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Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

30. Juni 2014

Die Fracht am Rhein (Teil 4)

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Weiterer Exkurs über nennenswerte Persönlichkeiten an meinem Arbeitsplatz:

Big – der hat einen hundsgewöhnlichen deutschen Familiennamen, und den hat er, weil er als Dreizehnjähriger aus Thailand heraus nach Deutschland adoptiert wurde, von einem Ehepaar, bei dem die Frau thailändischer Herkunft ist, und abgelegt hat er die thailändische Staatsangehörigkeit auch nicht. Er wird allgemein Big genannt, weil sein Vorname für deutsche Ohren doch sehr exotisch ist und weil er als Kind einer der größten in seiner Grundschule war, aber der Effekt hat nicht angehalten… er dürfte so um die einssechzig sein.

Ich traf ihn Ende Frühjahr 2013, als man ihn zu mir ins Auto setzte, damit er die Tour Trier West übernehmen konnte, die ich zu dem Zeitpunkt für ein paar Wochen gefahren hatte. Er hatte bereits zuvor für das Unternehmen gearbeitet, war aber derzeit arbeitslos und JP Transporte erschien ihm wohl besser als gar nichts.
Big ist fünf oder sechs Jahre jünger als ich, also über 30, was ihn zu der Behauptung veranlasst, er sei schon alt. Er hat Witz, Herz und Verstand; einfach zu behaupten, er würde mangelnde Körpergröße durch ein freches Mundwerk ausgleichen, ist zu kurz gegriffen.

Trier West ist eine gute Tour, ich schaffte sie bis etwa um Vier und war ganz zufrieden damit, weil ich zu dem Zeitpunkt noch in Trier wohnte. Aber es sollte nur ein Zwischenspiel sein, da es Peter und Rama darauf ankam, meine Ortskenntnis auszuweiten. Schön und gut – Big tauchte auf, fuhr einen Tag mit und sagte, dass er mit dem Arbeitsaufwand fertig werde. Gleich am Folgetag wies man ihn an, die Tour allein zu fahren und ich wurde auf eine andere Tour gesetzt. Big war fix – nach ein paar Tagen schaffte er die Tour bis um zwei Uhr und war zwischen Drei und halb Vier zuhause in Bendorf.

Als kurze Zeit danach mein Umzug nach Koblenz anstand, machte er nicht viele Worte, sondern half mir bereitwillig, indem er nicht nur beim Kistenschleppen half, sondern er lieh mir auch Werkzeug und begleitete mich beim Einkaufen. Ich hatte nämlich keine Ahnung, was ich zum Beispiel zur Installation einer Küchenspüle alles brauchte.
Leider fand der Einkaufsbummel durch verschiedene Koblenzer Baumärkte nach einer durchzechten Freitag Nacht statt und mein Helfer war noch nicht ganz da – was zur Folge hatte, dass er mir die falschen Zubehörteile empfahl. Die Abflussrohre waren für einen Spülmaschinenanschluss und die Flexleitungen waren für Unterdruckwasserspeicher (den Boiler unter der Spüle) ungeeignet, ich musste das darauffolgende Wochenende also opfern, um die Teile umzutauschen.

Im Folgemonat musste er selbst umziehen und ich meldete mich natürlich freiwillig. Etwa am Jahresanfang war sein Vater gestorben und er wollte seine Mutter besser unterstützen können, außerdem wollte er Geld sparen, indem er wieder im Hotel Mama wohnte. Das Geld brauchte er für sein Projekt “Fernstudium”.
Sein eigener Umzug offenbarte allerdings auch seine chaotische Natur. Denn aus dem kurzen Gespräch, das wir im Vorfeld führten, hatte ich schlussfolgert, dass wir Kartons von der aktuellen in die neue Wohnung fahren und vielleicht noch saubermachen würden. Weit gefehlt. In seinem Apartment war so gut wie nichts vorbereitet, zwei oder drei Kartons waren mit irgendwelchem Zeug vollgestopft, hier Sachen aus dem Bad, da Sachen aus der Küche, dort dies und das aus dem Wohnzimmer, und die Kisten waren echt “gestopft”, also einfach so gefüllt, ohne darauf zu achten, dass die Dinger auch stapelbar sein sollten. Mangels kurzfristiger Alternativen trat ich ihm die Hälfte meiner im Keller gelagerten Umzugskartons ab. Er versprach zwar, sie bald zurückzugeben, aber von dem Gedanken verabschiedete ich mich ziemlich schnell. Der Rest seiner Wohnungseinrichtung befand sich noch an Ort und Stelle und die Küche war ein unhygienisches Pandämonium junggeselliger Ignoranz.

Wir ackerten den ganzen Nachmittag bis in den Abend, und der einzige weitere Helfer war ein etwa zwölfjähriger Junge aus der Nachbarschaft. Wir packten den Sprinter voll und fuhren die paar Kilometer zum Haus seiner Mutter, wo wir die Kisten je nach Bedarf in sein Zimmer und größtenteils in den Keller stellten.
Ich war beim Anblick des Wohnhauses doch erschreckt, denn ich hatte irgendwie eine Bleibe erwartet, wie man sie sich zum Beispiel als Facharbeiter oder angestellter Handwerker leisten kann, ich weiß nicht mehr, wie ich darauf kam. Stattdessen fand ich einen ziemlich heruntergekommenen Altbau vor. Das Haus ist nach meiner Schätzung mindestens 150 Jahre alt und braucht dringend eine Renovierung. Wärmedämmung ist nicht existent, der Dachstuhl macht einen bedenklichen Eindruck und in dem Zimmer, in das Big einzog, bedeckte Schimmel die Außenwand. Allein schon das enge Zimmer, das wohl als Kombination von Küche, Ess- und Wohnzimmer dient, machte eine deutliche Aussage: Hier wohnen arme Leute.
Wir saßen an dem Abend noch kurz zusammen und unterhielten uns über dies und das, auch darüber, wie schlecht geplant sein Umzug war, und er sagte zu mir:
“Ich versteh das nicht: Ich kenn soviele Leute, und von denen ist keiner hier. Dich kenn ich erst seit ein paar Wochen und Du hilfst mir beim Umzug.”
“Du hast mir ja auch sofort geholfen,” antwortete ich, “und ich bin so einer, der das einfach so macht… ich kann ja auch nicht erwarten, dass man mir mal hilft, wenn ich es nicht vormache.”
Wir schlussfolgern: Party- und Facebookkontakte sind nicht das Wahre, wenn es um die mühsameren Aspekte des Lebens geht.

Am Tag darauf half sogar meine Liebste noch beim Räumen und Wischen, aber letztendlich musste Big beim Vermieter um eine Verlängerung des Übergabetermins bitten.

Das Glück der schnellen Trierer Tour hielt nicht lange. Im Laufe des Jahres kam es zu einer strategischen Umstellung der Touren und Peter gab ein paar seiner Touren an JP Transporte zurück. Ich weiß bis heute nicht, was ihn geritten hat, aber ein Teil der Umstellung bestand darin, dass er Big an die abgetretene Morbacher Tour abgab und dafür einen alterfahrenen Fahrer vom Tourenfürsten erhielt – einen Typen über Fünfzig mit großer Klappe und wenig Substanz, der immerhin ab und zu mal ganz witzig sein konnte. Ich nenne ihn Babylon Ben. Warum schweife ich so ab? Nun, Babylon Ben hatte bekanntermaßen Probleme mit dem Rücken und bereits Schrauben in der Wirbelsäule, und bekannt als “fauler Hund” war er auch. Wie also Peter einen jungen, motivierten Fahrer gegen einen alten, weitgehend verbrauchten eintauschen konnte, entzieht sich mir völlig.
Big war wohl auf Morbach gesetzt worden, weil er einen guten Ruf als schneller Fahrer hat und die Morbacher Tour ist (oder war zu jener Zeit) riesig. Bigs Arbeitszeit verlängerte sich auf einen Schlag um drei Stunden (pro Tag, versteht sich), und daran änderte sich auch nichts, aller seiner Erfahrung und Fixheit zum Trotz. Nicht nur, dass die Arbeitszeiten ungesetzlich und unmenschlich waren – die Einsicht, dass die Dauer der täglichen Tour entgegen der Meinung des Managements nicht am Fahrer, sondern an den Beschaffenheiten der Tour und den wachsenden Frachtzahlen lag, dass also dringend geboten war, dauerhaft eine Entlastungstour einzusetzen, setzte sich erst nach Monaten und damit viel zu spät durch.

Big wollte sein Fernstudium durchziehen und stellte fest, dass er keine Zeit mehr dafür hatte. Um Vier nach Hause zu kommen ging ja noch, aber um Sieben? Wie sollte er da noch irgendwas lernen? Er versuchte es dennoch und ging später schlafen, er schlief oft nur vier Stunden pro Nacht und kam immer häufiger zu spät, von einer Erosion seiner sonst unverwüstlich guten Laune ganz zu schweigen.
Er fasste den festen Vorsatz, zu kündigen, wollte aber erst eine andere Stelle haben. Eine Leiharbeitsfirma machte ihm da Hoffnungen, er zählte schon die verbliebenen Tage herunter, und er versprach sogar mir, mich aus dem Laden herauszuholen. Allerdings erfüllte sich diese Hoffnung nicht, die Leiharbeitsfirma meldete sich nicht bis zum vereinbarten Zeitpunkt, also hatte man wohl einen geeigneteren Bewerber gefunden. Das Trauerspiel zog sich in Folge also noch über Wochen hin und Big führte heimlich Verhandlungen mit der Firma der Koblenzer Fahrer – das klappte dann irgendwann Ende Winter und Big wechselte auf die andere Seite des Paketbands, wo seine Tour bedeutend näher an seinem Wohnort lag und beherrschbarer war als Morbach.
“Herzlichen Glückwunsch,” sagte ich zu Peter, “Big ist ein guter Fahrer und Ihr habt ihn verheizt.”
“Was hätt’ ich denn machen sollen???” fragte er zurück.
Die Antwort war symptomatisch dafür, wie es in der Firma lief.

Milli ist ja bereits bekannt aus den Geschichten vom Anfang, aus Trier. Sie war mit nach Koblenz gegangen, aber ich weiß nicht, ob sie ernsthaft langfristig bleiben wollte oder ob sie nur vermeiden wollte, die Zeit bis zu einem geeigneteren Job arbeitslos verbringen zu müssen.
Die alten Trierer Fahrer wandten sich zuerst an sie, wenn sie Fragen oder andere Anliegen hatten, nicht allein, weil wir sie kannten, sondern auch, weil die Umgangsformen in der Koblenzer Ablaufkontrolle (AK) andere waren als in Trier. Es könnte durchaus sein, dass es nicht zuletzt diese Umgangsformen waren, die Milli binnen weniger Wochen davon überzeugten, dass sie hier nicht bleiben wollte (sofern sie, was ja ebenfalls sein könnte, nicht sowieso nur einen begrenzten Zeitraum zu bleiben gedachte). Nach drei Monaten verabschiedete sie sich und ward nie mehr gesehen.

Wie ist das denn nun mit den Koblenzer Umgangsformen? Mancher Leser wird sich daran erinnern, dass die AK in Trier sehr jung war: Von Lilly, Milli, Laubschi, Octavia und Antonius war niemand älter als 23. Der gegenseitige Umgang war kameradschaftlich bis freundschaftlich, man nannte sich ganz selbstverständlich beim Vornamen, und ich zumindest hatte immer das Gefühl, mich unter Gleichen zu bewegen. In Koblenz war das so radikal anders, dass die Umstellung von einem Tag auf den anderen wie ein Schock wirkte.
Abgesehen von Milli bestand die Koblenzer AK aus drei weiteren Damen: Frau Nachtwächter, Frau Bock und Frau Kanter. Letztere war wohl etwa Mitte 20, die anderen beiden dürften zu dem Zeitpunkt knapp unter, bzw. Mitte 50 gewesen sein, und es waren die beiden älteren Damen, die einen spüren ließen, dass nicht der Geist, sondern allein das System zählte (um es mal mit Remarque zu halten): Die Beantwortung einfachster Ja/Nein Fragen (z.B. “Ist das Paket, das ich noch suchen muss, Neuware oder Altware?”) wurde einem in herrischem Tonfall verweigert, wenn die beiden gerade mit egal was beschäftigt waren.

Ich machte es mir schon bald zur Gewohnheit, die älteren zu ignorieren und wandte mich wann immer es möglich war, an Frau Kanter, die weniger launisch und einer höflichen Anfrage gegenüber bedeutend offener war. Die geradezu unbeherrscht zu nennende Tonart von Frau Bock war fast sprichwörtlich (sofern sie nicht ausnahmsweise einen guten Tag hatte) und machte auch vor telefonischen Kundenanfragen nicht Halt. Ich war selbst dabei, als sie einen Anrufer unwirsch aufforderte: “Jetzt schalten Sie mal die Sprechanlage ab und nehmen bitte den Hörer in die Hand! Ich verstehe Sie nicht, hier ist Betrieb!”
Ja, die Umstände sprachen für sie, denn zur Zeit der Fahrerabfertigung ist es da vorn nicht gerade leise und eine Sprechanlage fordert dem Nutzer wegen der Entfernung zum Mikrofon durchaus mehr Lautstärke ab – aber man kann sich doch wohl auch höflich ausdrücken!? Felix stand neben mir und hörte der Konversation fassungslos mit offenem Mund zu, und ich selbst konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, eingedenk der Tatsache, dass wir Fahrer sowohl in unseren schriftlichen Anweisungen als auch mittels eines kleinen Bildschirms vor der AK ständig darauf hingewiesen werden, dass wir dem Kunden “höflich, zuvorkommend und kompetent” gegenüberzutreten haben. Für die Büroarbeiter gilt das scheinbar nicht.

In Koblenz hatte ich nie auch nur den Anflug des Gefühls, ich bewege mich unter Gleichen. Die AK waren die da oben, und die Fahrer, das waren wir da unten. Daran wurde nie ein Zweifel gelassen. Ich kam daher nie auf die Idee, dort irgendjemanden mit Vornamen anzusprechen oder im Gegenzug etwas solches für meine Person zuzulassen. Ich sprach mit Frau Kanter darüber, weil sie mich mal beim Vornamen und mal beim Nachnamen ansprach, und bot an, sie könne mich ruhig beim Vornamen nennen, aber sie wechselte weiter unschlüssig hin und her, also schienen mir weitere Klärungsversuche Zeitverschwendung zu sein.
Genausowenig wäre ich je auf die Idee gekommen, anders als in Trier, mal Snacks mitzubringen. In Trier hatte ich zweimal o-Nigiri mitgebracht (Reisbällchen mit Thunfisch-Mayo-Füllung), einmal zu meinem Geburtstag und einmal zu meinem einjährigen Jubiläum. Hätte mich in Koblenz jemand darauf angesprochen, hätte ich ihm einen Vogel gezeigt.
Jetzt könnte man einwerfen, dass man ja unter den Fahrern, wo mehr Kameradschaft herrschte, solche Sitten hätte fortführen können, aber man kann meinen bisherigen Beschreibungen ja entnehmen, dass die Arbeitsbelastung das gar nicht mehr zuließ, es gab ja nur noch Arbeiten und Schlafen. Damit hängt zusammen, dass ich nicht zu allen Kollegen Zugang fand. In Trier kamen die meisten eine halbe Stunde vor Bandstart zur Arbeit. Man hatte also Zeit für einen kurzen Plausch, konnte sich gegenseitig abklopfen und ein bisschen kennen (und schätzen) lernen. In Koblenz war Bandstart ja bereits um 0500, also 30 min früher als in Trier, und da kam niemand (außer mir und zwei oder drei anderen, die in der Umgebung wohnten) freiwillig noch eine halbe Stunde früher. Die meisten Fahrer trafen um etwa Fünf ein, dann begann das Laden – wann hätte man sich da kennen lernen sollen? Die einzige freie Zeit, die blieb, waren die paar Minuten, die man wartend vor dem VL verbrachte, bis man seine abgeholten Pakete reinbringen konnte, das war’s. Bis ich in Koblenz Leute so gut kannte, dass ich wusste, ob ich mich mit ihnen verstand, verging ein knappes Jahr. Ich hätte beim Verteilen von Snacks also sehr selektiv sein müssen, und das wollte ich nicht. Entweder für alle oder für keinen. Die allmähliche Zerschlagung meiner Motivation, durch die Vielzahl der bis dato genannten Umstände, sorgte dafür, dass ich mich für letzteres entschied.