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Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

6. September 2013

Gaytal-Kamikaze (Teil 18)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 12:14

Die Notizen sind mir noch nicht ausgegangen… ich verbleibe noch ein paar Absätze lang im Jahr 2012: Drei Stichworte habe ich noch, dann beginnt auch hier das Jahr 2013, und trotz werbewirksamer Fehlinterpretation des mayanischen Kalenders ist die Welt zwischendurch nicht untergegangen, wie wir ja heute wissen.

An einem sonnigen Tag im Spätherbst fuhr ich etwa um 0800 aus dem Depot in Richtung Newel, also durch Ehrang und Biewer, von dort aus über die schmale Straße unter der Autobahnbrücke hindurch, aber an der Gabelung nicht links auf direktem Weg nach Trierweiler, sondern erst rechts den Berg nach Besslich und Butzweiler hoch, weil damals die Einmündung auf die Landstraße bei Aach wegen Bauarbeiten gesperrt war.
Während des Anstiegs drehte der Motor allmählich immer schneller, aber die Leistung viel ab, bis ich schließlich Vollgas geben konnte und trotzdem bestenfalls noch Schritttempo fuhr.

Ich nutzte die erste Einbuchtung für Waldfahrzeuge, um einen laienhaften Blick in den Motorraum zu werfen. Da war nichts zu sehen, es qualmte nichts oder so, aber es roch nach verbranntem Gummi. Getriebeschaden, davon ging ich aus. Ich rief im Depot an.
“Okay, komm zurück, wir haben noch ein Auto hier.”
Ich bekam eine von den alten Sprintergurken ohne Stauraum (dafür mit viel Müll und Dreck), die nur für Engpässe in Bereitschaft standen, und bis ich nach Rückfahrt und Umladen wieder auf die Straße konnte, war über eine Stunde vergangen, es war mittlerweile nach halb Zehn. Und das mitten im Vorweihnachtsbetrieb.

Da zu jenem Zeitpunkt auch die Trierer und der Bitburger bis zur Hintertür vollgepackt waren, war es an mir, in deren Peripherie zuzustellen – unser Management sieht in erster Linie auf die Anzahl der Kunden am Tag, das sind in der Eifel selten mehr als 50, während die Stadtfahrer in der Regel das Doppelte stemmen müssen, aber kaum jemand bedenkt die Kilometer, die ebenfalls Zeit kosten. Oder man hat bei den Dispoplanungen Fahrer im Kopf, die mit über 50 Kunden durch die Eifel düsen und trotzdem um Drei zuhause sind.
Ich bin allerdings kein schneller Fahrer und hatte einiges zu tun an dem Tag: Trierweiler kostet über eine halbe Stunde extra, die Dörfchen westlich von Bitburg eine weitere Stunde, und inklusive des Umstands, dass vor Weihnachten die Frachtzahlen um 50 % steigen, kommen so bequem mehr als zwei Stunden raus. Mit allem, was an jenem Tag schon passiert war, würde ich vielleicht um halb Acht zuhause sein.

Kurz nach Einbruch der Dunkelheit kam ich in Biersdorf am See an, um dem Altersheim noch irgendwas zu bringen, aber 500 m in den Ort hinein kamen aus dem Motorraum Geräusche, als habe jemand den Ventilator vorne mit einem Häcksler verwechselt; im nächsten Moment begann die Fahrerkabine, sich mit Rauch zu füllen. Ich zog das Auto noch auf den Parkplatz der Sparkasse. Ein Anwohner hatte das Geräusch gehört und kam zu mir rüber, Taschenlampe griffbereit. Motorhaube auf, ich ließ den Motor an, und wir sahen gemeinsam hinein. Zylinderkopf? Ölleitung? Ich war nicht sicher. Irgendwo spritzte Öl, es verdampfte auf dem heißen Motorblock und es kam zu der beschriebenen Rauchentwicklung.

Ich rief Peter an, der versprach, jemanden zu schicken, der mich abholen würde.
Was sollte ich bis dahin machen? Die Sonne hatte den Tag ganz angenehm gemacht, aber jetzt, wo es dunkel war, spürte man, dass der Winter bereits sprungbereit hinterm Horizont im Nordosten lag. Der Anwohner brachte mir einen alten Plastikstuhl und empfahl mir, mich in den Vorraum der Sparkasse zu setzen. Und dann saß ich dort, mit dem Rücken zur Heizung. Ich ging im Kreis, las alle ausliegenden Werbeprospekte und entdeckte, dass das Grundstück samt Werkhalle eines unserer (gelegentlichen) Kunden in
Mettendorf zum Verkauf stand. An einem guten Teil anderer Gebäude kam ich auch hin und wieder vorbei und wusste, wo sie sich befanden (und dass man sie von ihrer schokoladigsten Seite fotografiert hatte). Langeweile in Reinform.

Um etwa Sieben rief Felix mich an, er würde kommen, aber es werde noch etwas dauern, von Wittlich nach Biersdorf vorzustoßen. Kurz vor Acht kam er dann an. Dem Anwohner entging das nicht und als wir mit dem Umladen der verbliebenen Fracht begannen, kam er rüber und brachte uns zwei alkoholfreie Veltins mit Zitrusgeschmack. Dass da Kohlensäure drin war, war mir in dieser Situation völlig egal. Wir tranken gemeinsam einen auf den beschissenen Tag und ich konnte nur hoffen, dass das Ersatzersatzfahrzeug ein besseres sein würde.

Weitere Tage vergingen, aber dann kam der Winter. Im vergangenen Jahr hatte es meist nachts geschneit und bis zum Arbeitsbeginn waren zumindest die Hauptstraßen wieder frei. Nicht dieses Jahr. Da fing es am frühen Morgen zu schneien an oder während der Tour, und so auch an diesem Tag im Dezember. Es schneite plötzlich in dichten Flocken bei mäßigem bis starkem Wind, die Schneedecke auf der Straße schloss sich und wurde dicker. Ich fuhr Newel und Trierweiler und machte mich auf den Weg nach Udelfangen, wo ein Kollege aus Studientagen arbeitete, der von seinem Studium rechtzeitig den Absprung geschafft und den Einstieg in einen Job im Umfeld der visuellen Medien geschafft hatte. Ich glaube, der Betrieb führt Qualitätskontrollen durch, aber genau weiß ich es nicht; die bekommen jedenfalls immer wieder DVDs und was weiß ich noch was, ab und zu auch als Supersonderzweitageexpress aus den USA.

Da wollte ich gerade hin, als ich in einer kleinen Senke etwa einen Kilometer vor dem Ort mit 40 km/h scheinbar zu schnell in die eigentlich sanfte Linkskurve ging. Vielleicht hatte sich dort unter dem Schnee Wasser angesammelt, das dann gefroren war, ich weiß es nicht – das Lenkrad ging nach links, aber der Wagen fuhr geradeaus weiter, in den Graben hinein. Nach wenigen Sekunden stand fest, dass ich nicht aus eigenem Vermögen da wieder rauskommen würde.
Anruf im Depot.
“Versuch mal, einen Bauern mit Trecker aufzutreiben.”
Könnte das in Udelfangen schwer sein? Da sieht es sehr bäuerlich aus. Aber weit gefehlt. Da gab es noch zwei Traktoren. Beim Hof in der Ortsmitte war keiner zuhause und ein Schnee schippender Nachbar teilte mir mit, dass der Anwohner nur eine Art Teilzeitbauer sei, der die Woche tagsüber meist auf der Arbeit sei. Aber ich könne es weiter oben versuchen, da lebe ein Vollzeitbauer. Da er den Namen der Straße nicht wusste, beschrieb er den Weg und das Haus.
Leider war die Wegbeschreibung nicht die Beste oder zumindest nicht volltauglich in meinem Kopf angekommen und ich ging ein paar Umwege, bis ich das beschriebene Haus endlich gefunden hatte. Eine Dame Mitte Vierzig öffnete mir die Tür und konnte mir nicht weiterhelfen; ihr Mann sei gerade wegen einer Erkältung beim Arzt und werde nicht vor Mittag zurück sein. Nein, andere Leute mit Schlepper gebe es ihres Wissens hier nicht.

Ich machte mich auf den Rückweg zum Auto und telefonierte mit Peter. Er werde sich was anderes einfallen lassen. Bis dahin legte ich mich ins reichlich zugeschneite Auto. Zynischerweise hörte es genau da auf zu schneien und zu stürmen, als ich mich nicht mehr im Freien aufhalten musste. Nach kurzem Dösen rief Peter an: Ein Abschleppdienst sei auf dem Weg. Ich döste weiter, bis ich hörte, dass ein Wagen vor mir hielt. Eine Art Geländefahrzeug, darin ein Mann Mitte Fünfzig in Werkstattkleidung, Jacke drüber.
Wir befestigten das Seil, er zog, ich half mit durchdrehenden Hinterreifen, so gut es mir möglich war. Aber es ging vorwärts und nach einem bedenklichen Kratzen am Unterboden stand der Sprinter wieder auf der Straße. Ich bedankte mich und fuhr weiter, in einen späten Feierabend hinein.

Bei dem Fahrer handelte es sich übrigens um den Vater unseres Lagerverantwortlichen Antonius, und das Kratzen am Unterboden hatte von einem Betonblock her gerührt, in dem wohl vor langer Zeit mal ein Straßenschild eingelassen war. Schäden waren jedenfalls keine festzustellen.

Die Tage waren lang und zehrten an meinen Kräften, aber ich biss die Zähne zusammen – an Weihnachten würde alles vorbei sein und der Januar als eine Art Halburlaub stünde vor der Tür. Am 19. Dezember, dem Freitag vor Heiligabend wollte ich daher alles geben, alles musste raus, und die Stoppzahlen, die ich bekommen hatte, reichten auch bis lang in den Abend. Jedes Kaff wollte mindestens ein Paket haben. Hier ein Umweg, da ein Umweg, und ich schien nicht vorwärts zu kommen.

Am Nachmittag in Mettendorf. Dort lebt ein Außendienstmitarbeiter einer Firma, die Kaffeepads verkauft. Da er natürlich tagsüber unterwegs ist, werden die Pakete bei seiner Mutter abgeliefert, einer netten älteren Dame weit jenseits des Rentenalters, die mir angesichts der fortgeschrittenen Zeit und fünf großer Pakete eine Tüte Plätzchen anbot. Sie sagte, sie habe Kinder, Enkel und Urenkel in ausreichender Zahl und daher ein Überangebot an selbstgemachtem Weihnachtsgebäck. Und das schmeckte ganz hervorragend. Hoffentlich nimmt sie ihre Rezepte nicht mit ins Grab, das wäre ein echter Verlust.

Um Fünf war ich in Neuerburg, wo ich in den besten Zeiten zwischen Zwölf und 13 Uhr auslieferte; um 1430 aus Neuerburg rauszufahren, war für mich spät. Nun war es also Fünf. Niemand hatte mehr mit mir gerechnet. Der Tierarzt zeigte sich mit einem Gesichtsausdruck zwischen Schock und Erstaunen und während ich seine Sachen in die Garage stellte, brachte mir die ganze Familie Plätzchen und Kaffee in einem Thermobecher. Ich war geplättet und wusste gar nicht, was ich dazu sagen sollte, außer mich angemessen zu bedanken.
“Den Becher können Sie behalten, ich hab genug davon.”
“Passen Sie auf, der Becher ist undicht”, fügte seine Frau hinzu.
“Nein, der ist nicht undicht… der äußere Teil hat ein nadelgroßes Loch, da zieht sich vielleicht Spülwasser rein, das später auslaufen kann, aber der Kaffee bleibt drin.”
Ich fühlte mich dabei an Dialoge mit Melanie erinnert. 🙂
Ich war mindestens gerührt. Und dafür, dass jene Frau das ist, was man wohl einen “Besen” nennen könnte, mit der ich erst nach Monaten warm geworden bin, macht sie hervorragende Plätzchen. Hut ab.
Vielleicht war aber auch das Leben nicht sehr freundlich zu ihr gewesen. Das Ehepaar hat einen Sohn von schätzungsweise Mitte Zwanzig und eine Tochter von vielleicht Anfang Zwanzig, und die durchaus hübsche und freundliche junge Frau ist wohl das, was man früher mal “geistig zurückgeblieben” nannte… ich weiß nicht, wie man das heutzutage nennt, “retardiert” klingt jedenfalls zu gestelzt; kurzum: sie hat das Gemüt einer Siebenjährigen. Das kostet Eltern natürlich Kraft und Nerven, von daher habe ich heute, mit diesem Wissen, mehr Verständnis dafür als früher, dass die “Tierarztfrau” manchmal kurzangebunden bis zur Grenze der Unhöflichkeit ist und ich freue mich jedesmal ein bisschen, wenn sie mal lächelt.

Zustellung in Idenheim um Viertel vor Zehn (ja, abends), dann nach Idesheim. Peter rief mich an.
“Ich hab grade eben den Tagesbericht aufgerufen und gesehen, dass Du vor drei Minuten noch eine Zustellung gemacht hast!? Mach Feierabend!”
“Die letzten beiden mach ich jetzt auch noch…”
Kurz vor Zehn dann in der Schreinerei in Idesheim. Die Werkstatt war natürlich geschlossen, aber der Schreinermeister saß noch in seinem Büro. Und machte große Augen.
“Das brauchen wir ganz dringend am Montag Morgen… der Kunde will sein Wohnzimmer unbedingt bis Heiligabend fertig haben… vielen Dank!”
Letzter Kunde um etwa Zehn, die Pharmamitarbeiterin im gleichen Ort. Im Wohnzimmer brannte noch Licht. Auch hier große Augen. Ihr Dutzend Pakete wanderte in die Garage und sie schenkte mir ein paar Packungen, auf denen zwar jeweils ein Blutzuckermessgerät abgebildet ist, in denen sich aber Toblerone Minis befanden. Dann erst begann das Wochenende.

Die letzten beiden Tage vor Heiligabend waren wie erwartet relativ ruhig, wenn auch nicht so ein Durchhänger wie im Jahr zuvor. Montags schenkte mir die Frau des Waxweiler Tierarztes eine… Dose Bier??? Ich behielt für mich, dass ich kein Bier mochte, aber immerhin sammele ich solche Dosen, die nach was aussehen, und polnisches “VIP” Bier – warum nicht? Unsere polnischen Kollegen am Band sagten mir, es handele sich um eine beliebte Marke. Tags darauf schenkte mir der Tierarzt selbst noch eine Flasche Dornfelder Rotwein. Es kristallisieren sich irgendwann Kunden heraus, zu denen man lieber fährt als zu anderen.

Der Rest der Arbeitstage im Dezember verging nach und nach. Vor der letzten Trierer Fahrt verabschiedete ich mich von den Bandauflegern und wünschte Ihnen alles Gute. Wir warteten gespannt auf den Neustart in Koblenz, “wir” heißt Felix, Bert, Stranski und meine Wenigkeit. Die anderen machten den Umzug nicht mit, und der Engel warnte mich eindringlich:
“Ich hab den Scheiß dort von Anfang an mitgemacht, als die DG Koblenz aufgemacht hat… Koblenz ist das letzte, mach Dich drauf gefasst; ich bin garantiert nicht so bescheuert, mir das nochmal zu geben.”

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