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Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

18. November 2023

Dienstag, 18.11.2003 – Die unendliche Geschichte

Filed under: Japan,Manga/Anime,My Life,Uncategorized — 42317 @ 11:33

Um 0700 sehe ich aus dem Fenster und werde von der Sonne angelacht. Das ist gut so. Der Gewohnheit folgend müsste das Wetter aber ab 0900 schlechter werden, mit Bewölkung und Regen ab 1200…

Melanie hat für mich eine Episode Pokemon aufgezeichnet und ich sehe sie mir beim Frühstück an. Die derzeit laufende Staffel heißt Advanced Generation, und seit der ersten Staffel hat sich am Konzept nichts geändert. Gut, die Zusammensetzung der Reisegruppe von Protagonisten ist anders. Als ich die Show zuletzt in Deutschland angesehen habe, und das schon eher zufällig, war Takeshi („Rocko“) nicht mehr dabei und durch irgendeinen Trottel ersetzt. In der Advanced Staffel ist Takeshi wieder dabei, dafür fehlt Kasumi („Misty“), die nun ihrerseits durch einen mir neuen weiblichen Charakter ersetzt wurde. Oh ja, und Satoshi („Ash“) hat offenbar nach 600 Episoden endlich mal das Hemd gewechselt. Natürlich rennt er immer noch mit seinem Pikachu (Stufe 1294 mindestens) rum. Wie immer erscheint dann Team Rocket, also Musashi und Kôjirô („Jesse“ und „James“), die werden von den Helden in Richtung Mond geschossen und die Reise geht weiter.

Dabei hatte ich in der Mitte der ersten Staffel noch das hoffnungsvolle Gefühl, dass sich eine Art Story entwickeln würde, die dann notwendigerweise auch einmal ein Ende haben müsste… aber da wurde man ja bitter enttäuscht. Mir gefallen die japanischen Stimmen, vor allem Hayashibara Megumi (als Musashi) läuft mir immer wieder schön in den Gehörgang hinein, und auch Matsumoto Rika hört man aus Satoshi immer wieder raus, wenn man „Yûgen Kaisha“ („Phantom Quest Corp.“) mal auf Japanisch gesehen hat. Aber genug davon. Ich langweile mich mit Pokemon ja schon selbst.

Die Brille von Philips ist immer noch kaputt. Nichtsdestotrotz trägt er sie. Brillen müssen in Japan ja ungeheuer teuer sein, dass ein Professor sich nicht innerhalb von zwei Wochen eine neue besorgen kann. Und die Hierarchie des buddhistischen Universums ist mir immer noch nicht klar. Wenn man sich gut benimmt, wird man möglicherweise über kurz oder lang als Gott in einer Art Himmel wiedergeboren. Natürlich ist man auch als Gott sterblich, da laut der Lehre alles vergänglich ist. Aber nach meiner Interpretation des Buddhismus ist das Dasein als Gott auch eine Strafe – die Götter können nämlich nicht zur Erleuchtung gelangen (und darum geht es schließlich im Endeffekt) – und sie leben schrecklich lange. Dementsprechend lange zögert sich ihre Wiedergeburt als Mensch hinaus, und nur als Mensch kann man das Nirvana erreichen. Daher beneiden die Götter die Menschen ja. Und umbringen darf man sich laut „Regelwerk“ auch nicht. Und die Zeit in diesen Himmeln läuft anders. Es gibt die Geschichte von zwei Göttern, die aus dem Himmel heraus die Menschen betrachteten, sich zu weit vorlehnten und von ihrer Wolke fielen. Sie landeten in einer Gebärmutter und wurden als Menschen geboren. Sie lebten dieses Leben, wurden alt und verstarben. Danach kehrten sie in den Himmel zurück und andere Götter fragten sie bei ihrer Ankunft, wo sie denn den halben Nachmittag gewesen seien…
Man muss als Gott also nicht erst der allgemeinen Endlichkeit anheim fallen, man kann auch unter anderen Umständen als nirvanafähiger Mensch geboren werden.

Bevor ich am Nachmittag anfange, meine Post zu schreiben, nehme ich ein Blatt Papier und schreibe Familie Jin einen kurzen Brief, in dem ich ihnen mitteile, dass ich inzwischen per Telefon erreichbar sei. Aber kaum dass ich eine Zeile geschrieben habe, erhalte ich meine erste Chance (seit ich in Hirosaki bin!), mit männlichen Studenten zu reden. Mehr als zwei Sätze am Stück, sollte ich einschränken.
Es sind zwei Studenten, die offenbar als Tutoren arbeiten (= Austauschstudenten betreuen) und deshalb im Center sind. Damit sind es auch die ersten männlichen Tutoren, die ich live zu Gesicht bekomme. Die beiden sind ein ungleiches Gespann. Der rechts neben mir trägt eine Brille und eine weiße Winterjacke und macht einen akademischen Eindruck, er redet auch sehr deutlich, aber nicht so, dass man sich als Japanischlerner gleich übertrieben vorsichtig behandelt vorkommt. Der andere, gegenüber von mir, hat braungefärbte Haare, trägt braune Cordhosen und einen rot-braun gemusterten Strickpullover und redet völlig normal – das heißt: für mein Können eine kleine Spur zu schnell. Ich muss öfters nachfragen. Vor allem spricht er auf eine Art und Weise (und ich mache das am Tonfall fest), die mir den Eindruck vermittelt, dass er vor Langeweile gleich vom Stuhl fällt, sich aber Mühe geben muss, das zu verbergen. Ich finde das nicht berauschend, aber ich will ihm keine böse Absicht unterstellen.

Ob ich schon japanische Freunde („tomodachi“) gefunden habe, wollen sie wissen. Nein, sage ich, weil ich „Freunde“ als Leute definiere, die ich bereits einige Jahre kenne und mit denen ich trotzdem noch gut auskomme. Ich würde es also vorziehen, von „Bekannten“ („shiriai“) zu sprechen. Davon hätte ich bereits neun oder zehn. Und das seien alles Frauen. (Ein neidisches Raunen geht durch den Saal…)
Sie sagen mir, dass Deutschland in Japan vor allem wegen der hervorragenden Sozialleistungen einen guten Ruf habe, aber ich muss dabei doch auf die Einschnitte der vergangenen und der kommenden Jahre aufmerksam machen. Das sei in Japan nicht anders, sagen sie. Die beiden bereiten sich derzeit auch auf ihr Auslandsstudium vor; der Akademiker wird im kommenden Jahr nach Korea gehen, der Gelangweilte geht nach China.

Letzterer muss schließlich zur Arbeit und die Sitzgruppe löst sich auf, ich bleibe mit meinem Postvorhaben zurück. Aber viel ist es ja nicht und ich fahre im Anschluss gleich selbst vorbei, um meinen Brief in den Postkasten zu werfen. Falls ich den finde, ich kann mich nicht an einen solchen erinnern – aber wer sieht sich schon genauer die Haustüren von Leuten an, die man besucht? Bevor ich Gelegenheit habe, mir darüber weiter Gedanken zu machen, als ich auf die Haustür zugehe, öffnet die Großmutter die Tür. Dann kann ich mir auch gleich vorstellen und ihr das Papier persönlich in die Hand drücken. Sie ruft ihre Schwiegertochter die Treppe herunter, weil sie mit mir ja eigentlich nichts anfangen kann, und das bedauere ich sofort: Frau Jin hat sich offenbar vor wenigen Tagen bei einem Unfall den Fuß gebrochen und bewegt sich daher recht umständlich durch das Haus.1 In diesem Monat wird es daher kein Treffen geben (was ich sehr bedauere), aber sie ist fest entschlossen, am Freitag ins Plaza Hotel zu kommen, um die „International Party“ zu besuchen, trotz Krücken, weil alle Studenten etwas zu essen mitbringen, was zu ihrem Land passt. Ich teile ihr mit, dass Melanie einen Nudelsalat machen will, und sie freut sich sehr darauf, ihn zu probieren. Man könnte das schon beinahe als Leistungsdruck bezeichnen…

Am Abend präsentiert Melanie mir die Gasrechnung, die sie im Briefkasten vorgefunden hat: 9000 Yen. Kommt etwa auf 65 bis 70 E raus. Röchel…
Dann hilft nur noch, die Duschzeit von zwanzig auf zehn bis fünfzehn Minuten pro Person und Tag zu verkürzen. Ich bin nicht bereit, diese Kosten hinzunehmen. Das Duschen muss die Hauptquelle dieser Kosten sein, denn so schrecklich viel Gas verbrauchen wir über den Ofen beim Kochen ja wohl nicht…

1 Ich frage mich bis zum heutigen Tag, ob das Schrottauto an der Uni vom 14.11. 2003 nicht vielleicht auf ihr Konto geht?

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