.
Die für das Haus zuständige Dame stellt die Frage, wo man sich als Gast wohl hinsetzt, wenn man keinen Platz zugewiesen bekommt. Für mich ist das eigentlich eine Frage, die sich nicht stellt. Wenn man mir keinen Platz zuweist, bleibe ich stehen. Aber die Antwort ist recht simpel: Nicht zu nahe an die Schriftrolle und das Blumengesteck. Die Person, die direkt davor sitzt, ist die wichtigste Person im Raum. Und als Gast macht man sich nicht selbstherrlich zu derselben. Wir werden also gebeten, aufzupassen, wenn wir unsere Gastfamilien besuchen, ob im Wohnzimmer nicht vielleicht etwas solches vorhanden ist.
Nach dem Haus des Arztes besuchen wir das Haus eines Samurai. Ich würde sagen, es ist ärmlich. Man kann auch sagen, es sei spartanisch, wie man das von einem Krieger erwartet. Man geht hinein, und im Prinzip ist der große Innenraum (der so groß nicht ist) durch Wände in vier oder fünf kleinere Räume unterteilt. Das Dachgebälk wurde nicht verkleidet, was den rustikalen Charakter der Architektur noch verstärkt.
Am Eingang des Hauses sitzt eine ältere Dame. Um die 70 Jahre alt, würde ich schätzen. Sie kassiert den Eintrittspreis, den wir aber nicht zahlen müssen, weil Sawada-sensei das mit der zuständigen Behörde so ausgehandelt hat. Der Tag ist immer noch kühl, ohne Regen, aber ziemlich frisch und windig. Es zieht an allen Ecken in diesem Haus. Ich frage sie, ob ihr nicht langweilig oder kalt sei. Ja, natürlich sei es kalt, aber sie habe einen Kotatsu (eine dicke Decke mit einer kleinen Heizung für die Beine darunter) und ein Radio gegen die Langeweile. Und sie sei es schon gewohnt.
Die Gebäude machen sich sehr schön auf Postkarten, wirklich. Aber aller schlichten Ästhetik zum Trotz würde ich mir keines davon bauen lassen.
Wir fahren zurück zur Universität und heute habe ich keinen Unterricht mehr. Da Marc die Okonomiyaki (Teigfladen, in den Meeresfrüchte oder Fleisch und Kraut gemischt werden) der Mensa empfohlen hat (im Prinzip scheint es sich dabei um ein Omelett mit Füllung zu handeln), gehe ich einfach mal hin, um sie zu probieren. Ich erinnere mich daran, dass Okonomiyaki in einem der „Ranma“ Filme (in der Synchro) als „Japanese Seafood Pizza“ bezeichnet wurden, aber in dem Angebot der Mensa befindet sich nichts mit Meeresfrüchten. Nur Gemüsefüllung. Aber das muss ja nicht schlecht sein. Ich kaufe ein Exemplar (etwa 25 cm Durchmesser) für ca. 250 Yen und werde darauf hingewiesen, dass an dem Ei kein Salz sei, ich solle also die angebotene Soße verwenden. Okay, die Soße kenne ich schon, die ist nicht schlecht. Nur her damit.
Hm… ich weiß nicht genau, was Marc hier in der Mensa gegessen hat, vielleicht etwas anderes als ich. Aber entgegen seiner Darstellung, wie toll die Dinger hier seien, habe ich den Eindruck, dass die Omeletts mit ihrer „gemüsigen“ Füllung nach Seife schmecken. Ganz eindeutige Ingwer-Vergiftung.3 Kein besonderer Genuss. Sehr viel anders hätten sie in der Mensa der Uni Trier wohl auch nicht geschmeckt. Es muss doch eine Möglichkeit geben, irgendwo Okonomiyaki zu essen? Ich habe bereits Restaurants für alles Mögliche gesehen, aber noch nichts, wo mir Okonomiyaki auf dem Speiseplan aufgefallen wären. Ich werde jedenfalls versuchen, „das Wahre“ zu finden. Ich wurde ja bisher nicht vom Essen in Japan enttäuscht und komme eher zu dem Schluss, dass Mensaessen überall gleich mies ist. Was mich daran erinnert, dass die „Amino“ Zahnpasta, die ich gekauft habe, nach rosa Plastik schmeckt. Jetzt frage man mich bitte nicht, warum ausgerechnet „rosa Plastik“. Das war das erste, was mir in den Sinn kam. Aber sie ist nicht so furchtbar, dass man sich nicht daran gewöhnen könnte. In einer Woche wird sie mir wohl normal vorkommen.
Am frühen Abend leitet Melanie den Life-Journal Eintrag von Ricci (derzeit in Tokyo) an mich weiter, in dem sie ihre Ankunft und die ersten Tage beschreibt. Ich bin natürlich sehr an den Eindrücken meiner Freunde in Japan interessiert, und sei es nur zum Vergleich. In erster Linie muss ich Ricci wegen der Klette (eine extrem anhängliche Person, wie es scheint) bedauern, die sie sich wohl eingefangen hat. Allein von dem, was ich lese, ist mir diese Person zutiefst unsympathisch. Wenn jemand meine Bewegungsfreiheit einschränken will, soll er/sie sich zum Teufel scheren. Das sind nämlich oft genug Heulsusen, die auf kurz oder lang anfangen, ihre Leidensgeschichte auszubreiten und hoffen, dafür bemitleidet zu werden. Interessant ist auch, dass Ricci sich über die Qualität des Kakaos und des Zuckers in Tokyo beklagt. In unserem Provinzstädtchen hier gibt es beides in guter Qualität. Gut, dass sie bald Geburtstag hat, ich werde ihr ein CARE Paket schicken, damit sie nicht mehr elf Löffel Zucker braucht, bis der Tee süß ist.
Melanie steigt sofort auf die Barrikaden. Das könne man nicht machen, Ricci könnte das völlig missverstehen und so lächerliche Geschenke mache man nicht, weil dadurch ein Gefühl der Abneigung entstehen könne und so weiter. Also, zunächst einmal ist Ricci nicht blöd, und des weiteren kennt sie mich seit knapp drei Jahren. Ich bin sicher, dass sie den inneliegenden Humor erkennen wird. Aber um Melanie zu beruhigen, verspreche ich, noch ein paar Zeilen dazu zu schreiben, die die Sache genauer erklären.
Bevor ich das Center wieder verlasse, gerate ich in eine kleine Diskussion mit Misi, Angela und Valérie (letztere aus Neu-Kaledonien in bester Südseelage). Valérie beklagt sich über die hohen Preise in Japan. Ja, das sei normal, versichere ich ihr. Aha, es geht konkret um Reiskocher, die seien so teuer. Ich weise sie darauf hin, dass man im Daiei und im Ito Yôkadô Reiskocher von brauchbarer Größe für bereits etwa 5000 Yen kaufen könne. Ja, genau das sei teuer, sagt sie. Wo sie herkomme, gebe es Reiskocher bereits für umgerechnet 3000 Yen. Ich reagiere mit amüsiertem Unverständnis. Dann könne sie ja einen Reiskocher aus ihrer Heimat importieren, wenn ihr die Preise hier nicht zusagten. Ja, wenn da die Transportkosten nicht wären, nicht wahr? Wir versuchen zu dritt, sie davon zu überzeugen, dass 5000 Yen (knapp 40 E) für einen (neuen) Reiskocher eigentlich ein Schnäppchen sind. Zumindest in Japan. Ich habe auch welche gesehen für 65000 Yen und mehr, also etwa für mehr als umgerechnet 500 E! Was tun diese Dinger für diesen Preis? Vielleicht „Singing in the Rain“ trällern und einen Steptanz aufführen, wenn sie fertig sind? Was hilft das Klagen? Misi weiß Rat: Er hat keinen Reiskocher gekauft, sondern kocht den Reis in einem normalen Topf.4 Aber auch das sagt ihr nicht zu. „Buy or die!“ Oder iss Nudeln. Spaghetti gibt es im 100 Yen Laden – zu einem eigentlich unverschämten Preis, beachtet man, dass ein Pfund Spaghetti in Deutschland für 29 Cent zu haben ist…
1 Die ursprüngliche Burganlage wurde 1611 fertiggestellt und brannte bereits 1627 wieder ab.
2 Das Areal wurde in den vergangenen 140 Jahren mehrfach verändert, dazu gehört auch die Umwidmung in einen öffentlichen Park, für den man eher Bäume pflanzt, anstatt Schusslinien zu schaffen.
3 In diesen Okonomiyaki waren rosa Stückchen zu erkennen: eingelegter Ingwer. Frischer Ingwer schmeckt anders.
4 Er hat sich in der Folgezeit noch einen elektrischen Reiskocher gekauft – mit dem er unzufrieden war, bis ich ihm zeigte, was es mit der Strichskala am Rand auf sich hat: Dass man nämlich den Topf nicht mit Wasser voll macht, sondern nur bis dorthin auffüllt, wo die Zahl eingestanzt ist, die der Anzahl der eingefüllten Go (Becher) Reis entspricht.
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