Code Alpha

Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

23. November 2006

Das zweite Ding der Querdenkerei

Filed under: Manga/Anime — 42317 @ 14:01

Von denen, die nich’ so drauf stehen, werden japanische Animationsfilme – im Jargon kurz “Anime” genannt – gern als Kinderkram bezeichnet und in der Ablage P abgelegt. Oder aber man hält die ganze Angelegenheit für zur Pornografie (und damit in die komplett andere Richtung) neigend. Diese Meinung ist jedem zu gönnen, auch wenn sie nicht richtig ist, und (aber) das aus anderen Gründen, wie populär angenommen.
Darum soll’s mir aber gar nicht gehen. 🙂

Trifft der Anime-Unwillige mit seiner Meinung auf einen diskutierfreudigen Anime-Fan, hört man von letzterem oft eine Aufzählung der vielen Genres, die von Anime abgedeckt werden, Genres so zahlreich wie im Live-Action Bereich (= Filme, Serien, etc. mit Schauspielern), so dass für jeden Geschmack etwas zu finden sei, nicht nur für Kinder oder eben für die Freunde der eher animalischen Unterhaltungsmöglichkeiten.
Und zuletzt wird ein Argument besonders gerne angeführt:
Anime sei in Japan eine völlig akzeptierte Form der Unterhaltung, auf die niemand herablassend herabblicke, mal abgesehen von ein paar wenigen Extremfans, die man (herablassend) “Otakus” nennt, weil sie sich mit nichts anderem mehr beschäftigen und keinen Kontakt zur Realität mehr haben. Aber ansonsten sei Anime und das Drumherum in Japan so normal, dass sich niemand was dabei denke, wenn der Kollege sagt, er könne heute nicht mit in die Kneipe, weil er keine Episode der neuesten Gundam-Staffel verpassen wolle (nur, um ein Beispiel zu nennen).

Mit diesem Wissen im Hinterkpf ging ich nach Japan und erlebte den nachhaltigsten Kulturschock, den jemand wie ich sich vorstellen konnte.
Man lernt japanische Studenten kennen, zwangloses Gespräch:
“Was für Musik hörst Du so?”
Ich nannte ein paar Bands von hier und da, was so etwa auf “Von Bach bis Cannibal Corpse ist alles drin” hinauslief, und als ich speziell nach japanischer Musik gefragt wurde, fiel mir als erstes – wer könnte es anders sein – Hayashibara Megumi ein.

Jeder wahre Animefan dieses Planeten kennt sie. Sie ist (innerhalb der genannten Zielgruppe) ein internationaler Superstar der Sprechkunst, sie hat einer langen Liste beliebtester Charaktere ihre Stimme geliehen und zu den entsprechenden Filmen und Serien auch noch viele, viele Soundtracks und Imagesongs geliefert, ganz zu schweigen von der Anime-unabhängigen Handvoll Platten, die sie rausgebracht hat. Man konnte in Japan nicht an ihr vorbeikommen. Dachte ich jedenfalls.

Dem entgegen sah mich mein Gegenüber verwirrt an und fragte: “Äh, wer ist das?”
Ich war platt wie ein Blatt Papier auf dem Fußboden des Flohmarktes einer Anime Convention. Ich erklärte mich also, dass es sich um eine Sängerin und um eine Seiyû (Synchronsprecherin) handele, die im Animebereich tätig sei. Das ratlose Gesicht meines Gegenübers wechselte von Verwirrung zu belustigtem Erstaunen:
“Eine Synchronsprecherin? Meinst Du das ernst?”
Aus allen Wolken gefallen fiel mir nicht mehr viel zum Thema ein und wir wechselten bald. Er hatte wohl mehr mit Antworten wie Morning Musume, SMAP oder TOKIO gerechnet, wäre vielleicht noch angenehm überrascht gewesen, hätte ich Orange Range, The Boom oder Dreams come true genannt…

Zur zumindest oberflächlichen Überprüfung der Umstände habe ich auch später noch mit anderen Leuten das Thema angeschnitten und bekam immer ganz ähnliche, meist auffallend diplomatische, Antworten. Ich stelle also fest: Ich will den Leuten, mit denen ich mein Interesse an Anime teile, ungern in den Rücken fallen, aber das Argument, Anime sei in Japan ein anerkanntes und gleichberechtigtes Medium, ist unhaltbar und hinfällig. Ich habe sogar den Verdacht, dass der durchschnittliche Animefan – oder auch Leser von Manga (japanischen Comics) – weitaus tiefer in der japanischen öffentlichen Meinung steht, als dies bei dem durchschnittlichen Leser von Donald Duck Taschenbüchern im Westen der Fall ist.

Die allgemeine Meinung zum Thema scheint mir hier wie dort gleich zu sein, mit Abweichungen in Details vielleicht. Ja, Anime läuft in Japan im Vorabendprogramm im so genannten Free-TV, sagt der Fan (wenn er genug Ahnung hat) – aber das ist kein Argument mehr, weil: ist auch bei uns der Fall. Ich habe die Entwicklung wohl ein bisschen aus den Augen verloren, aber ich erinnere mich, dass vor einigen Jahren DragonBall um 19:30 Uhr gelaufen ist.

Der kleine (?) Detailunterschied: Die Vorabendserien in Japan sind das Hauptprogramm (in Bezug auf Anime), während das Hauptprogramm in Deutschland am Nachmittag zu finden ist und Vorabend-Anime hierzulande scheinbar Ausnahmefälle sind. Bei DragonBall muss es an den ständigen Prügeleien gelegen haben. Die Darstellung von SonGokus nacktem Hintern kann es nicht gewesen sein, weil ich mich nicht erinnern kann, dass man wegen solcher Dinge Wicki oder Ronja Räubertochter zu späterer Stunde gezeigt hätte.
Anders ist auch, dass das Äquivalent der deutschen Öffentlich-Rechtlichen Sender in Japan eben Anime im Vorabendprogramm haben und man nach Mitternacht immer wieder mal Serien im Programm findet, die nicht ganz jugendfrei sind (echt animalisches Material gibt’s allerdings nur im Pay-TV), während derlei Dinge in Deutschland die Angelegenheit der Privatfernsehens zu sein scheinen (mit der Einschränkung, dass besorgte Animefans vor Jahren die Übertragung nicht jugendfreier Serien unter Klageandrohung abgewendet haben, um dem eh fragilen Image des Anime nicht noch Schaden zukommen zu lassen, worauf nur eher comedylastige Episoden einer Anime-Erotikserie gezeigt wurden).

Querdenkerei

Filed under: Japan — 42317 @ 12:57

Viele Dinge sind oft nicht so, wie sie scheinen oder dargestellt werden. Das weiß natürlich jeder, aber es gibt da zwei kleine, deutsch-japanische Dinge, wo ich es auffällig fand.

Da wäre zum ersten das entgegengesetzte Reformdenken, was Schulen betrifft. Wir haben es alle gemerkt: An deutschen Schulen hat sich der Unterricht in den Nachmittag hinein verlagert, wo vor langer, langer Zeit noch um 13:00 Uhr Feierabend war. Das Gespenst der Ganztagsschule schwebte durch den Klassenraum und die Damen und Herren Schüler fürchteten sich.
Dabei ist der Grundgedanke ein ganz vernünftiger. Unter sinnvoller Anleitung ist der Schüler beschäftigt und langweilt sich nicht. Wir wissen auch alle: Wer sich langweilt, macht irgendwelchen Unsinn, und wenn es nur unproduktive Dinge wie das Betrachten von Talkshows im Fernsehen sind. Da kam wohl jemand auf den Gedanken, dass man als Schüler hierzulande mehr Zeit hat, als einem gut tut. Mit dem jahrelangen Abstand, den ich gewonnen habe, finde ich das auch recht zutreffend.

Japan wurde als Gegenbeispiel betrachtet. Vielleicht dachte man, dass andere Systeme nicht die beste Alternative seien. Also Japan. Den ganzen Tag Schule, die Kinder unter Aufsicht, da herrscht Dsziplin; und dann diese traumhaft niedrige Drogen- und Kriminalitätsrate in Japan… offenbar sahen Franzosen und Briten im Vergleich da arm aus. (Aber natürlich ist das nur meine derzeitige Interpretation.) Ganztagsunterricht ist allerdings auch in Japan nicht auf die Art die Regel, wie sich das so mancher im Positiven oder im Negativen denkt. Der Nachmittag gehört nämlich den Clubs, in die man in hübscher Regelmäßigkeit mit sanftem sozialem Druck hineingebeten wird. Den Elite-Matheleistungskurs für die Prüfung an der Tôdai muss man sich also nicht um drei Uhr nachmittags denken. (Den haben Elite-Tôdai-Möchtegerns am Abend auf freiwilliger Basis in einer der vielen Nachhilfeschulen.)

Egal – auf der anderen Seite der Welt fasste man einen komplett entgegengesetzten Gedanken: Das Gespenst der Zwangsjackengesellschaft schwebte durch die Räumlichkeiten des Bildungsministeriums und sogar die höheren Beamten fürchteten sich. Vor der Presse. Wir haben es nicht zuletzt der japanischen Berichterstattung zu verdanken, dass in aller Welt der Eindruck entsteht, dass sich jeden Tag eine Handvoll japanischer Schüler wegen Leistungsdrucks, Hänseleien, Mobbing und Unterdrückung durch Mitschüler (jap.: Ijime) an einen Baum hängen. Minako zeigt mir erst letztlich einen Zeitungsbericht, in dem der Brief einer Schülerin (an das Bildungsministerium) abgedruckt war, in dem sie (aus oben genannten Gründen) ihren Selbstmord ankündigte. Offenbar nur ein Brief einer ganzen Reihe – siehe dazu www.japantimes.co.jp (in englischer Sprache, kostenlose Anmeldung erforderlich) am 08. November, am 11. November und am 22. November 2006.

Wie dem auch sei, drüben dachte man sich ebenfalls, dass die bestehenden Umstände die falschen seien und sah sich nach Alternativen um. Deutschland wurde als Gegenbeispiel betrachtet. Gut, vielleicht nicht direkt Deutschland, aber man fasste den Plan, den Schülern mehr Freizeit zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit zu geben und kürzte die Lehrpläne.
Was tut der japanische Schüler zur Entfaltung seiner Persönlichkeit? Dazu fehlen mir Informationen. Aus eigener Erfahrung weiß ich jedenfalls, dass der Nachmittag immer noch für Clubaktivitäten genutzt wird (ich habe das Schulorchester immer noch im Ohr, wie es den “March of the US Marine Corps” spielt… “From the halls of Montezuma to the shores of Tripolis…”), und dass die Berichte von Selbstmorden wegen des Ijime-Problems nicht abreißen. Das heißt wohl, dass die Frustrate immer noch recht hoch sein muss. Meiner Erfahrung nach tritt man auch nur dann Mitschülern ins Kreuz, wenn man mit dem eigenen Status Quo nicht im Reinen ist und deshalb Dampf ablassen muss.