Dienstag, 14.10.2003 – Die Wahrheit ist irgendwo da draußen
Heute weiß ich nicht, wo ich anfangen soll. Am besten am Beginn des Tages.
Zuerst Unterricht bei Yamazaki-sensei. Diesmal ohne gemeinsames Phrasenwiederholen. Hat er den Unmut bemerkt? Wie auch immer. So gut gelaunt war ich nach einem Unterricht schon seit Wochen nicht mehr.
Danach folgt die erste Unterrichtseinheit „Einführung in das Studium des Buddhismus“. In dem Kurs sitzen zehn Leute. Der Dozent ist Professor John Phillips, und er musste nicht erst sagen, dass er Amerikaner ist – man sieht es ihm sofort an. Aber es ist auch nicht nur seine Ausstrahlung, ich fand vor allem diese übertrieben große Gürtelschnalle auffällig, auf der sein Name geschrieben steht. Der Mann ist eigentlich Spezialist für afrikanische Geschichte, genauer für die Haussa in Nigeria. Er spricht deren Sprache und auch Arabisch. Was macht der also in Japan? Japan sei ein Land, in dem Afrika keine „Geschichte“ hat, sondern nur „Anthropologie“. Und wie kommt er zu einem Seminar über Buddhismus? Er sagt, er interessiere sich für Religion im weitesten Sinne.
Man merkt allerdings schnell, dass er überhaupt kein Interesse daran hat, in Japan zu bleiben. Oder hatte: Er hat eine Familie hier. Hm. Vielleicht will er warten, bis sein Nachwuchs einen Schulabschluss hat? Wie dem auch sei. Er lebt bereits seit einigen Jahren in Japan, man sagt, er sei seit zehn Jahren hier, aber schreiben hat er nie gelernt. Als er z.B. „Daikoku“, eine Gottheit, die man mit den Kanji für „groß“ und „schwarz“ schreibt (??), vorstellen möchte, bittet er einen japanischen Teilnehmer, das zu schreiben. Unterrichtsvorbereitung? Mangelhaft. Wenn er japanische Begriffe in den Mund nimmt (die Bezeichnung ist ganz treffend), bluten meine Ohren. Sehr amerikanisch geprägt. Ein wirklich sympathischer Mann, aber irgendwie fehl am Platz.
Nach diesem Unterricht werde ich auf Anfrage endlich über das finanzielle Gebaren hier aufgeklärt. Mir wurde vor einigen Tagen eigentlich nur mitgeteilt, dass ich als AIEJ Stipendiat (das heißt, das Geld kommt aus dem Fond der Universität Hirosaki) nicht auf ein Bankkonto angewiesen sei. Melanie dagegen erhält ein staatliches Stipendium, und dafür braucht sie ein Konto und einen „Hanko“, eine Art Stempel, der als Unterschriftsersatz dient. Eigentlich bin ich davon ausgegangen, dass auch AIEJ Gelder auf ein Konto überwiesen würden, das erscheint mir ein normaler und ordentlicher Vorgang zu sein. Aber das war weit gefehlt. AIEJ Stipendiaten erhalten ihr Geld in bar! 80000 Yen, monatlich, in bar! Saitô-san, die zuständige Angestellte, spricht die Leute dann zu entsprechender Zeit an und bittet um eine Unterschrift, worauf man einen Umschlag mit dem Geld erhält, das einem zusteht. Wer hätte das gedacht? Niemand hat mich jemals darauf vorbereitet, dass es so was noch gibt. Jetzt bin ich seit mehr als zwei Wochen hier, ohne dass mir das jemand gesagt hätte, und auch in Trier hat mich niemand informiert. Aber ich kann mich auch nicht mehr erinnern, ob es in den Unterlagen zu lesen war, die ich erhalten habe. Das hätte mir auffallen müssen, aber ich erinnere mich nicht. Die entsprechenden Personen sollen das bitte nicht als Vorwurf auffassen. Ich war nur etwas fassungslos, dass Transaktionen von diesem Geldumfang in bar getätigt werden.
Dann aber fängt der Spaß so richtig an. Ich habe für meine Wohnung einen Versicherungsbetrag in Höhe von 7500 Yen gezahlt. Davon erstattet mir die Universität 2500 Yen zurück. Aber nur per Überweisung auf ein ordentliches Bankkonto! Ein Konto der Postbank, das ich für meine Nebenkostenüberweisungen eingerichtet habe, wird nicht akzeptiert. Ich will aber kein weiteres Konto eröffnen und kann durchsetzen, dass dieses Geld an Melanie überwiesen wird. Und dann kommt der nächste Scherz.
Die Regierung hat im Rahmen des Antiterrorpakets ein Gesetz erlassen, nach dem Banken keine automatischen Überweisungen (also Daueraufträge) für Personen ausführen dürfen, die weniger als sechs Monate in Japan wohnen. Das heißt, Melanie muss ihre Überweisungen „manuell“ machen, also die Rechnung zur Bank bringen und mit einem Formular das Geld überweisen. Nach sechs Monaten erst kann das Geld von den Firmen per Bankeinzug abgebucht werden. Für ein Bankkonto braucht man auch die „Alien Registration Card“ (die von Japanern vorgenommene Übersetzung für „Gaikokujin Tôroku Shômeisho“), die man erhält, wenn man als Ausländer für länger als 90 Tage in Japan lebt. Für ein Postbankkonto braucht man keine solche Karte, es könnte also damit zusammenhängen, dass die Postbank seltener akzeptiert wird. Aber die Postbank akzeptiert sofort automatische Überweisungen, ohne Wartezeit von sechs Monaten. Zum Glück akzeptieren die Gas- und Stromlieferanten die Postbank.
Später erfahre ich, dass aber die Krankenversicherung nur über eine „ordentliche“ Bank überwiesen werden kann. Na toll. Aber ich gehe mal davon aus, dass ich kein Konto dafür brauche, sondern eine Bareinzahlung tätigen kann. Zumindest habe ich die Hoffnung, dass das geht.
Am Abend gibt Melanie mir die Kundenkarte für den BeniMart, die sie unter Anleitung von Yumi, Marcs Freundin, angeschafft hat. Diese Karten tun folgendes: Zunächst einmal erhält man auf alles, was man kauft, 5 % Rabatt. Das ist nicht die Welt, aber es ist eben genau der Betrag der Konsumsteuer, die auf die Waren erhoben wird. Falls ich es noch nicht erwähnt habe, möchte ich an dieser Stelle einfügen, dass diese Steuer nicht in den aufgedruckten Warenpreis einfließt. Da stehen also z.B. 100 Yen auf dem Schild, aber an der Kasse bezahlt man dann 105. Die Kundenkarte revidiert das also. Und für jeweils 100 Yen Warenpreis erhält man einen Treuepunkt. Und einmal am Tag kann man an einen Automaten gehen und den Strichcode der Karte einlesen lassen. Daraufhin erscheinen die BeniMart Maskottchen (die „Beni-Rangers“) und man sucht einen aus, der dem Kunden eine zufällige Zahl von Punkten schenkt, im Bereich von 1 bis 5. Wenn man eine bestimmte Zahl von Punkten erkauft hat, bekommt man ein Guthaben gutgeschrieben, für das man dann umsonst einkaufen kann. Das ist nicht gerade umwerfend. Ich freue mich weit mehr über die 5 % Rabatt.1

1 Nach meinem Abgang aus Hirosaki am 03. September 2004 blieb Melanie noch ein paar Tage vor Ihrer Reise nach Tokyo und lebte während dieser Zeit kostenlos von den angesammelten Punkten der vergangenen elf Monate. Die machen also durchaus Sinn.
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