Code Alpha

Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

8. Januar 2024

Donnerstag, 08.01.2004 – Der Ofen ist aus

Filed under: Japan,Manga/Anime,My Life — 42317 @ 7:00

Und wieder hat es über Nacht geschneit. Und es schneit am Morgen auch gleich weiter. Die Sichtweite beträgt, großzügig geschätzt, etwa 100 Meter. Ich schreibe heute zwei Berichte, weil am 14. und 15. Dezember nicht schrecklich viel los war, und die Einträge für den 16. und 17. Dezember dürften, wenn überhaupt, nicht viel länger werden. Ich gehe auch noch mal ins Center, um die Umschläge der Bücher einzuscannen, die ich verkaufen will. Darunter befindet sich ein Dôjinshi der Animeserie „Tsukihime“, mit dem eindeutig deutschen Titel „Freude“. Auf dem Cover werden ein paar Zeilen aus der „Ode an die Freude“ zitiert. Allein deswegen habe ich den Band gekauft. Erst nachher war mir klar geworden, dass das eine Dummheit gewesen sein dürfte, weil in Deutschland niemand jemals etwas von Tsukihime gehört haben dürfte. Ich hatte es auch nicht, bis ich im „Mandarake“ in Tokyo ein Poster zu Gesicht bekommen hatte, vor drei Wochen etwa. Das mir natürlich nichts über den Inhalt verraten hat. Aber die deutsche Aufschrift auf dem Cover war eben auffällig, und das Cover sah auch sehr dezent aus. Der Inhalt war weniger dezent und sah aus, als würde es sich um eine Reihe von Bleistiftskizzen handeln. Also weg damit… Aber die „Ode an die Freude“ auf einem Hentai Manga anzubringen empfinde sogar ich als pure Blasphemie.

Misi ist natürlich auch an diesem Tag nicht weit und erkundigt sich bei mir, wie E-Bay denn so funktioniere. Ich erkläre es ihm und er ist interessiert. Er sagt, dass es jedoch keine ungarische „Abteilung“ von E-Bay gebe, und ich habe keine Ahnung, wie man es in diesem Fall anstellt, irgendetwas per E-Bay nach Ungarn zu verkaufen. Erst einige Stunden später komme ich auf den Gedanken, dass er ja mit E-Bay.com international handeln kann. Es ist ja vollkommen egal, wohin man sein Zeug verkauft, Hauptsache, man verdient Geld damit und gerät nicht aufgrund von irgendwelchen Zollgesetzen in Schwierigkeiten. Ich glaube auch, dass man zumindest als Verkäufer kein Plastikgeld haben muss. Ich werde das auch im eigenen Interesse mal prüfen.

Zurück in der Bibliothek meldet mir das System, dass ich noch 82 Seiten Papier ausdrucken könne und dass mein Nutzerprofil mit 1,28 Gigabyte zu groß sei – ich solle mich bitte auf 300 MB beschränken. Ja, das ist kein Problem, ich kann meine Musik auch von der CD runter anhören. Also lösche ich die Musik und lande so bei knapp 100 MB, was eigentlich nur meine Worddateien und der WinAmp Player ist, hinzu kommen noch ein paar Bilder, aber das ist alles.

Während des ganzen Tages schneit es munter weiter, bis auf ein paar wenige Momente, in denen die Wolken offenbar kurz Luft holen, bevor sie die nächste kalte Ladung rauspusten. Bis zum Abend liegen 20 cm Neuschnee in der Landschaft herum. Melanie freut sich natürlich über den Schnee, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass er den Weg nach und von zu Hause gefährlich macht. Auf der Hauptstraße hat sich ein Eispanzer von 2 cm Dicke gebildet, knochenharter, festgefahrener und spiegelglatter Schnee.

Am Abend sehen wir uns eine weitere der in diesen Tagen startenden Serien an. Hier geht es um eine junge und natürlich reichlich unkonventionelle Anwältin, die von den Ryûkyû Inseln (Okinawa und dergleichen) nach Tokyo kommt, um das Erbe ihres Vaters anzutreten. Hm, aber was heißt jung… dem Aussehen nach zu urteilen dürfte die gute Frau schon ein Stück über Dreißig sein, und wenn sie dem japanischen Durchschnitt folgt, dann ist sie noch einmal knapp zehn Jahre älter als sie aussieht.[1] Eine der Hauptrollen ist ein Richter, der wohl ein Freund ihres Vaters war. Itô Shirô heißt der Schauspieler, und er hat bereits in der Serie „Taiho shichau zo!“ („You’re under Arrest“) den Chef des Polizeireviers Bokutô gespielt. Wie es scheint, ist seine Rolle hier ganz ähnlich, vielleicht ein bisschen weniger trottelig. Ich werde die Serie weiterhin ansehen. Sie scheint nicht schlecht zu sein, und etwas juristisches Vokabular kann ja nicht schaden. Wenn jemand einer Brutalität meinerseits zum „Higaisha“[2] fällt, dann bin ich ein „Hannin[3]. Wenn ich mich erwischen lasse, brauche ich einen „Bengoshi[4], der aber nicht viel machen kann, wenn es einen „Shônin“[5] gibt.

Kurz nach zehn kommt SangSu vorbei und teilt uns mit, dass es wegen Jûs Umzug eine kleine Feier geben werde. Ah ja, Jû verlässt uns hier ebenfalls in den Shimoda Heights II und zieht in ein kleineres (und daher billigeres) Apartment in den Shimoda Heights I, wo ja auch Misi, Paula, Irena, Valerie, Mei und BiRei wohnen. So sei es denn. Allerdings habe ich bei dem mehr oder minder chaotischen Wortschwall, den SangSu da ablässt, den Verdacht, dass er uns gleich bitten möchte, diese Feierlichkeit bei uns abhalten zu können. Warum auch immer, aber Melanie vermutet das gleiche, bis er dann damit rausrückt, dass die Party bei ihm stattfinden wird. Seine seltsame Argumentation kommt daher, dass er der Meinung ist, dass es bei ihm zu kalt sein dürfte, weil seine Heizung nicht funktioniere. Sie gehe aus und an, wie es dem Gerät beliebe.

Ich sehe mir den Ofen an, und Melanie begleitet uns. Es handelt sich um das gleiche Modell wie unserer, und stelle zuerst fest, dass das Ding auf Styroporblocks gelagert ist. Das heißt, dass bei der leisesten Bewegung sofort der Erdbebenfühler des Geräts reagiert und den Ofen abschaltet. Aber man kann den Ofen auch nicht einfach von den Blöcken herunterheben, weil das Verbindungsrohr, das die Abgase vom Ofen in den Kamin führt, dann nicht lang genug ist! Welcher Idiot hat denn das verbrochen? Des weiteren ist das Thermometer des Ofens kaputt. Es zeigt eine konstante Temperatur von 9 Grad Celsius an, auch als der Raum bereits auf schätzungsweise 25 Grad aufgewärmt ist. Man muss den Ofen also manuell bedienen. „Dauerheizen“ drücken, bis es warm genug ist und abschalten, bis es wieder kühl wird.

Und weil SangSu ein unterhaltsamer (und wohl anhänglicher) Mensch ist, zeigt er uns noch eine Reihe von zum Teil eingescannten Familien- und Privatfotos seit Anfang der Achtziger Jahre, inklusive der Fotos, die er während seines Wehrdienstes gemacht hat. Gegen Mitternacht treibt es mich dann allerdings doch so langsam ins Bett und wir verabschieden uns. Bevor ich allerdings in sanften Schlummer versinken kann, muss ich noch meine Kanjiliste für den nächsten Test fertig schreiben.


[1]            Die Darstellerin Takashima Reiko ist Jahrgang 1964, also 40 Jahre alt zum Zeitpunkt der Veröffentlichung.

[2]            Opfer

[3]            Täter

[4]            Verteidiger

[5]            Zeugen

31. Dezember 2023

Sonntag, 28.12.2003 – Der letzte Tag

Filed under: Filme,Japan,My Life — 42317 @ 15:25

Heute verbringen wir unseren letzten Tag in der japanischen Hauptstadt. Wir stehen um 11:00 auf und packen zuerst die Koffer. Wir wollen sie am Busbahnhof Hamamatsu-cho in ein Schließfach sperren, um für den Tag „freie Hand“ zu haben, im wahrsten Sinne des Wortes. Da ich die ganze Woche über nicht dazu gekommen bin, will ich den strahlend schönen Mittag ausnutzen, um endlich das „Emily“ Flugboot gegenüber vom Wohnheim aus naher Entfernung zu fotografieren. Ich gehe also zu dem Gelände hinüber. Aber heute steht da ein Wachmann, der mich abweist: „Heute ist Ruhetag.“ Die Außenanlagen seien doch frei zugänglich, und ich wolle ja nur drei oder vier Bilder von dem Flugboot machen, nicht mehr. Nein, heute geht das nicht. Aber heute sei mein letzter Tag in Tokyo und ich wisse nicht, wann ich die nächste Gelegenheit hätte. Nein, da könne ja jeder kommen. Du &$%*@?#&#%$! www.gotohell.com/ und kauf dir ne Mütze…
Bleibt also zu hoffen, dass ich im Sommer tatsächlich noch einmal herkommen kann. Obwohl ich nicht darauf wetten würde… ich will auch noch was anderes vom Land sehen.

Wir fahren zum Bahnhof, um unsere Koffer abzustellen, und von dort aus nach Harajuku. Der „Sage“ nach ist Harajuku der Versammlungsort für Cosplayer schlechthin, und warum sollte ich nicht einen Blick darauf werfen, wenn ich schon hinfahre? „Cosplayer“ sind Leute, die sich ein Kostüm selber basteln, das sie in einem Manga oder Anime gesehen haben. Und weil immer die Vielfalt der dargestellten Kostüme hervorgehoben worden war, hatte sich in meinem Kopf das Bild einer Straße von mindestens 200 Metern Länge, wenn nicht mehr, geformt, in der diese meist jungen Leute sich aufhalten würden. Stattdessen präsentiert uns Ronald eine eher unscheinbare, steinerne Bogenbrücke von allerhöchstens 40 Metern Länge, auf der ich knapp zehn junge Menschen beiderlei Geschlechts in Kostümen sehe. Das da ist alles? Das ist, wovon alle reden? Diese kleine Brücke?? Und deswegen macht die halbe Welt der mir mehr oder minder persönlich bekannten Tokyobesucher so einen Aufriss?
Okay, halt, Einschränkung: Es ist immerhin Winter. Und da die Jungs und Mädchen keine Hirosaki-Winter gewohnt sind (Tokyo ist nicht mehr weit von der subtropischen Zone), muss ich annehmen, dass denen zu kühl ist, um sich in ein Kostüm zu werfen, das nicht darauf ausgelegt ist, wintertauglich zu sein. Aber dennoch finde ich es ein wenig lächerlich dafür, dass so viel Wind um diesen Ort gemacht wird. Auch in den westlichen Medien, in denen schon von einer „Meile“ gesprochen worden ist, wo die Jugendlichen den angeblichen Alltagsuniformismus mal ausklammern könnten und würden. Vielleicht tun sie das ja, aber wenn da mehr als fünfzig gleichzeitig auftauchen, wird’s eng.

Aber: Was soll’s? Die Cosplayer zu sehen war ja nur als Nebenattraktion geplant. Denn hinter der besagten Brücke befindet sich gleich der Eingang zum Meiji-Schrein. Einer der bedeutendsten Kulturschätze Japans. Hinter dem Tor muss man erst einmal einer Straße folgen, und man hat den Eindruck, man geht durch einen Wald. Ein grüner Fleck im Asphaltdschungel. Die Stadt ist völlig ausgeschaltet. Sieht man von einigen Stellen ab, wo man ein Hochhaus durch das Blattwerk erspähen kann oder von sporadischen Lautsprecherdurchsagen, die aus den Bäumen herausschallen. Ich schätze, dass die Straße etwas mehr als einen Kilometer lang ist, bis man an den Schrein gelangt, und ich muss sagen: Die hölzerne Tempelanlage ist recht beeindruckend. Tore und Gänge und Höfe. Und natürlich Verkaufsstände, wo man Talismane kaufen kann. Vor dem Heiligtum die obligatorischen Holzkisten, in die man Spendengelder werfen soll. Ich habe noch nie im Leben eine so große Sammlung von 1 Yen und 5 Yen Münzen gesehen. Ich erinnere daran, dass 1 Yen etwa 0,75 europäische Cent sind.

Mit dem Verkauf von Glücksbringern wird wahrscheinlich mehr Geld gemacht, und die haben auffällige Preise – aber immerhin handelt es sich hier um den Meiji-Schrein. Fast so gut wie Ise. Der Schrein von Ise ist, nach meinem aktuellen Verständnis, das Äquivalent zum Petersdom in Rom, was seine Bedeutung für die japanische Shinto-Religion betrifft. Und es gibt hier Glücksbringer für alles notwendige, also für Gesundheit, für Reisen… und für Schulprüfungen??? Ja, ich habe davon gehört, aber so richtig glauben kann ich das erst jetzt. Haben denn christliche Schüler einen besonderen Schutzpatron, der sie durch Prüfungen bringen soll? Melanie kauft einige Exemplare als Geschenke für Freunde und Familienmitglieder, und auch etwas für den „Eigengebrauch“. Da ich an solche Dinge nicht glaube, habe ich auch meine Bedenken, wenn es darum geht, so was zu verschenken. Für mich ist es nur ein hübsches Stück Stoff, in das ein Schriftzug eingearbeitet wurde.

Wir verlassen den Schrein wieder. Und begeben uns in eine vollgestopfte Ladenstraße. Positiv ausgedrückt: Eine belebte Ladenstraße. Und ihr Angebot richtet sich in erster Linie an junge Leute. Na ja, dies ist schließlich Harajuku. Oha, da: Ein 100 Yen Laden. Während die anderen drei ein Geschäft umkrempeln, in dem man Fotos von irgendwelchen Stars kaufen kann (darunter auch „Oliber Kahn“, weil den Japanern die Unterscheidung von stimmhaftem „v“ und „b“ schwerfällt), gehe ich mir zwei Tüten Krabbenchips besorgen, weil ich noch nichts gegessen habe. Der Fotoladen langweilt mich zu Tode. Die ganze Straße ist voll von Krempel, eher weniger als mehr nötig, und bietet hauptsächlich „hippe“ Kleidung. Ah ja, hip: Ein punkiges Outfit mit „No Future“ Krawatte und Hakenkreuzbinde. Schick…

Einige Zeit später landen wir im „Book Off“ von Harajuku. In Hirosaki gibt es ebenfalls eine Filiale der „Book Off“ Kette, aber ich bin noch nie dort gewesen. Wie der Name vermuten lässt, kann man dort gebrauchte Bücher kaufen. Aber nicht nur das; es gibt auch CDs mit Musik, DVDs und Videokassetten mit Filmen und Serien, und Spiele für jede denkbare Konsole. Nur PC (oder auch MAC) Spiele fallen mir keine auf. Und „gebraucht“ bedeutet, dass sich das Material in einem einwandfreien Zustand befindet. Die Preise sind angenehm. Eine normale CD kostet beispielsweise 950 Yen, also etwa 7 Euro. Man sollte halt nicht damit rechnen, toppaktuelle Titel zu finden. Aber fragen kann man auf jeden Fall… manchmal hat man Glück. DVDs kosten hier zwar weniger als im Neuwarenhandel, aber die Preise sind immer noch recht gesalzen und höher als deutsche Neupreise. Und… natürlich gibt es auch eine Ecke mit erotischem Material. Ich möchte nur insoweit auf diese eingehen, als mir das folgende „Phänomen“ (zum wiederholten Male) deutlich aufgefallen ist:
Auf dem Cover der DVD (oder der Videokassette) befindet sich ein Mädchen (was auch sonst), im Alter von vielleicht 12 Jahren. Ja, wirklich. Die dargestellte Person ist tatsächlich ein Kind und kein Schaf im Lammfell. Die Darstellung weckt bedenkliche Assoziationen, obwohl das Cover, objektiv und ohne irgendwelches Hintergrundwissen betrachtet, völlig harmlos aussieht. Mit Hintergrundwissen wirkt die Darstellung bedenklich. Aber auch auf der Rückseite ist ebenfalls nichts… Explizites zu sehen. Was bitte ist das? Ich habe bereits von solchen Videos gehört… bei dieser Art von Filmen, die ganz eindeutig für Pädophile gemacht sind (was ja eigentlich nur aussagt, dass der Betreffende Kinder mag, Konnotation hin oder her), werden die Kinder nicht angefasst. Und sie ziehen auch nichts aus. Außer vielleicht Jacken und Schuhe, falls sie ein entsprechendes Gebäude betreten. Hier wird in der Tat überhaupt nichts gemacht, außer die Mädchen bei ihrem täglichen Leben zu zeigen. Und bevor es wegen dieser Aussage Kritik hagelt und man mir Verharmlosung vorwirft: Ich bin mir sehr wohl dessen bewusst, dass es eine Menge Material gibt, das hart an der Grenze und auch jenseits davon liegt. Ich war in Akihabara. Aber bei dem, was ich hier in der Hand halte, handelt es sich meines Erachtens um nichts wirklich Verwerfliches. Der Verkauf von Kunstdünger, Zucker und Metallrohren ist ja auch nicht fragwürdig, nur weil man Bomben daraus basteln kann. Der Käufer macht aus einem Produkt eben das, was ihm am besten gefällt. Aber auch im Falle dieser „harmlosen“ Videos stellt sich die Frage, ob solche Aufnahmen ein wie auch immer geartetes Verlangen anstauen, oder ob sie eine Ventilfunktion haben. Auch über Hentai-Anime wurde schon (im Westen, Quelle unbekannt) die Vermutung angestellt, dass Frauen in Japan auch nach Anbruch der Dunkelheit auf der Straße relativ sicher seien, weil es Anime gibt, in denen den weiblichen Charakteren… äh… allerlei… „Unbill“ widerfährt… und nicht, obwohl es äußerst abartige Filme gibt.[1]

Aber genug davon. Ich wende mich den Musik CDs zu. Ich nehme einen Schemel, der den Angestellten eigentlich beim Einräumen in die oberen Regale dienlich ist, setze mich darauf und forste das gesamte Regal mit Anime-Musik durch, und noch das eine oder andere mehr. Ich gehe schließlich nach Hause mit den „Animetal Marathon“ CDs #1 und #4, dem „Hamtarô“ Soundtrack (ja, so einer bin ich), zwei CDs von „Fushigi no Umi no Nadia“ (was bei uns als „Die Macht des Zaubersteins“ = „Secret of Blue Water“ lief) und den OST von „Blues Brothers 2000“. Und weil ich schon immer ein solches Spiel haben wollte, kaufe ich für 350 Yen „Tokimeki Memorial Private Collection“ von 1996 für die Playstation (und hoffe, dass es sich um ein Dating Game handelt und nicht um einen sinnlosen Ableger der „Tokimeki“ Serie, wo man Kreuzworträtsel oder Geschicklichkeitsspielchen mit den Charakteren im Hintergrund bewältigen muss). Die Anleitung, die ich später erst in Augenschein nehmen kann, verheißt jedoch nichts Gutes[2], aber vielleicht kann man es ja wieder verkaufen. Mehr als 3 E werden bei E-Bay wohl drin sein. Um festzustellen, was ich denn nun eigentlich gekauft habe, muss ich in Hirosaki jemanden finden, der mir seine Playstation mal für einen Tag ausleiht. Leider kenne ich noch nicht einmal jemanden, der ein solches Ding besitzt. Melanie kauft eine Tüte voll mit Manga von CLAMP.

Wir gehen noch was essen, in einem recht günstigen Lokal mit dem Namen „Jonathan“, wenn ich mich recht erinnere. Teurer als „Saizeriya“, aber akzeptabel, und das Essen ist nicht schlecht. Nur von den Würstchen rate ich ab, die sind nicht berauschend.

Was mir an dieser Stelle viel mehr auffällt, sind die beiden Menschen am Tisch gegenüber. Und ich meine jetzt nicht die zwei Mädchen eine Ecke weiter, über die sich Ronald so ereifert, weil sie sich seiner Meinung nach völlig daneben benehmen. Ja, sie hängen in den Stühlen, anstatt darauf zu sitzen und sie bewerfen sich mit Papierkügelchen. Mindestens einmal. Aber sie scheinen die übrigen Gäste wirklich nicht zu stören. Ich persönlich finde sie weder herausragend laut, noch trifft mich irgendein Geschoss von dort. Die beiden sitzen auch links hinter mir, also betreffen sie mich wirklich nicht.

Nein, ich meine die beiden gegenüber links vor mir. Es handelt sich möglicherweise um Mutter und Tochter; letztere ist wohl 12 bis 14 Jahre alt und sieht meiner Meinung nach nur entfernt japanisch aus (abgesehen von der schwarzen Haarfarbe), aber der Punkt dabei ist, dass ich mir absolut sicher bin, die beiden in einer bestimmten Fernsehshow schon mal als Gäste gesehen zu haben, wo sie als „Mutter-Tochter“ Gespann aufgetreten sind. Hintergrund dieser Show ist der folgende: Mitarbeiter des Senders oder auch bekannte Showstars gehen mit einem Kamerateam auf die Straße und suchen nach Müttern mit Töchtern, wobei die Mutter überraschend jung aussehen sollte, die sie dann fragen, ob sie auftreten möchten und wie alt sie sind. Im Idealfall sollte die Mutter 20 Jahre jünger aussehen, als sie tatsächlich ist. Um die Spannung zu erhöhen, wird das Gesicht der Person im Clip der Vorschau elektronisch unkenntlich gemacht und wird erst in der Fernsehsendung selbst preisgegeben.
Und ich bin mir eben sicher, dass die beiden da in einer solchen Show angetreten sind und getanzt haben. Das Gesicht der Mutter sehe ich zwar nicht richtig, weil sie halb mit dem Rücken und halb mit ihrer linken Seite zu mir sitzt, aber das Gesicht der Tochter fand ich beim Ansehen der Show sehr markant. Ich bin mir absolut sicher, es schon einmal gesehen zu haben. So frech, einfach mal zu fragen, will ich dann aber doch nicht sein. Sogar ich habe Grenzen. Auch wenn das so mancher nicht glauben mag. Stattdessen amüsiere ich mich darüber, dass die beiden von dem bisschen, was sie bestellen, nur die Hälfte essen und den Rest offenbar dem Mülleimer überlassen. Warum geht Ihr essen, wenn Ihr keinen Hunger habt?

Wir müssen letztendlich zum Bus. Wir verabschieden uns und fahren um 22:20 los – mit SangSu, der sein Reiseziel offenbar gefunden hat. Aber warum er hier einsteigt, anstatt dort, wo er ursprünglich hätte aussteigen sollen… ah ja, die Reise hat hier ihren Startpunkt. Also drei Endpunkte in Tokyo, aber nur einen Startpunkt.

Auf den Bus und die Reise gehe ich morgen ein.


[1]   Wie ich bereits früher angedeutet habe, wird die Bedeutung von Anime in Japan von westlichen Medien maßlos übertrieben, und zum Thema Sicherheit der japanischen Straßen möchte ich hinzufügen, dass die Dunkelziffer wegen des gesteigerten japanischen Schamgefühls als hoch einzuschätzen ist: Misshandelte Frauen haben einen gesteigerten Hang dazu, die Tat zu verschweigen.

[2]  Es handelte sich in der Tat um ein Quizspiel mit Thema „Tokimeki“, und niemand wollte es kaufen.

20. Dezember 2023

Samstag, 20.12.2003 – Spielhöllenparadies

Filed under: Japan,My Life — 42317 @ 7:00

Wie bereits gestern Morgen gibt es auch am heutigen Morgen kein fließendes Wasser um 07:25. Das Wasser kommt um 07:45 zurück, und ich bin sehr dankbar, dass mir das am Wochenende passiert, und nicht Dienstags, Mittwochs oder Donnerstags, wo ich um kurz nach acht aus dem Haus muss. Aber heute ist ja Samstag. Da sitze ich um 07:30 ganz gemütlich vor dem Fernseher.

Und heute bewegt sich bei „SailorMoon“ endlich etwas. SailorVenus hat ihren ersten Auftritt! Sie wird immer noch als die Prinzessin propagiert. Das macht mich auf Dauer natürlich ein bisschen unsicher, aber erstens glaube ich nicht, dass Takeuchi Naoko einer solchen Veränderung jemals zustimmen würde, und zweitens sehe ich es kommen, dass sich die Wahrheit genau dann herausstellen wird, wenn die bösen Bösen ihre Konzentration voll und ganz auf die falsche Prinzessin gelenkt haben und der das Schicksal entscheidende Moment gekommen ist. Fragt sich: Warum sollten sie das tun? Königin Beryll weiß ja ganz genau, dass es die Königin des Mondreichs war, die zu jener Zeit „nicht unwesentlich“ zu ihrem Untergang beigetragen hat – also warum sollte sie auf den Gedanken kommen, dass die neu geborene Venuskriegerin die Prinzessin sein könnte??? Ich würde das ein Loch in der Story (oder vielleicht auch ein Loch in meiner Theorie) nennen. Ich gehe nämlich derzeit davon aus, dass Minako am Ende, in eben jenem Schicksal entscheidenden Moment, einen höflichen Kniefall vor Usagi machen und erklären wird, dass die Maskerade als Täuschungsmanöver zum Schutz der Mondprinzessin (= Usagi) notwendig war.

Wie dem auch sei. SailorVenus „geht ab wie e rod Mobbedd“, wie mein Schulfreund Frank immer so schön sagt. Zoisyte will ihr nämlich „eine Ansichtskarte aus Solingen“ schicken und Mamoru stellt sich zwischen Venus und Zoisyte. Zoisyte erkennt seinen alten Herrn und Meister in Mamoru wieder und zögert – offenbar ein Anfall vergangener Loyalität, worauf Venus ganz cool einen Schritt aus ihrer Deckung heraustritt und den armen Zoisyte ohne ein weiteres Wort zu verlieren mit ihrem Crescent Beam wegbrutzelt. Da geht er hin und muss ins Gras beißen, ohne eine einzige Einstellung, die ihn zusammen mit Kunzyte gezeigt hätte. In der Vorschau stellt sich Kunzyte dann als der „Dunkle König“ vor. Ah ja. Dann bin ich mal gespannt, was aus dem Mann wird.1

Im Übrigen gehen mir die Kämpfe, die mehr Ähnlichkeit mit gymnastischem Bodenturnen haben, so langsam ein wenig auf den Wecker. Die Angriffe turnerisch vorzutragen, erfüllt keinen mir ersichtlichen Zweck, außer der dadurch besseren Möglichkeit der Hervorhebung der Hüften und Beine der Hauptdarstellerinnen, und dass sich der männliche Zuschauer ab 12 Jahren an der Darstellung von weißer Unterwäsche erfreuen kann (eigentlich ist es aber der untere Teil von einer Art Badeanzug in weiß). Ich sage nicht, dass dieser Punkt aus männlicher Perspektive uninteressant sei – aber als Fan im weitesten Sinne finde ich es ein wenig übertrieben und irgendwie deplatziert, wenn die Realserie die Animeserie an Pantyshots übertrifft. Sawai Miyû (Usagi) hat eine offizielle Seite, und man kann ihr Fanmails schreiben – ich glaube, ich frage sie mal, was das eigentlich für ein Gefühl ist, wenn man weiß, dass Hunderte von männlichen Zuschauern mit eindeutigen Gedanken und nur deshalb vor dem Bildschirm sitzen. Das würde mich interessieren.

Entgegen meiner ursprünglichen Absicht gehe ich nach der Sendung nicht wieder schlafen. Der Bettbezug hat was dagegen; er sagt, er möchte bitte gewaschen werden. Soll mir Recht sein. Sobald ich mit ihm fertig bin, arbeite ich auch den übrigen Wäscheberg etwas ab. Bevor wir nach Tokyo fahren, möchte ich den Schrank annähernd leer haben. Während die Wäsche sich dann in der Maschine dreht, komme ich endlich dazu, das Bad zu putzen. Seit etwa einer Woche will ich das schon erledigen. Und während ich schrubbe, klingelt SongMin und eröffnet uns, dass sie heute ins Frauenwohnheim umziehen wird, weil ihr die Wohnung für sie allein zu groß ist und sie sich darin zu allein fühlt. Schade… sie war eine sehr angenehme Nachbarin.

Ikeda kommt wegen der Übergabe der Wohnung kurz danach vorbei. Und wenn er schon da ist, kann ich ihn ja wegen des festgefahrenen Videobandes im Videorekorder ansprechen. Das sei gar kein Problem sagt er und gibt uns den Fernseher aus SongMins Wohnung, weil es sich um das gleiche Modell handelt. Na wunderbar, dann ist die Videosession ja vorerst gesichert.

Nachdem ich mit dem Putzen fertig bin, gehe ich in die Bibliothek und verlasse sie erst um 17:00 wieder. Ich gehe ins Naisu Dô und kaufe mir das verbliebene Artbook von „Königin der Tausend Jahre“. Ein weiteres Filmartbook, auch dieses hier behandelt nicht die Serie. Des weiteren kaufe ich ein „Mahôjin Guru Guru“ Artbook, das nicht wirklich ein Artbook ist. Es handelt sich eigentlich um einen „World Guide“, in dem die Welt dieser Serie erklärt wird, mit Landkarte und wie das mit der Magie da geregelt ist, welche Symbole und Magiearten es gibt. Der größte Teil des Buchs besteht aus kurzen Mangastrips, zum Teil Parodien auf europäische Märchen. Ganz nett, aber das werde ich verkaufen. Falls ich es loswerde.
Weiterhin zum Verkaufen bestimmt ist eine dreibändige „Rurôni Kenshin“ Sammlung (ein Episode Guide, um genau zu sein), ein „Slayers DX“ Artbook und eine weitere Ausgabe von „Memory of Memories“ von Otomo Katsuhiro. Vorgemerkt für den gleichen Zweck habe ich eigentlich eine Komplettausgabe der „Nausicaä“ Manga. Würde nur 1800 Yen kosten. Aber andererseits… gibt es das nicht schon auf Deutsch oder Englisch? Welcher Trottel würde dann die japanische Version kaufen? Das lasse ich vielleicht doch besser.

Aus dem Naisu Dô heraus fahre ich direkt ins Ito Yôkadô Kaufhaus, um nach CDs zu sehen. Aber 3000 Yen finde ich immer wieder aufs Neue abschreckend. Ich finde in einer Angebotskiste die „Animatrix“ DVD für 1500 Yen. Ich vergewissere mich, dass auch eine englische Sprachversion drauf ist und kaufe die DVD. Schließlich kosten DVDs hier normalerweise mehr als das Doppelte. Dann mache ich mich auf den Weg ins Daiei.
Dort entdecke ich japanische Geschirrspülmaschinen, und mache auch gleich ein Bild davon. Die Maschine sieht auf den ersten Blick aus wie eine Mikrowelle, oder wie ein leeres Aquarium mit Springbrunnen drin. Klein und handlich. Das Geschirr einer Familie mit zwei Kindern passt da bestimmt nicht rein, aber die Werbung sagt, dass ein Waschgang nur sechs Minuten benötige.

Der Geschirrspüler für den kleinen Haushalt

Ich fahre weiter nach oben und entdecke die Spielabteilung. Nicht die Abteilung, wo man Spiele kaufen kann – die Abteilung mit den Spielautomaten. Eigentlich wollte ich nur das Angebot begutachten, aber… was ist das!? Da steht der Fahrautomat „Sega Rally Championship“ – das Original von 1995! Das habe ich zuletzt 1997 im heimatlichen Blieskastel gespielt. Und der hier verfügt sogar über zwei Sitze, damit man auch gegen einen Freund antreten kann. Das lasse ich mir nicht entgehen und lasse 200 Yen an dem Automaten. Ein tolles Gefühl, die vibrierenden Sitze und das zerrende Lenkrad noch einmal zu erleben und die simplifizierte Gangschaltung misshandeln zu dürfen… aber ich bin genauso schlecht wie damals. Ich habe inzwischen zwar mehr Gefühl dafür, eine Gangschaltung zu benutzen (1997 hatte ich noch keinen Führerschein), aber die Spielpraxis zeigt, dass ich noch an der gleichen Stelle rausfliege, wie damals. Kai wird sich an die Bergstrecke und ihre widerlichen Kurvenkombinationen erinnern… er sollte mich hier mal besuchen. „Daytona Racing“ steht in einer Zweispielerversion nämlich direkt daneben. Und da, ein paar Meter weiter kann man „Time Crisis“ spielen! Das alte „Time Crisis“ für die Playstation, Baujahr 1997. Da muss auch eine Runde rollen. Und noch eine. Mann, bin ich schlecht geworden. Hätte ich das gewusst, hätte ich zuhause noch schnell geübt.
Aber da soll mir noch einmal jemand was von der Schnelllebigkeit der japanischen Populärkultur erzählen – im Großen und Ganzen trifft das natürlich tatsächlich zu, aber ich hätte nie damit gerechnet, jetzt noch, zum Jahreswechsel 2003/04, hier drei Klassiker der Automatenunterhaltung am selben Ort zu finden, die vor eben mehr als fünf Jahren erschienen sind. Ich habe gedacht, hier sei nichts zu finden, was vor 2001 aus der Fabrik gekommen ist.
Neben „Time Crisis“ steht „Time Crisis 3“, offenbar funkelnagelneu. Eine Runde kostet da nämlich 200 Yen statt der üblichen 100. Was soll’s, wenn ich schon mal da bin, kann ich das auch ausprobieren. Wohlgemerkt haben beide „Time Crisis“ Spiele hier GunCons (die Spielpistolen) mit beweglichen Teilen, und die Dinger haben ein ordentliches Gewicht, um das Schießen realistischer rüberzubringen. Und „Time Crisis 3“ hat es in sich. Grafisch und von der Anforderung an den Spieler. Von daher komme ich als Ungeübter auch nicht weit.

Zuletzt lasse ich 300 Yen an einem Automaten, an dem man ein Scharfschützengewehr bedient. Ich schätze, dass es sich um das Spiel handelt, von dem JP erzählt hat, das Stefan es „mit Links“ durchgespielt habe. Der Automat hat natürlich einen Bildschirm, aber in dem Zielfernrohr der festgeschraubten Spielwaffe befindet sich ein weiterer, winziger Bildschirm, der eben die Nahaufnahmen darstellt. Macht unheimlich Spaß, zeigt mir aber, dass das Gerät für japanische Jugendliche installiert wurde. Ich stehe hier sehr breitbeinig in der Gegend rum, weil die Schulterstütze viel zu niedrig für mich angesetzt ist. Die Levels, wo es wirklich um Scharfschützenaufträge geht, bringe ich bequem hinter mich, aber das Schießen auf bewegliche Ziele (Jeeps und Hubschrauber!), ist mir zu viel. Ja Kai, Du bist der Meister.

Frau Professor Gössmann hebt an dieser Stelle als personifiziertes Gewissen in meinem Hinterkopf den Zeigefinger und sagt: „Dafür hatten Sie eigentlich gar keine Zeit, Herr Schwarz!“ und sie hat natürlich Recht. Denn vor lauter Begeisterung verspäte ich mich, außerdem ist die Straße stellenweise glatt geworden. Zeit aufholen kann ich also in den Wind schreiben. Ich treffe Melanie im BenyMart, und sie war so lieb, mir die verpassten Sendungen ab 19:00 auf Band aufzunehmen. „Crayon Shin-chan“ und „Bobobôbo Bôbobo“ wollte ich nicht verpassen. Ja, wie es aussieht, hat sich meine Meinung bezüglich „Shin-chan“ geradezu ins Gegenteil verkehrt. Ich gehe aber auch weiterhin davon aus, dass ich in Deutschland von dem Konsum der Serie wegen der üblen Synchro absehen werde. Aber ich mutiere in Japan bereits zu einer Art Fan.

Ich komme heute Abend aber in den unvergleichbaren „Genuss“, Nattô zu essen. Das faulige Bohnenzeugs befindet sich auf zweien von den Sushiklumpen, die ich heute gekauft habe. Hauptsächlich, um zu erfahren, worüber „alle“ reden. Volker hat Nattô bereits beschrieben, ganz gut sogar, aber beim Geschmack beschränkte er sich meines Wissens auf „lecker ist was anderes…“. Das sei ihm gegönnt, aber ich will weiter darauf eingehen und bei der „Basis“ anfangen. Im Prinzip besteht Nattô aus kontrolliert angefaulten Bohnen. „Fermentiert“ nennt man das beschönigend. Nattô ist von einer hellbraunen Farbe, etwas dunkler als ein brauner Briefumschlag, hat eine irgendwie schleimige Konsistenz wie eine Mischung aus Uhu Kleber und „Colgate Gel“ Zahnpasta und ist mit Bröckchen (der Bohnen) durchsetzt. Der Geruch ist auffällig, leicht faulig, aber nicht so streng, wie ich dachte. Der Geschmack erinnert an einen sehr alten Weichkäse, den man im Schrank festbinden muss, damit er nicht von alleine davonläuft, wenn man den Schrank öffnet. Ich mag alten Weichkäse. Wer auch immer mein Zimmer im Wohnheim nach mir bezogen hat, wird das erahnen können. Aber Nattô fehlt in der Komposition ein wichtiger und entscheidender Geschmacksfaktor, den ich leider nicht genau definieren kann, um den Genussfaktor eines alten Camembert oder Brie zu erreichen. Mein Urteil: Man kann es essen (ohne sich übergeben zu müssen). Es muss aber nicht unbedingt sein. Vor allem nicht mehr als ein Kaffeelöffel voll auf einmal. Das ist die Grenze, die mein Magen mir dabei setzt.

1 Das war ein Hörfehler. Er sagte, er sei einer der „Dark Kingdom no Shitennô“.

13. Dezember 2023

Samstag, 13.12.2003 – Der begehrteste Mann im Kindergarten

Filed under: Japan,My Life,Spiele,Sport — 42317 @ 7:00

Auf dem Weg in die Bibliothek pumpe ich endlich mal wieder etwas Luft in die Reifen meines Fahrrades. Danach werden Mails geschrieben, ohne, dass etwas Dramatisches dabei vor sich geht. Um 16:00 brechen Melanie und ich auf, um der Einladung des „Hippo Family Clubs“ zu folgen, den ich für gewöhnlich „Happy Hippo Club“ nenne, weil es leichter von der Zunge geht. Verdammtes Werbefernsehen!

Wir fahren auf der Straße Richtung Daiei, kommen an die Eneos Tankstelle, und gegenüber wartet auch schon ein bekanntes Gesicht. Es ist der Mann, der mich darauf aufmerksam gemacht hat, dass Vogelweide wahrscheinlich nicht im 1200. Jahrhundert geboren worden ist. Er ist erkältet, wie mir scheint. Sushanan und Yong treffen zur gleichen Zeit ein.

Wie ich mir bereits dachte, handelt es sich auch hierbei um eine durchorganisierte Party mit festem Zeitplan. Ab 16:30 beginnt die „Endphase“ des Aufbaus. Ein hellblauer Teppich und drei Tatamimatten wurden bereits auf dem Boden platziert, damit die Füße nicht zu kalt werden. Es kommen mehr und mehr Leute und schließlich trifft auch die Stereoanlage ein. Maeda-san nutzt sie, um ihre Stimme mit dem angeschlossenen Mikrofon verstärken zu können, obwohl der Raum bestenfalls 35 qm groß ist. Aber wir brauchen die Anlage natürlich noch für was anderes…

Letztendlich anwesend sind die Gastfamilien und die ihnen zugeteilten Studenten, niemand sonst. Eine überschaubare Gruppe. Um 17:00 habe ich bereits die ersten Abenteuer hinter mir, nachdem die (vornehmlich weiblichen) Kinder mich wiedererkannt haben und mit dem „Kinnikuman“ spielen wollen. Weil ich nicht auf dem Boden Platz nehmen will, so lange es sich vermeiden lässt, und auch nicht stehen will, setze ich mich auf die Fensterbank. Neben mir ein halbes Dutzend Mädchen – wie bereits früher erwähnt – im Alter von vier bis elf Jahren. Sie verstecken sich (uns), indem sie die Jalousie des Fensters herunterlassen, und ich werde unfreiwillig Teil dieses Spiels, das ihnen auch nach mehreren Minuten und mehrmaligem Hochziehen und Herunterlassen der Jalousie nicht langweilig werden will.
Dann zieht mich eine davon an der linken Wange, wie das Melanie normalerweise zu tun pflegt, und ruft:
Der hat ja Barthaare im Gesicht!“ und findet das ungeheuer lustig.
Natürlich, das ist männlich!“ („Mochiron, otokorashii da zo!“) sage ich dazu, und alle lachen sich halbtot – weshalb auch immer. Ich wollte natürlich einen Scherz machen, aber dass er eine solche Wirkung haben würde, habe ich nicht erwartet. Und es wird noch toller. Minato, die Kleinste aus der Gruppe kommt im Anschluss noch öfter zu mir und bittet mich, „otokorashii“ zu sagen (und nichts weiteres). Ich tue es ein paar Male und jedes Mal kugelt sie sich auf dem Boden und quietscht vergnügt. Ich wusste nicht, dass das Wort so lustig ist. Auch wenn man es mit verschiedenen Betonungen sagt… aber vielleicht sehe ich das zu rational. Ihr zur Freude mache ich den Spaß eine Weile mit, aber irgendwann wird es mir doch eine Spur zu kindisch, und ich bitte sie freundlich, damit aufzuhören. Sie tut es, ohne sich zu beschweren, aber…

Wir haben ja alle Namensschilder bekommen, selbstklebende Papierstreifen, die wir selbst beschriften. Und als nächstes malen die Mädchen gleich zwei Schilder, auf denen „otokorashii“ zu lesen ist und kleben sie mir auf die Brust. Sie bekommen später einen Platz im „Manuskript“ meines Tagebuchs. Dann gehen sie dazu über, meine Arme und Beine zu befühlen, weil sie die Muskeln so toll finden. Ich finde das ein bisschen peinlich, aber ich will auch kein Spaßverderber sein. Als seltene Attraktion kommt auch einer der Jungs zu mir, etwa sieben Jahre alt, greift nach meinem Oberarm und meint „Das ist doch bestimmt nur Fett!“ Leider muss ich ihn in diesem Punkt enttäuschen, nachdem er sich empirisch überzeugt hat. Er läuft rot an und verschwindet wieder zu seinen Freunden, die an einer Tafel in der Ecke Baseball-Spielzüge durchgehen oder „Vier gewinnt“ spielen. Die Mädchen gehen derweil dazu über, mich mit einer Tür zu verwechseln und klopfen auf meinem Oberkörper herum. „Katai!“ („Hart!“) sagen sie. Hoffentlich wechsele ich nicht ebenfalls zu auffällig die Gesichtsfarbe. Ich habe wie üblich keine Ahnung, wie ich mit diesem ungebremsten Sturm der Begeisterung umgehen soll. Also „Helm auf und Glück ab!“, wie ein Freund letztlich sagte.

Das allein waren die „Abenteuer“ bis um fünf Uhr. Dann beginnt der offizielle Teil. Ich muss endgültig auf den Boden umziehen, das Mikrofon wandert reihum und jeder stellt sich kurz vor, beginnend bei SangSu. Das Procedere „Ich bin… und ich komme aus…“ wird spätestens beim vierten Mal langweilig.
Ich nehme das Mikrofon. „Ja, wer bin ich eigentlich?“ frage ich.
Leises Lachen im „Zuschauerraum“.
Der männliche Dominik!“ („Otokorashii Dominiku!“) rufen die Mädchen, als hätte ich sie dazu aufgefordert.
Amüsiertes Lachen unter den Erwachsenen.
Sehr gut! Gibt es jemanden, der mich noch nicht kennt? Nein? Wie es scheint, bin ich berühmt…
Ich spüre deutlich die pfeilspitzen Blicke von Melanie. Ich gebe das Mikrofon also lieber weiter.

Auch Familie Jin ist mittlerweile eingetroffen und hat sich in meine Nähe gesetzt. Mutter Eiko stellt sich vor. Uh, Keigo = feinstes Japanisch. Vater Yûtaka macht das ganze weniger förmlich. „Oosu!“ ruft er zur Einleitung. Eine Art Schlachtruf von Sportmannschaften. Wieder habe ich das Gefühl, in der irrsten Familie von dem ganzen Haufen gelandet zu sein… ohne das jetzt irgendwie negativ zu meinen.
Das Ehepaar Jin trägt T-Shirts mit aufgedruckten Familienfotos. Sie trägt eines, das sie zusammen mit ihrer Tochter zeigt. Offenbar recht aktuell. Sein T-Shirt zeigt ein Foto, das 1950 aufgenommen wurde. Er sagt, eigentlich habe er das Hemd seiner Mutter geschenkt, aber sie wolle es aus Gründen des Aberglaubens oder der Pietät, je nachdem, wie man es betrachtet, nicht tragen. Er hält die rechte Seite des Fotos zu. „Die sind bereits alle gestorben“, sagt er. Die Mutter wolle die Geister der Toten nicht beleidigen. Da er selbst nicht an solche Geister glaube, habe er kein Problem damit, das T-Shirt zu tragen. Ich frage ihn, wo man solche T-Shirts machen lassen könne. Er habe es in Tokyo gekauft, sagt er. In Hirosaki gebe es einen solchen Laden wahrscheinlich nicht. Ist eigentlich auch egal. Derzeit habe ich kein Motiv, das ich unbedingt auf einem T-Shirt sehen wollte.

Dann stellen sich die Studenten in einer Reihe auf, mit Ausnahme von Melanie, die ja „nur“ ein Gast ist, ohne Gastfamilie. Wir erhalten Geschenke – die Kinder der jeweiligen Familie haben je ein Porträt von uns gemalt, auf ein Blatt Papier, A4 Format, auf Pappe aufgeklebt, mit einem Band zum Umhängen. Yûmiko hat mich gemalt. Idealisiert, ohne Brille und etwas zu blond, aber es ist das schönste Bild von allen. Aller Subjektivität zum Trotz. Yûtarô hängt mir meines um, Yûmiko gibt Sushanan ihres. Yûtarô legt mir gegenüber immer noch eine gewisse Unsicherheit an den Tag. Also muss ich ihn noch ein bisschen auftauen. Sobald ich herausgefunden habe, wie ich es anpacken kann. Natürlich werden Fotos gemacht, wir mit unseren Porträts.

Dann beginnen die obligatorischen Spiele. Zum Aufwärmen der „L-O-V-E“ Song. Ich kriege die Fingerbewegungen nicht koordiniert. Auch das Spiel, wo jemand eine Zahl sagt und sich dann entsprechend große Gruppen bilden müssen, wird noch einmal durchexerziert. Aber diesmal bin ich darauf gefasst und kann unverkrampfter an die Sache herangehen. Danach stellen sich zehn Freiwillige in die Mitte des Raumes, die übrigen bilden einen Kreis um sie herum. Dann wird eine Musik gespielt, der äußere Kreis bewegt sich im Takt der Musik auf die Mitte zu und jeder tritt irgendjemandem (sanft) ans Bein. Ich sehe davon ab, jemanden zu treten. Ich habe keine Ahnung, was das hier bedeutet, aber die Gesetzmäßigkeiten erschließen sich schnell. Der Tritt ans Bein ist gewissermaßen eine Herausforderung zum Jan-Ken-Pon. Okay, alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei. Die Melodie hört auf zu spielen und die Getretenen gehen zum jeweiligen Herausforderer und spielen mit ihm/ihr Jan-Ken-Pon. Wer verliert, muss in die Mitte, bzw. in der Mitte bleiben. Man hat zehn Sekunden Zeit, mit Leuten Jan-Ken-Pon zu spielen, um aus dem Kreis herauszukommen, bevor die Musik wieder zu spielen und der Tanz von vorne beginnt. Da die Vierjährige offenbar einen Narren an mir gefressen hat, sehe ich mich die ganze Zeit über ihren „Attacken“ ausgesetzt, und sie hat ein diebisches Vergnügen daran, mich so kräftig zu treten, wie sie nur kann – aber da sie bestenfalls 20 Kilo wiegt, ist das nicht viel. Jin Eiko bedient die Stereoanlage, da sie mit ihrem gerade wieder halbwegs brauchbaren und noch immer bandagierten Fuß nicht mitspielen kann. Ich hoffe, sie langweilt sich nicht allzu sehr.

Nachdem ich dann alle Spiele ohne bleibende Schäden überstanden habe, gibt es was zu Essen. Und davon nicht zu wenig. Die Familien haben es zubereitet. Da steht eine Art Rahmkuchen, der eher wie ein großes Omelett aussieht, Obstsalat, Onigiri (Reisbällchen) verschiedener Art, gekochte Hühner(-unter-)schenkel, Spaghetti mit mehreren Sorten Soße, darunter Hackfleischsoße, eine scharfe Tomatensoße und sogar Pesto, eine Art Kuchen, dessen einzelne Stücke man andernorts als „Brownies“ bezeichnen würde, kleine Cupcakes, Reis mit Gemüse, Nudeln mit Fleisch und Soße, frittiertes Schweinefleisch, frittierte Teigstückchen, frittierter Teig mit Fleischstückchen, natürlich Sushi, und etwas, das man in Deutschland als „Schweinebraten mit dunkler Soße“ bezeichnen würde. Fast das gleiche wie zuhause, nur der Daikon-Rettich und das Gemüse in der Soße wirken daran japanisch. Und das Fleisch wurde bereits mundgerecht geschnitten, damit man es ohne Messer und Gabel mit Stäbchen essen kann. Nachdem ich von allem eine Portion gegessen habe, bin ich natürlich satt, aber ich nehme noch ein paar Happen von den Sachen, die besonders gut waren. Jetzt bin ich kurz vor „überfressen“.

Übrigens ist auch die Chinesin, die so schön getanzt hat, hier. Mit der offenen Frisur habe ich sie nicht sofort erkannt. Erst das Bild, das man ihr geschenkt hat, brachte mich in die richtige Richtung, weil sie darauf in dem entsprechenden Kostüm dargestellt ist. In japanischer Transkription heißt sie „FanFan“. Die chinesische Originallesung kann ich nicht aussprechen; sie überträgt sich u.a. etwa als „KanKan“ ins Japanische, aber das klingt ja furchtbar…. Das Original jedenfalls kann ich mir nicht merken und… na ja, dann lieber „FanFan“. Meine Bitte, sie möge doch bei anderer Gelegenheit noch einmal tanzen, weist sie höflich und lächelnd zurück.

Nach dem Essen führen die Kinder ein kleines Stück auf, das offenbar aus Russland stammt – und es scheint die russische Version von der „Rübe“ zu sein. „Die Rübe“ ist ein Gedicht oder ein Lied, das sich in einem meiner Lesebücher der Grundschule befand, dritte Klasse, glaube ich, und es geht darum, dass einer aufs Feld geht und eine riesige Rübe vorfindet, die er allein nicht aus der Erde ziehen kann; also ruft er Verstärkung, und einer nach dem anderen kommt, um beim Herausziehen der Rübe zu helfen, bis schließlich alle gemeinsam anpacken und die Aufgabe bewältigen.
Die gezeigte russische Version handelt von einem Bauern, der seine Frau, seine Kinder und seine Eltern zu Hilfe ruft, und schließlich ziehen alle Bewohner des Hofes gemeinsam an der Rübe, vom Bauern bis zum Hofhund, der Katze und der Maus. Die Kinder haben hierzu entsprechende, wenn auch einfache Kostüme gebastelt. Sehr niedlich. Jin Eiko hält während der Vorführung Pappschilder in die Luft, auf denen die Szenen noch einmal in Bilderform aufgemalt sind und liest von der Rückseite den Erzähltext ab. Die Rübe, um die es letztendlich geht, ist ein Zusammenschnitt aus einem großen roten Kopfkissen und grünen Stoffstücken in Blattform.

Dann ist das Programm zu Ende und das Einpacken und Verteilen des restlichen Essens beginnt. Die Tische werden gesäubert und zusammen mit den Stühlen wieder in die jeweilige Ausgangsposition geschoben. Nach und nach verlassen die Leute das Gebäude und ich passe noch einen der Erwachsenen ab, der ein olivgrünes Hemd trägt, das vor einigen Jahren noch Eigentum der deutschen Bundesluftwaffe gewesen war, noch mit Adler an der Schulter und mit Bundesflagge Schwarz/Rot/Gold. Ich frage ihn, wo er das gekauft habe und ob man dort auch japanisches Material kaufen könne. Er habe es in Hirosaki gekauft, sagt er, aber der Laden habe inzwischen geschlossen. Und es gebe nur Material aus dem Ausland, hauptsächlich aus den USA und aus Deutschland. Japanische Uniformen habe er keine gesehen. Das finde ich zwar nicht sehr hoffnungsspendend, aber wenn es noch mehr ausländisches Material gibt, kann ich in Japan vielleicht einen russischen Tarnanzug kaufen, ohne dafür gleich nach Polen oder weiter fahren zu müssen… von Trier aus fährt ja ein Bus direkt nach Minsk. Ich werde auf jeden Fall weiter versuchen, einen Tarnanzug der Jieitai, der japanischen Selbstverteidigungsstreitkräfte, zu ergattern.

Um 19:30 sind wir wieder zuhause und sehen uns „30 Menschen, 31 Beine“ an. Dreißig Grundschüler bilden eine Reihe, ein Bein jeweils an das des Nachbarn gebunden. Sie laufen nacheinander eine Strecke von 50 Metern gegen die Zeit und natürlich gegen Teams aus anderen Gegenden Japans; insgesamt ein Dutzend Mannschaften, die die Vorausscheidungen gewonnen haben, um hier bei den japanischen Meisterschaften antreten zu können. Als Gast ist eine Mannschaft aus Kuba dabei. Die Kubaner scheitern im Halbfinale. Was reden die eigentlich für eine Sprache? Natürlich eine Art Spanisch, aber nach Spanisch hört sich das für mich nicht mehr an. Die ganze Angelegenheit ist sehr emotional. Bei den Verliererteams bricht sich die Anspannung in Form von Tränen feuchte Bahnen. Die begleitenden Lehrer gleich mit. Man hat den Eindruck, die Jungs und Mädchen seien der Meinung, man würde ihre Eltern auf Nimmerwiedersehen nach Sibirien deportieren, sollten sie nicht gewinnen. Aber man sagt mir auch nach, ich sei emotional halbtot. Ich sehe mir die Sendung nicht ganz bis zum Ende an. Nach dem Ausscheiden der Kubaner gehe ich schlafen. Und während ich schlafe… aber das erzählt mir Melanie erst später.

11. Dezember 2023

Donnerstag, 11.12.2003 – Roadrunner

Filed under: Japan,My Life,Uni,Zeitgeschehen — 42317 @ 7:00

Ein sonniger Morgen, kein Schnee über Nacht. Aber es ist dennoch ziemlich kühl. Von dem gefallenen Schnee ist nur noch etwas auf den Dächern und ein paar Flecken auf dem Rasen übrig. Und morgen soll es regnen. Mal wieder.

Leider verschätze ich mich in der Zeit, die ich zum Rasieren brauche und werde erst um 0740 fertig. Dann also schnell den Reis in die dafür vorgesehene Körperöffnung stopfen und los geht’s, um 08:20. Das reicht bei den herrschenden Bodenverhältnissen zu Fuß gerade so, um pünktlich zu sein, wenn man ein bisschen Gas gibt. Die Straßen sind frei, aber auf den Bürgersteigen liegt noch Eis. Es ist allerdings kein festes Eis, es ist gebrochen und sehr körnig. Man kann also beinahe normal darauf laufen. Da wir spät dran sind, will ich mich beeilen, aber pro 100 Meter, die ich zurücklege, fällt Melanie 20 Meter zurück. Vom Boden her wäre es wirklich möglich, etwas schneller zu gehen, als sie das tut. Aber sie kann natürlich nichts dafür – es pflügt nicht jeder so durch die Gegend wie ich. Aber ich will nicht zu spät kommen und ziehe auf den letzten 500 Metern davon. Sie wird mir das übel nehmen, das weiß ich. Aber ich kann nicht spazieren gehen oder alle paar Meter stehen bleiben, um zu warten, wenn ich weiß, dass ich mich eigentlich beeilen sollte. Ich kann dann nicht langsam machen… das macht mich ganz zappelig und meine Laune wird ungenießbar. In dem Fall muss ich also abwägen, ob ich lieber ihre oder lieber meine Laune in den Keller trete. Heute steht meine Entscheidung fest. Ja, vielleicht ist das nicht nett. Ich habe aber was dagegen, zu spät zu kommen, vor allem, wenn es sich noch vermeiden lässt. Wir sind doch kein einheitlicher Organismus – es ist immer noch jeder in erster Linie für sich selbst verantwortlich.

Ich bin etwa eine Minute vor ihr da. Ich vor dem Gong, sie danach. „Danke, dass Du auf mich gewartet hast!
Ja, sie nimmt mir das übel. „Ja, keine Ursache.
Die Situation juckt mich jetzt gerade wenig.
Sie setzt sich in die übernächste Reihe hinter mir. Oha, symbolischer Abstand. Mach nur.

Nach dem Kanjitest, noch während des Unterrichts, sehe ich, dass sie eifrig ihr Tagebuch benutzt – sie wird einen entsprechenden Eintrag zu meinem unsozialen Verhalten schreiben… als ob ich je behauptet hätte, sozial zu sein…
Und weil ich ein gutes Gedächtnis für solcherlei Dinge habe, fällt mir in diesem Moment ein Tag im Oktober ein, an dem ich mich tödlich über die hiesigen Unterrichtsverfahren aufgeregt habe, und um genau zu sein, war es der 15. Oktober. Der „Born to kill?“ Eintrag war das. An dem Tag habe ich noch während des Unterrichts meine Meinung schriftlich festgehalten und wurde deswegen von ihr vorwurfsvoll getadelt:
Pass gefälligst auf und schreib nicht in Dein blödes Tagebuch!
Würde ich nicht gerade im Unterricht sitzen, würde ich angesichts dieser paradoxen Situation laut lachen.
Sic transit gloria mundis!

Am Ende der Stunde erzählt uns Yamazaki-sensei, dass sich nächste Woche der Stundenplan geringfügig ändere. Wegen der vielen ausgefallenen Montage sei eine Umstellung beschlossen worden. Ich glaube, der Unterricht am Donnerstag wird durch einen „Montagsstundenplan“ ersetzt. Genau verstanden habe ich die Angelegenheit nicht, aber es gibt Leute, die ich deswegen befragen kann.

Der Unterricht von Sawada-sensei beschäftigt sich heute mit Kogin-Stickerei. Es handelt sich dabei um eine Kunstform in Tsugaru, die aus dem Verbot (während der Edo-Periode) entstanden ist, dass Bauern keine Kleidung aus Baumwolle, sondern nur aus Leinen tragen durften. Leinen ist nicht dafür bekannt, dass man daraus warme Kleidung machen kann, und wenn man im Süden wohnt, dann mag das nicht allzu schlimm sein, aber hier oben sieht die Sache anders aus. Es gab allerdings kein Gesetz, dass den Bauern die Verwendung von Baumwollfäden verboten hätte. Die Frauen von Tsugaru stickten also Baumwollfäden in die Leinenkleider ihrer Familien, um sie über den Winter zu bringen. Und zwar so viel davon, dass man das Leinen darunter kam noch erkennen, sondern nur noch stellenweise erahnen konnte. Wenn man ein Auge für solche Dinge hat, kann man in den erhaltenen Kleidern (und auch in neuen Handarbeiten aus Heimproduktion) sehr schöne Muster finden.

Die Aufgabe für heute: 5 x 15 cm2 Leinen selbst besticken. Ich soll sticken??? Na wunderbar. Ich brauche ja schon eine ewige Zeit, um den vermaledeiten Faden überhaupt durch das Nadelöhr zu pressen. Und wie soll das jetzt laufen? Ich verstehe die Arbeitsanweisung nicht, weil hier Bewegungsabläufe beschrieben werden, unter denen ich mir nichts vorstellen kann. Dr. „Dragon“ Chen kommt damit auch nicht wirklich klar.
Wenn Du das gut machst, überlege ich mir, ob ich mich von Dir operieren lasse“, sagt Sawada-sensei schmunzelnd.
Einen Blinddarm zu entfernen ist viel leichter als das hier!“ sagt Chen. Und während ich noch an der Vorlage herumrätsele, nach der wir das Muster eingeben sollen, sieht sie sich noch einmal seine Arbeit an und meint: „Ich glaube, ich lasse mich lieber nicht von Dir zunähen…

Natürlich machen hier alle Scherze über die Bemühungen der weniger Begabten. Chen bringt auf Anhieb nichts zustande, ich habe nach einer Stunde endlich die Grundlinie fertig (und es werden Fotos von meinem hochkonzentriert anmutenden Gesicht gemacht), und SangSu stickt ein arg abstraktes Bild von seinem Hund in das Stück Leinen. „Der ist weggelaufen, bevor ich nach Japan gekommen bin,“ sagt er, „und ich hoffe, dass er dadurch wieder zurückkommt.“ Und dann plappert er wieder drauf los, von seinem Hund, und davon, wie man Kitahara-sensei eine besondere Freude machen könnte, indem man „K.K.“ (für Kitahara Kanako) in das Leinen stickt. Er sorgt für allgemeine Belustigung.

Am Ende der Stunde muss ich mein mühsam zusammengepuzzeltes Werk wieder lösen, weil ich mich bei der Reihenfolge der Einstichlöcher verzählt habe. Als Hausaufgabe sollen wir es für die nächste Stunde fertig haben. Ich kann mir wirklich angenehmere Beschäftigungen für meine Mußestunden vorstellen. Und die Vorlagen gehen mir auf den Senkel… warum soll ich hier unbedingt reproduzieren, was andere bereits gemacht haben? Aber nein, wir dürften auch gerne individuelle Muster entwerfen, wenn wir uns kreativ genug fühlten, sagt Sawada-sensei. Na, dann weiß ich natürlich binnen 30 Sekunden, was ich mit meinem Stück Leinen mache… nein, ich werde nichtHentaiman“, „Black Death“, „der Extreme“ oder „42317“ in das Leinen sticken. ?

Habe ich heute Yui vergessen? Ich bin nach dem Unterricht sofort in die Bibliothek gegangen, anstatt erst in der Halle vorbeizusehen. Ich glaube aber zumindest, dass sie nicht angerufen hat, um zu fragen, wo ich bleibe. Und ich glaube das nur, weil ich bei meiner Beschäftigung am Computer für gewöhnlich Kopfhörer trage und Musik höre. Keine Chance für das Telefon.

Als ich am Abend vom Einkaufen zurückkomme, findet sich eine lohnende Tätigkeit fürs Wochenende. Jin Eiko ruft mich an und bittet mich in einem für mich geradezu peinlich langsamem Japanisch, am Samstag auf eine kleine Party des „Hippo Family Clubs“ zu kommen, zusammen mit Melanie. Ich solle um 16:30 am „Dotemachi Square“ sein. Die Uni hat diese Feierlichkeit nicht angekündigt, also gehe ich diesmal von einem wirklich kleinen Rahmen aus, also Gastfamilien und die zugehörigen Studenten.

Am Abend läuft im Fernsehen (wieder) ein Bericht über die Situation in Peking. Alles, was ich verstehe, ist, dass sich eine Handvoll japanischer Austauschstudenten wohl irgendetwas ungebührliches geleistet hat, was die chinesischen Gemüter so sehr erregt, dass 2000 Leute (hauptsächlich Studenten, wie mir scheint) auf die Straße gehen und lauthals demonstrieren. „Apologize! Apologize!“ brüllen sie. Auf Englisch. Damit die internationale Presse das auch versteht. Sie tragen auch Transparente in englischer Sprache, auf denen Parolen wie „Japaner raus!“ zu lesen und japanfeindliche grafische Darstellungen zu sehen sind. So langsam interessiert mich, was da los ist. Haben die Jungs an eine Mao-Statue gepinkelt? Oder eine ausschweifende Orgie gefeiert (wie die japanischen Geschäftsleute in Shanghai, was dieser Tage ebenfalls in der „Japan Times“ zu lesen ist)? Ich werde Sawada-sensei fragen, sobald ich dazu komme.

Die TV-Zeitschrift beinhaltet in dieser Woche einen Extrabericht über den von mir bereits beschriebenen „Tai Ginseng“. Da ist zu lesen, dass die Serie bereits seit 1969 existiert, mittlerweile mit dem fünften Hauptdarsteller, und bis etwa 1993 wurde sie in Schwarzweiß gedreht!? 1000 Episoden gibt es davon inzwischen, und aus diesem Grund soll demnächst ein „Movie Special“ gezeigt werden. Ich frage mich, wie man dieses Konzept 1000 Episoden lang durchhalten kann. So viel Abwechslung kann es doch nicht geben… man müsste ja annähernd ebenso viele verschiedene Berufe auffahren, für die Leute, die gerettet werden sollen. Aus den Fängen gieriger Feudalherren. Gibt es davon eigentlich so viele? Immerhin sehe ich, dass andauernd Samurai gemaßregelt werden, die mindestens aus der „mittleren Führungsebene“ stammen, wie man sagen könnte. Die Position der gezeigten Gegner scheint mir jeweils in die „Top 5“ des jeweiligen Clans zu gehören. Wie viele gab es davon?

Übrigens ist die Ninja-Xena in dem Lack-Leder-Polyester-Dress bereits seit Anfang der Achtziger dabei (mindestens) und ist dieses Jahr 53 Jahre alt geworden. Sie dürfte damit das älteste Mitglied der Wandertruppe, dieser japanischen „Spezialisten unterwegs“ sein, denn der Hauptdarsteller ist deutlich jünger als sie. Sein Alter wird nicht angegeben, aber wenn man ihn ohne Schminke sieht, erkennt man ihn erst einmal nicht wieder und man würde ihn auf Mitte Dreißig schätzen.

22. November 2023

Samstag, 22.11.2003 – Let it snow, let it snow, let it snow…

Filed under: Japan,Musik,My Life,Spiele — 42317 @ 10:32

Heute Morgen ist es zum Teil recht windig und einzelne Schneeflocken fallen vom Himmel. Es sind kleine Schneeflocken – aber es sind Schneeflocken. Es ist dem entsprechend kühl.

Die heutige Episode SailorMoon verläuft ohne große Überraschungen. Makoto und Rei streiten sich, Rei wird von Mitarbeitern ihres Vaters (der ein reicher, mächtiger, und vor allem obskurer Politiker ist) gewissermaßen aus dem Schrein ihres Großvaters entführt. Makoto rettet sie (die Wachen fliegen nur so in der Gegend rum) und alles ist wieder gut. Interessant fand ich die Jupiter-Attacke „Flower Hurricane“. Davon habe ich noch nie gehört… oder habe ich die vergessen? Mir deucht, da will jemand kreativ anstatt reproduktiv sein.

Reis Vater oder Großvater bekommt man nicht zu Gesicht. Von dem Schrein hat man allgemein noch so richtig nichts außer ein paar nichts sagenden Außenaufnahmen gesehen. Ich will auch betonen, dass der „Hikawa Jinja“ kein Tempel (= buddhistisch), sondern eben ein Schrein (= shintoistisch) ist. Und bislang fehlt da noch ein wichtiger Jemand: Yûichirô, der Schreindiener aus Leidenschaft. Ich würde sein Fehlen wirklich sehr bedauern. Vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Annäherung von Makoto und Motoki muss ich allerdings fürchten, dass hier die „Beinahe-Beziehung“ Yûichirô/Rei der Animeserie aus Gründen der „Kreativität“ durch die neue Konstellation ersetzt wird.

Abgesehen davon finde ich es ein wenig dämlich, dass die Truppe sich die meiste Zeit in einem der (Karaoke) Räume des „Crown Game Center“ trifft, anstatt im Schrein. Okay, Luna hat den Mädels auf geheimnisvolle Art und Weise Dauerkarten für kostenlosen Zutritt verschafft, aber das wirkt an den Haaren herbeigezogen, und es ist nicht das gleiche, die Stimmung ist total anders, weil der Karaoke Raum widerlich künstlich aussieht, im Gegensatz zu der gediegenen Atmosphäre eines Schreins. Aber selbst wenn die fünf Freundinnen die Raummiete im Game Center zahlen müssten, würde das wohl nicht so sehr ins Gewicht fallen, wie man meinen könnte… am Tisch sitzen ja Usagi, Ami, Rei und Makoto, und schließlich wird noch Minako dazukommen – und von den fünf genannten Personen haben zumindest vier keinerlei finanzielle Sorgen. Bis auf Usagi sind die alle „wohlhabend“ bis „reich“: Minako als gefeierter Star, Rei mit dem Vater im Hintergrund, Ami mit der Ärztin als Mutter (und dem Vater, der es sich offenbar leisten kann, lieber irgendwo in der Welt herumzureisen und Bilder zu malen, als Zeit mit seiner Tochter zu verbringen), und Makoto mit ihrer (zumindest mutmaßlichen) Waisenrente, die ihr eine geräumige Wohnung in Tokyo für sich allein erlaubt!

Venus ist noch nicht dazugekommen. Wenn sie in der kommenden Episode nicht dazustößt, steht fest, dass hier unnötig Zeit und Produktionskapital verschwendet wird – man könnte sich doch auf das Wesentliche beschränken, als ständig nur „Das Monster der Woche“ zu präsentieren. Mehr Storyentfaltung statt Leerlauf! Ich komme zu der Überzeugung, dass die derzeitige Produktion sich auf die erste Staffel beschränken wird. Natürlich mag jetzt jemand einwenden, „auf dieser und jener Seite im Internet sind die Fakten doch zu finden, warum nur vermuten?“, aber ich muss sagen, dass ich mir nicht die Mühe mache, selbst groß zu suchen. Ich weiß inzwischen, was mich interessiert. Ich weiß, dass es eine „Episode 0“ gibt (ein „Making Of“), ich kenne die Namen der Hauptdarstellerinnen auswendig, nachdem ich sie zweimal angesehen habe (wenn mir doch nur alles so gut merken könnte, wie die Namen hübscher Frauen!) und ich habe mir die Geburtsdaten der Mädels mal angesehen – die Hauptdarstellerinnen sind zwischen 1986 und 1988 geboren, also durchaus passend für diese Rollen.

Ein Blick auf meine finanzielle Entwicklung: Am Ende des Monats scheint mir exakt so viel Geld übrig zu bleiben, wie der Anteil Melanies an den Gesamtkosten wert ist – wäre ich alleine hier, hätte ich also gerade genug zum Überleben und ab und zu einen Keks als Sonderration an Sonntagen… Ich empfehle allen meinen Nachfolgern, sich eine Wohnung mit jemandem zu teilen. Wenn man das nicht will und wenn auch nicht übermäßig viel Platz braucht, sollte man keine zwei Zimmer nehmen – eine Einzimmerwohnung reicht voll und ganz aus, und spart ein paar Tausend Yen Miete. Melanie und ich verwenden unser Tatamizimmer z.B. nur als Schlafzimmer und für sonst nichts. Rein materiell betrachtet kämen wir auch mit einem einzigen Raum aus. Der einzige konkrete Vorteil des zweiten Raumes ist der zweite Schrank, der sich darin befindet. Müssten wir die Futons zusammen mit den anderen Sachen in einem einzigen Schrank unterbringen, hätten wir ein Platzproblem. Andererseits wird die eine oder andere Ecke auch noch nicht wirklich effektiv ausgenutzt, wie z.B. das kleine Schrankfach über dem Hauptschrank. Wenn man die ganzen Kartons wegwirft, könnte man da noch einiges hineintun.

Aber was hilft das Klagen (eigentlich will ich mich gar nicht beschweren!), es ist so, wie es ist. Und der wahre Vorteil eines zweiten Raumes ist die Rückzugsmöglichkeit, die er bietet. Andauernd auf Tuchfühlung zusammen zu sein, führt zwangsweise zu Spannungen, die ich zur Erhaltung meiner Beziehung eigentlich vermeiden möchte.

Übrigens muss man nicht gleich verzweifeln, nur weil man zuhause niemanden findet, mit dem man zusammenwohnen möchte oder kann, weil man vielleicht der einzige von seiner Heimatuni ist, der hierher kommt. Es gibt hier genügend Möglichkeiten. Misi hat anfangs ebenfalls nach jemandem für eine 2er-WG gesucht (aber niemanden gefunden, ähem…), aber Mei z.B. hat eine weitere Chinesin gefunden, BiRei, die bereit war, mit ihr eine Wohnung zu teilen. Und mir scheint, die kommen gut miteinander aus.

Aus Tokyo höre ich, dass es dort kaum (oder keine?) „Internationale Feste“ gebe. Wie soll ich diese Meldung interpretieren? Was soll ich denn in Tokyo, wenn die ach so guten Universitäten dort es nicht für notwendig (oder erschwinglich) betrachten, den kulturellen Austausch etwas in Gang zu bringen? Ich finde das reichlich traurig. Dann wundert mich wenig, dass sich unter den vertretenen Ethnien „geschlossene Gesellschaften“ bilden. Wohl dem, der genügend Landsleute zur Auswahl hat! Wenn man mit einzelnen Exemplaren nicht zurecht kommt, kann man sich auch an andere wenden. Wenn man dagegen einen kurzen Strohhalm gezogen hat, vielleicht der einzige aus seinem Heimatland ist oder mit seinen Landsleuten nicht zurechtkommt, dann hat man verloren. Es ist nicht jedermanns Sache, von sich aus auf fremde Leute zuzugehen, um Kontakte zu knüpfen. Und wenn das nicht gelingt oder unterlassen wird, könnte das Austauschjahr eine widerlich einsame und lange Zeit werden.

Ich bin der Meinung, dass die Universitäten den Studierenden unter die Arme greifen sollten, damit diese irgendwo sozialen Anschluss finden. Und das nicht nur bei Japanern, sondern auch untereinander. Wann erhält man schon eine Gelegenheit, sich unter einen derart internationalen Haufen zu mischen? Ich habe das Gefühl, dass die vertretenen Nationen hier interessanter (weil für mich exotischer) sind, als das, was sich z.B. in Trier tummelt (obwohl dort die gleichen vertreten sind). Aber das ist nur meine persönliche, subjektive Meinung. Vielleicht bedarf es dafür einer „anleitenden“ Institution. Und das hiesige Ryûgakusei Center erfüllt diese Aufgabe sehr vorbildlich.

Wenn man eine zurückgezogene Natur ist, die nicht von alleine Kontakte sucht (aber dennoch braucht), muss man doch in Tokyo vereinsamen – oder sehe ich das falsch? Ich persönlich komme damit zurecht, nur oberflächliche Kontakte zu haben, weil ich mich auch mit mir selbst genug beschäftigen kann – aber ich bin ja auch „Der Extreme“. Wer also mehr Wert auf soziale Kontakte legt, als auf die – wie soll ich sagen? – infrastrukturellen Vorteile der Megalopole Tokyo, der komme ruhig nach Hirosaki. Ich habe es bisher in keiner Weise bereut.1
Aber der Winter kommt ja erst noch.

Um zehn Uhr am Morgen kommt SangSu die Treppe hoch und klingelt an meiner Tür – um mir zu sagen, dass es schneit. Ich bin erst ein wenig verwirrt, weil er wegen dieses banalen Umstandes extra vorbeikommt, aber ich empfinde es als eine freundschaftliche Geste. Bei der Gelegenheit kläre ich ihn darüber auf, dass ich kein „-san“, sondern ein „-kun“ bin. Wenn ich irgendwann einmal reich und wichtig sein sollte, darf er mich gerne „Dominik-san“ nennen, aber jetzt reicht mir „Dominik-kun“.2

Wegen der Stimmen auf dem „Flur“ steckt SongMin den verschlafenen Kopf zur Tür raus und redet ein paar Sätze mit SangSu, und das mit einer „Ich bin gerade erst wach geworden“ Stimme, die so niedlich und süß ist, dass ich auf der Stelle Karies kriegen könnte. Danach verschwindet sie wieder hinter der Wohnungstür. Bevor SangSu geht, biete ich ihm an, am Abend doch mit SongMin und Jû bei mir vorbeizukommen, um vielleicht einen Schluck zu trinken und ein bisschen zu „plaudern“, wie man so schön sagt. Er will warten, bis SongMin endgültig ansprechbar ist und Jû überhaupt wach wird (der lernt immer bis drei oder vier Uhr morgens) und verspricht, die beiden zu fragen.

Drei Stunden später treffe ich ihn in der Bibliothek wieder und SangSu teilt mir mit, dass Misi für diesen Abend bereits eine Party geplant habe. Ich habe auch nichts dagegen, da hinzugehen. Bis 1700 schreibe ich drei Berichte und treffe danach Melanie, weil wir zum Ito Yôkadô fahren wollen. Dort befindet sich der Busbahnhof und wir bringen in Erfahrung, wie viel der Trip nach Tokyo mit dem Nachtbus kosten würde. 19.000 Yen wären für Hin- und Rückfahrt zu zahlen, also etwas über 140 E. Das ist nicht wenig, vor allem gerade jetzt, wo ich noch kaum Geld angespart habe. Mein Plan war, bis zum Sommer etwas Geld zurückzulegen, um dann nach Tokyo zu fahren, um auch kommerziell etwas davon zu haben. Meine Geldreserven belaufen sich auf gerade 30.000 Yen, vielleicht ein bisschen mehr, aber 35.000 sind eine großzügige Schätzung. Melanies Planung läuft ja darauf hinaus, über Weihnachten nach Tokyo zu fahren, um mit Ronald und Ricci zusammen Weihnachten verbringen zu können. Natürlich gehen unsere Meinungen da weit auseinander. Für mich ist Weihnachten kein besonderer Tag, also hätte ich nichts dagegen, die kommenden Semesterferien im Frühjahr abzuwarten, um zu fahren. Ich will meine Freunde in Tokyo ebenfalls sehen, aber ich brauche nicht Weihnachten als Anlass. Zwei Monate später ist doch auch in Ordnung, Hauptsache, ich sehe die zwei überhaupt – oder nicht? Auf jeden Fall hätte ich dann auch die notwendigen Reserven, um in Tokyo auch ein paar sehenswerte Dinge besuchen zu können, anstatt mich auf ein Minimum beschränken zu müssen. Natürlich sieht Melanie das völlig anders. Weihnachten sei nun einmal Weihnachten, das sei etwas ganz besonderes und man solle diese Tage mit besonderen Menschen verbringen. Ein Besuch im Februar zum Beispiel sei nicht das Gleiche. Aha, wie soll ich das verstehen? Sind die Freunde weniger besondere Menschen, weil zufällig gerade nicht Weihnachten ist? Ich würde mich immer freuen – aber ich muss doch auch der (finanziellen) Realität Tribut zollen. Wenn ich jetzt nach Tokyo fahre, bin ich nachher pleite, und ich muss vielleicht noch einmal hinfahren, um die Besichtigungen zu machen, die mir so vorschweben. Also doppelte Ausgaben. Das schmeckt mir nicht. Vor allem eingedenk der Tatsache, dass ich möglichst viel Geld auch zurück nach Deutschland nehmen muss, weil ich sonst kein Geld mehr haben werde, um überhaupt meinen Semesterbeitrag zahlen zu können (der zufällig ebenso hoch ist, wie der Preis einer Fahrt nach Tokyo).

Ich könnte – oder muss – meine Internetverkäufe verstärken, damit Geld in die Kasse kommt, aber die Chancen stehen nicht schlecht, dass diese jetzt geplante Reise nach Tokyo die einzige, und mangels Geld eine relativ magere bleiben wird.3

Ein Argument muss ich allerdings anerkennen: Ronalds Stipendium läuft am Ende des Wintersemesters aus, und es ist wahrscheinlich, dass er danach sofort zurück nach Deutschland fliegt. Also gäbe es keinen Zeitraum außer um Weihnachten, ihn noch einmal zu sehen, bevor ich wieder bis Oktober 2004 warten müsste… also sei es.

Man lebt nur einmal und wenn mir morgen ein Ziegelstein auf den Kopf fällt, habe ich von keinem gesparten Geld der Welt mehr etwas. Also folge ich einer feudalen „Tradition“ und mache mich bei einem „Edo sanpô“ („Gang nach Edo“ = Tokyo) arm. Schließlich bin ich der Schwarze Samurai.4

Nach der Preisinformation gehen wir ins Ito Yôkadô, weil Melanie weitere Bilder von uns machen möchte – „Purikura“, die man noch selbst an einem an der Kabine integrierten Computer bearbeiten kann, um lustige Fotos daraus zu machen.5 Wahrscheinlich habe ich darüber bereits geschrieben, also gehe ich nicht weiter auf dieses behämmerte Thema ein – Purikura sind für Kinder! Und von dieser Meinung werde ich in absehbarer Zeit nicht abweichen. Unter Teenagern erfreut sich dieses „Spiel“ jedenfalls der größten Beliebtheit, wie mir scheint.

Der Automat, den Melanie verwenden möchte, ist gerade besetzt, also setze ich mich in die CD Abteilung ab, um auch mal nach den CDs zu forschen, nach denen man mich bereits gefragt hat. Aber ich muss das anders anpacken. Ich finde auf eigene Faust nicht sonderlich viel, und ich will den Angestellten nicht nach allem auf einmal fragen… auch – oder vor allem? – um meinetwillen. Am besten schreibe ich einzelne Zettel mit den Interpreten und besorge mir etwas Vokabular, dass in einer CD Abteilung von Nutzen sein könnte. Am besten fange ich mal mit „bestellen“ an.

Ich finde auch Material, das mich selbst interessieren würde. Eine CD von Ogata Megumi… „Stop and Go“. Habe ich noch nie von gehört. So wie die CDs hier verpackt sind, muss ich annehmen, dass Deutschland den Japanern eine Serviceleistung voraus hat – offenbar kann man eine beliebige CD nicht einfach so anhören. Aber vielleicht hätte ich fragen sollen, anstatt es nur zu vermuten. Ich merke mir die CD einmal. Ah, Hayashibara Megumi findet sich auch, aber nur Singles, mit Ausnahme von „Fuwari“. Was soll ich mit Singles? Ich mache mir eine Notiz für „Fuwari“. Oha, da ist der „ANIMETAL MARATHON“… Nummer Fünf??? Dann habe ich ja einiges verpasst. Aber den nehme ich sofort mit, koste es, was es wolle. Und wenn ich schon dabei bin, nehme ich mir auch eine CD mit dem gaaanz alten „Cutey Honey“ Soundtrack mit. Dem kann ich jetzt nicht widerstehen. Oh, da steht der komplette „Sakura Taisen“ Soundtrack… teuer… aber vorgemerkt.

Dann ist der Automat endlich frei. Melanie darf die Bilder alleine bearbeiten. Mir fehlt das Verständnis dafür, was daran so toll sein soll. Mir fehlt das Interesse, also spiele ich eine Runde „Point Blank“, bzw. es ist wohl eines der Spiele aus der Reihe, und es heißt „Gun Barl“. Barl? Barrel? Japlish? Egal, die Pistole erweist sich als schlecht eingestellt und außerdem ist das Kabel zum Automaten nicht für jemanden gemacht, der größer als 170 cm ist.

Daneben steht ein Automat für ein weiteres Spiel. Und das ist seltsam. Man muss extra Spielmünzen dafür aus einem Automaten ziehen. 100 Yen geben 10 solcher Spielmünzen, „special coins“ (SC) genannt. Der Automat besteht aus einem Glaskasten und sieht ein wenig wie ein Aquarium aus. In dem Kasten bewegt sich ein Schieber vor und zurück, der bis zu einem gewissen Punkt die eingeworfenen Spielmünzen auf den Rand einer Ablage zuschiebt. Man lässt die SC über eine Schiene in den Automaten hineinrollen, und zwar hinter die bereits liegenden Münzen. Die neu eingerollte Münze kommt zum liegen und der Schieber drückt sie gegen die anderen Münzen, die ihrerseits nach vorne geschoben werden und die vordersten Münzen über den Rand hinausschieben. Sinn ist es nun, mehr Münzen aus dem Automaten herauszuholen, als man hineinwirft – wer hätte das gedacht? Machbar ist das eigentlich nur mit dem richtigen Timing. Wann man überhaupt zu spielen beginnt, heißt das. Die Münzen fallen nämlich nicht nur in den Ausgabeschacht, sondern auch in einen Jackpot. Befindet sich darin eine gewisse Menge an Münzen, wird ein sauberer Stapel mit dreißig Münzen auf die Ablage vor dem Schieber geschoben, oder aber ein wilder Haufen von vielleicht 50 Münzen auf die Ablage ausgeschüttet. Man sollte also nur dann spielen, wenn dieser Stapel, bzw. der Haufen, sich bereits sehr nahe am Rand der Ablage befindet. Das war bei mir der Fall – sonst wäre ich nicht auf die Idee gekommen, es zu versuchen. Nach dem Einsatz von fünf Münzen habe ich etwa 40 zusätzlich gewonnen, ich habe also 45 in der Hand. Ginge es hier um 10-Yen-Münzen, wäre die Sache in Ordnung und ich nach Hause gegangen, aber es sind ja Spielmünzen. Was soll ich mit dem Müll? Man kann diese Münzen nur in den Kinder-Pachinko-Automaten werfen, die ganzen anderen Spiele funktionieren alle nur mit 100-Yen-Münzen. Also bleibe ich noch eine Zeitlang und verspiele meine ganzen Münzen. Melanie findet es interessant, nachdem sie mit den Bildern fertig ist, und steuert noch einmal zehn Münzen bei, aber dabei kommt nichts Sinnvolles heraus, weil sich keine Münzenansammlung an einem kritischen Punkt befindet.

Anschließend gehen wir ins Daiei und kaufen Getränke und etwas zu Knabbern für unser Erscheinen bei Misi. Wir haben aber auch Hunger und gehen deshalb vorher noch ins Sukiya und essen eine Schüssel Gyûdon. Im Prinzip handelt es sich dabei um eine Schüssel mit Reis, der unter dünnen Fleischstreifen versteckt ist. Ich war mit Yui einmal hier, als ich meinen Futon gekauft habe.

Dort ruft mich SangSu an. Es ist 19:40, und, ja, eigentlich hätte ich mich schon vor zehn Minuten mit ihm treffen sollen, um zu Misi zu gehen. Ja, aber ich wolle erst was essen. Er könne also losfahren oder gehen. Vielleicht besser „gehen“, denn während des Nachmittags hat es zu schneien begonnen und es hat sich eine mehrere Zentimeter dicke Schneedecke gebildet. Fahrradfahren wird zu gefährlich, aber wir können unsere Fahrräder auch nicht beim Sukiya stehen lassen. Also fahren wir betont langsam und vorsichtig zu Misis Haus.

Wir treffen um 20:15 dort ein. Anwesend sind dort dann Alex (Rumänien), Mélanie (Frankreich), Ramona, Luba, Arpi (Slowakei), Paola (Chile), Irena (Slowenien), SangSu (Korea), Glenn (Philippinen), Misi (Ungarn), Melanie und ich. SangSu hat was zu trinken aus Korea mitgebracht, und auf der Flasche steht „Jinro“ und „25 %“ drauf. Es riecht nach dem Zeug, was man im Krankenhaus zum Desinfizieren verwendet, und der Geschmack überzeugt mich auch nicht davon, dass SangSu sich nicht im hiesigen Krankenhaus bedient hat. Er sagt, man trinke das am besten mit Orangensaft. Leider haben wir aber keinen. Und Jinro schmeckt pur absolut langweilig. Und davon, dass Alkohol drin ist, merke ich auch nichts, obwohl ich kein regelmäßiger Trinker bin. Alex schlägt das Produkt aus Korea – mit einem selbst gebrannten Pflaumenschnaps aus Rumänien, den er in seinem Handgepäck ins Land geschmuggelt hat. Die Hälfte vom Inhalt sei Alkohol, sagt er. Ah ja, dann lass mal probieren, schließlich ist alles besser als Jinro. Das rumänische Produkt ist glasklar und schmeckt in der Tat nach Pflaume. Man spürt, dass Alkohol darin ist, es ist ein sanftes Brennen, dass den Hals hinunter in den Magen gleitet, wo sich anschließend eine wohlige Wärme ausbreitet. Sehr angenehm zu trinken, wirklich. Dabei mag ich eigentlich gar keinen Schnaps… aber ich vertilge zwischen 50 und 100 ml davon. Zumindest behaupte ich, dass es angenehm zu trinken sei. Die Mehrzahl der übrigen Leute sagt, dass es ein scharfes Zeug sei, was Alex da produziert habe. Leider habe ich vergessen, wie das Getränk heißt… ich hätte es aufschreiben sollen, als ich den Namen noch im Ohr hatte.

Nebenbei erfahre ich, dass wir einen VIP unter uns haben. Ich hatte mir irgendeinen Scherz erlaubt, worauf Misi mich angrinst und sagt: „Sei vorsichtig, wie Du mit dem redest – der fummelt an Gehirnen rum!“

Arpi, „Mr. Minority“, ist ein Ungar mit einem slowakischen Pass, und eine Berühmtheit, die uns mit ihrer Anwesenheit ehrt. Natürlich ist er nur in Fachkreisen berühmt. Der Mann ist tatsächlich promovierter Mediziner – einer der führenden Gehirnchirurgen unserer Zeit, um genau zu sein. Er führt uns auch vor, wie gut seine Hände zittern können – wenn er sich Mühe dabei gibt. Er ist ebenfalls zur Fortbildung hier.

SangSu trinkt währenddessen, als gäbe es kein Morgen. Das heißt, er ist es, der den Großteil des Jinro und etwa die Hälfte des Pflaumenschnapses in sich hineinschüttet. Für einen schmal gebauten Koreaner reicht das aus. Er wird sehr lustig, nimmt Irena und Glen bei den Händen und beginnt ein wenig zu singen und zu schunkeln. Um etwa 22:45 muss er wohl auf die Toilette, aber er biegt falsch ab und landet an der Haustür. Misi will nicht, dass er an die Haustuer pinkelt, schon gar nicht an die Innenseite, also folgt er ihm sicherheitshalber. Knapp zehn Minuten später sind die beiden zurück. SangSu hat sich, aus welchem Grund auch immer, auf sein Fahrrad gesetzt und ist einige Meter weit gefahren, bevor er das Gleichgewicht verlor und auf den kalten Boden fiel. Er hat Abschürfungen am rechten Ellenbogen und sein linkes Hosenbein ist völlig durchnässt. Aber er spürt absolut nichts davon und trinkt in einem Zug den Rest von dem rumänischen Schnaps aus.

Um 23:35 (ich habe auf die Uhr gesehen) ist dann Schluss. Er will nach Hause. Es ist auch nichts mehr zu trinken da, also ziehen wir ihm seine Jacke an, packen ihn an den Armen und stützen ihn auf dem Weg nach Hause. Es ist also wirklich sein Vorteil, dass er mit uns im gleichen Haus wohnt. Die Fahrräder lassen wir bei Misi stehen, es hätte keinen Zweck, sie mitzunehmen. Erstens liegt Schnee und zweitens bringen wir einen sehr betrunkenen und nicht gehfähigen Koreaner ins Bett. Drei Fahrräder kann man nicht gleichzeitig befördern. Wir kommen morgen wieder und holen sie ab.

Im Endeffekt tragen wir ihn mehr, als wir ihn nur stützen. Außerdem labert er die ganze Zeit vor sich hin. Auf Japanisch. Ich hätte jetzt erwartet, dass er im Rauschzustand zu Koreanisch zurückkehren würde, aber er redet Japanisch. Wenn auch nur eine Handvoll Vokabeln. „Demo… daijôbu!“ („Aber… mir geht’s gut!“) wird uns wohl noch lange im Gedächtnis bleiben. Und er habe ein schönes Gesicht, behauptet er von sich, „Watashi wa… kirei kao!“ Dann stellt er fest, dass auch wir schöne Gesichter haben und fünf Minuten darauf ist die ganze Welt bevölkert von Menschen mit schönen Gesichtern. Eine Dame, die ihren Hund spazieren führt, weicht uns vorsichtig aus. Ich kann sie auch ein wenig verstehen. Ich entschuldige mich im Vorbeigehen schnell für die Unhöflichkeit. Ja, SangSu, das Leben ist toll. Vor allem wenn man von dem Leiden der Welt befreit ist. Betrunken sein = Nirvana? Ach nein, das Trinken berauschender Getränke ist im Buddhismus ja untersagt. An der letzten Ampel nimmt er sich das Recht, Melanie auf die Wange zu küssen. Ich nehme mir das Recht, ihm einen moderaten Schlag mit der Handfläche an den Hinterkopf zu verpassen. Er wird sich eh nicht mehr daran erinnern.

Wir kommen schließlich zuhause an und eigentlich sind wir auch ganz froh, dass sein Apartment im Erdgeschoss liegt. Mit der untrüglichen Intuition eines Betrunkenen spürt er, dass er daheim ist. Direkt vor seiner Haustür, als Melanie gerade aufsperrt, schläft er ein. Er hat seinen Schlüssel in die Jackentasche gesteckt, und wir dachten einen Moment lang, er habe ihn verloren. Aber jetzt ist er weg vom Fenster. Ich überlege, ihn einfach über die Schulter zu werfen, um ihn in seine Wohnung zu befördern, da er ja nicht viel wiegt. Nicht viel mehr als einen Zentner, würde ich schätzen. Aber wenn ich ihn auf meine Schulter lege, könnte er eventuell seinen Mageninhalt auf meinem Rücken verlieren, und das möchte ich vermeiden. Also nehme ich ihn am Gürtel und schleife ihn in seine Küche, wahrend Melanie das Bett vorbereitet. Sie lässt es sich auch nicht nehmen, peinliche Bilder von ihm zu machen, wie er da praktisch bewusstlos (aber bekleidet) am Boden liegt. Und seine Wohnung muss sie auch festhalten. Eine Junggesellenbude – um es höflich auszudrücken. Hausputz dringend erforderlich. Melanie nimmt daraufhin seine Beine und ich seine Arme, und wir hieven ihn in sein Bett. Wir ziehen ihn aus, soweit notwendig, weil er nasse Füße hat und auch nicht in einer nassen Hose schlafen sollte, und decken ihn zu. Die Zimmertür lassen wir einen Spalt offen und das Licht in der Küche an, damit er problemlos den Weg zur Toilette findet, sollte es im Laufe der Nacht notwendig werden. Hoffentlich kotzt er nicht in sein Bett…

Nachdem wir dann gegangen sind, wartet 20 Meter weiter bereits die nächste Zufallsbegegnung. Jû und SongMin stehen auf dem Gang rum, dick in Jacken eingepackt. Wir klären sie schnell darüber auf, was vorgefallen ist und bitten sie, am folgenden Morgen nach ihm da unten zu sehen. Seine Wohnungstür sei offen, der Schlüssel liege auf der Ablage neben seinem Bett. Ja das sei in Ordnung, und sie bedanken sich, dass wir ihren Landsmann nach Hause gebracht haben. Und sie vergessen auch nicht, sich für die Unannehmlichkeiten zu entschuldigen. Schon in Ordnung. Aber warum die nächtlich Versammlung in dicken Winterjacken? Sie seien von dem plötzlichen Kälteeinbruch überrascht worden und hätten noch kein Öl gekauft. SongMin habe zwar einen elektrisch heizbaren Futon, aber dennoch sei es unerträglich kalt. Man kann m.E. darüber streiten, was „unerträglich“ denn nun sei, aber ich biete den beiden an, von meinem Öl etwas zu nehmen, damit sie übers Wochenende heizen könnten. Nein, das sei schon in Ordnung. Aha, und am Montag ist Feiertag, so weit ich weiß. Es würde ein kaltes und ungemütliches Wochenende werden. Er wolle es bei der Tankstelle versuchen. Nein, muss ich einwenden, die verkaufen kein Kerosin, sondern nur Diesel, und auf den Öfen sei groß aufgedruckt, dass man eben keinen Dieseltreibstoff verwenden dürfe. Die Diskussion wogt hin und her, bis ich schließlich nicht mehr diskutieren will. Ich mache eine fordernde Geste mit der Hand und sage ihm „Tanku wo dashite!“ („Los, schieb den Tank rüber!“). „Ee, kowai!“, sagt Jû und lacht, aber dann holen die zwei endlich ihre Kerosintanks aus den Öfen. Ich gebe jedem von ihnen etwa zwei bis drei Liter Öl, das reicht für knapp eine Woche. Was ich denn nun dafür haben wolle? Nichts eigentlich – aber das ist keine akzeptierte Antwort. Also gut, sagen wir 200 Yen. Dabei dachte ich an 100 Yen pro Nase, aber jeder kommt mit zwei 100er Münzen zu mir. Auch egal jetzt. Ich bin müde und will in mein Bett und nicht um 200 Yen diskutieren. Obwohl ich mir ein bisschen schlecht dabei vorkomme, weil man für 400 Yen etwa 10 Liter Öl bekommt.

Also haben wir heute gleich alle Koreaner in unserem Haus auf einmal „gerettet“. Ich setze mich an den Schreibtisch und halte meine Eindrücke vom heutigen Tag fest, bevor ich die Hälfte wieder vergesse. Das ist jetzt wichtiger, als mein Bedürfnis nach Schlaf. Morgen ist sowieso ein freier Tag. Um 01:50 bin ich fertig damit – und ich freue mich darauf, diesen Newsletter zu schreiben. Es ist spät. Morgen kann (und sollte) ich wohl ausschlafen. Oh ja, der Montag ist ja ebenfalls frei… dann kann ich ja wirklich beruhigt unter meine Decke kriechen.

1 Osaka scheint – vertreten durch die Osaka Gakuin – eine gute Alternative zu Hirosaki zu sein. Osaka bietet nämlich „Homestay“, i.e. Wohnen in der Gastfamilie.

2 Ebenfalls eine Misskonzeption meinerseits. „-kun“ wird in der Hierarchie von oben nach unten verwendet, nicht unter Gleichgestellten; und wenn doch, dann nur in der Dritten Person.

3 Die Realität zeigte mir jedoch einen gangbaren Mittelweg und alles kam besser, als befürchtet…

4 „Schwarz“ ist ja nun mein Familienname. „Dominik“ wiederum ist Latein und bedeutet „der seinem Herrn dient“; „dienen“ auf Japanisch ist „haberu“ und es schreibt sich mit dem Schriftzeichen „Samurai“.

5 „PuriKura“ ist die japanisierte Abkürzung für „Print Club“.

4. Oktober 2023

Samstag, 04.10.2003 – Klischees und Realitäten

Filed under: Japan,My Life — 42317 @ 8:28

Der Tag beginnt – heute um 07:00, Sonnenschein durchs Fenster – schön. Ich bin auch sehr gespannt, den neuen Reiskocher auszutesten. Fünf Go Reis passen hinein, ich glaube, das sind etwa 900 ml Material, zzgl. etwa vier Liter Wasser, die man dann zum Kochen braucht.1 Professor Fuhrt sagte ja, dass zwei Go ganz bequem für zwei Personen ausreichten. Wenn er das sagt, wird es wohl stimmen. Im Gegensatz zu mir kann er sich unter dem gekochten Endergebnis von zwei Go trockenem Reis ja etwas vorstellen. Der Kocher wird auf jeden Fall genug Reis liefern, auch wenn wir mal drei oder vier Leute zum Essen hier haben sollten.

Abnehmen scheint hier recht leicht zu sein, obwohl die Ramen-Suppe nicht den Eindruck macht, kalorienarm zu sein, aber seit meiner Ankunft vor etwa einer Woche habe ich bereits 10 cm um die Gürtellinie verloren. Und mehr als ein Loch will ich am Gürtel auch gar nicht frei haben.

Heute um 15:00 sollen die ersten „Proben“ für das kommende Fest stattfinden. In unserem Fall heißt das, dass sieben oder acht wildfremde (deutsche) Leute, die sich überhaupt nicht kennen und sich gegenseitig kaum einschätzen können, einen Liedvortrag koordinieren sollen. Na Mahlzeit. Ich werde heute Morgen mit Melanie zusammen erst einmal einen Spaziergang koordinieren, das dürfte gerade so hinhauen. Ich bin schon überrascht, dass sie dem Plan so schnell und bereitwillig zustimmt… na denn los. Wir drehen die Runde durch die Apfelfelder mit obligatorischer Kostprobe, die ich vor wenigen Tagen bereits gemacht habe.

Zurück im äußeren Stadtgebiet treffen wir zufällig auf Yui, die auf dem Weg zur Bank ist. Und drei Minuten später laufen wir Misi, dem Ungarn, über den Weg, der auf der Suche nach einer Telefonzelle ist. Leider sind wir selbst noch nicht lange genug da, um ihm weiterhelfen zu können und Yui fällt auch nichts dazu ein. Ich habe auch noch gar nicht auf Telefonzellen geachtet. Wenn ich an einer vorbeigegangen bin, kann ich mich nicht daran erinnern. Es zeigte sich später, dass er eine gefunden hätte, wenn er im Folgenden in der entgegengesetzten Richtung gesucht hätte.

Übrigens hat Misi auffälligerweise ein Fahrrad. Ei, wo hat er denn das her? Es sieht nicht aus, als hätte er es beim Händler gekauft. Gebrauchte Ware sieht in Japan für gewöhnlich besser aus. Ja, das habe er auch nicht gekauft, sagt er. Er empfiehlt, nach herrenlosen Fahrrädern Ausschau zu halten, also solche mit platten Reifen, deren Kette total verrostet ist und deren Sattel bereits eine Menge Schmutz angesetzt hat, denn die sind offensichtlich lange nicht benutzt und einfach stehengelassen worden, wahrscheinlich von Leuten, die ihren Abschluss gemacht haben und den alten Drahtesel nicht mehr brauchen. Im Gegenzug empfehle ich ihm, einen kleinen Reiskocher im Daiei zu kaufen, bevor die Sonderangebote entweder ausverkauft waren oder die Aktion am 8. Oktober endete.

Ich gehe mit Melanie ebenfalls noch in den dortigen „100 Yen Shop“, um ein paar Dinge zu kaufen. So ein Laden ist an sich eine praktische Sache. Da kostet alles nur 100 Yen, zzgl. der Steuern in Höhe von fünf Prozent. Natürlich bieten diese Läden nicht die beste Qualität, aber sie ist allemal besser, als die Qualität in den so genannten „Türkenläden“ in Deutschland, wo man ja ebenfalls massenweise Artikel zum Preis von einem Euro findet. Aber nicht nur die Qualität, sondern auch die Produktauswahl ist in Japan ganz eindeutig besser. In dem entsprechenden Geschäft gegenüber der Porta Nigra habe ich bis dato noch nichts gefunden, was mich zum Kaufen gereizt hätte. Andererseits, das muss ich zugeben, war ich auch noch nie in dem Laden, wenn ich gerade dabei war, meinen Haushalt einzurichten.

Und dieser Punkt führt mich zurück zum Wetter. Gut, ich bin erst seit einer Woche hier, aber ich habe das Gefühl, dass der Regen hierzulande nach einem festen Zeitplan fällt. Wenn es an einem Tag regnet, dann fängt es kurz nach Mittag an und regnet dann in den frühen Nachmittag. Um etwa 21:00 regnet es dann noch einmal eine Weile und dann wieder morgens um 04:00. Und wegen dieser Regenfälle sollte man einen Schirm haben, weil man seine Einkäufe eben nicht immer nach dem gegebenen Zeitplan organisieren kann, und wir verbringen dieser Tage eben nicht wenig Zeit mit Einkaufen. Nass sein zehrt auf Dauer sehr an den Nerven. Vor allem nach dem Supersommer in Deutschland muss man dieses Wetter hier schon beinahe als deprimierend empfinden. Einen „Goldenen Oktober“ scheint es hier nur streckenweise zu geben, quasi stundenweise auf die einzelnen Tage verteilt.

Dann also am Nachmittag die „Proben“ für den deutschen Beitrag zur „Welcome Party”. Wir treffen uns im Kaikan, dem Studentenwohnheim der Universität, in der Wohnung von Mareike und Tanja, die wie Ramona und die eingebürgerte Russin Luba in Bonn studieren. Die zwei leben zusammen in einer Wohnung für Ehepaare. Die zwei haben zwar nichts Intimes miteinander, haben aber dennoch, wohl auf Wunsch, dieses Apartment bekommen. Es sieht nicht schlecht aus, kommt aber ein wenig düster daher. Zumindest ist das mein Eindruck. Die Einrichtung erinnert mich auch ein bisschen an die frühen Achtziger Jahre in Deutschland. Woher ich diese Assoziation nehme, kann ich leider nicht sagen.

Die Mehrheit meiner Landsleute hier bleibt bei dem Plan, die „Ode an die Freude“ zu singen. Ich bleibe bei meinem Soloprojekt „Palästinalied“. Von daher mache ich bei den Proben auch nicht sonderlich viel und stoppe nur die Zeit, wie lange es dauert, den Text zu singen. Für mein eigenes Projekt werde ich mich bei Gelegenheit in leere Lehrsäle zurückziehen, um dort zu üben. Zuhause würde ich nur die Nachbarn stören, und ein Lied leise einzuüben, ist ja völliger Blödsinn, weil die Leistungssituation bei der Vorführung eine ganz andere ist, da ich ja laut und deutlich singen muss. Da würde ich ebenso gut gar nicht das Singen, sondern nur den Text üben können. In „freier Wildbahn“ zu üben ist mir dann doch zu peinlich, also werde ich mir Lehrsäle suchen.

Im Anschluss an diese Episode dürfen wir auch mal Marks Zimmer bewundern. Es ist zuvor JPs Zimmer gewesen und Mark sagt, er habe es im „Originalzustand“ übernommen, inklusive des starken Rauchgeruchs und einer Kakerlake, sagt er. Bei der Gelegenheit klärt er uns darüber auf, dass wir die nötigen Leistungspunkte des Semestercurriculums auch mit Sportkursen ableisten könnten. Das klingt an sich nicht uninteressant, aber… ich weiß nicht.

Auf dem Weg nach Hause sehe ich mir kurz den „GEO“ Laden an der Ecke gegenüber von der Polizeistation an der Abzweigung nach Nishihiro an. Man kann dort neue und gebrauchte Spiele ausleihen und kaufen und bekommt einiges an Material, was mit Spielen in Verbindung gebracht werden kann. Ich entdecke allerdings auch eine Reihe von „SailorMoon“ Plastikfiguren. Einen Preis kann ich auf den ersten Blick nicht ausmachen… vielleicht ist das Schild abgefallen. Ich habe derzeit eh wenig Geld, also frage ich erst gar nicht nach dem Preis. Vielleicht komme ich später mal wieder und kaufe welche, falls mir der Preis zusagt. Die Figuren sehen gut aus, aber Vinyl-Kunstwerke sind es nicht.

Als ich nach Hause komme, finde ich dort meine Versicherungskarte in der Post. Und die brauche ich, falls ich ein Bankkonto eröffnen will. Melanie braucht ein solches, um ihr Stipendium auch überwiesen bekommen zu können.

Melanie hat heute festgestellt, dass der BeniMart nach sieben Uhr abends seine Preise für Frischwaren zum Teil drastisch senkt, und verfällt daraufhin in einen wahren Kaufrausch. Sushi, Sashimi, Onigiri für insgesamt 2000 Yen. Dürfte etwa für zwei Tage reichen. Ich bin beim Fisch noch nicht recht auf den Geschmack gekommen, von daher ziehe ich derzeit noch Ramen als Abendessen vor. Aber was soll’s, wer in Japan ist, sollte auch Fisch essen. Es dürfte nirgendwo auf der Welt besseren geben.

Heute Abend ist auch mal wieder eine Portion Wäsche fällig, und was für eine schrottige Maschine das hier ist, muss ich auch erst noch herausfinden.

Waschmaschine

Nein, die ist nicht schwer zu bedienen, das Problem ist ja ein ganz anderes. Man könnte sagen, dass die Kleider schmutziger herauskommen, als man sie hineintut. Alles ist voller Fusseln, und zum Teil handelt es sich um richtig dicke Fusselknoten. Ich spiele mit dem Gedanken, zum Waschen ins Kaikan zu gehen, da es dort „richtige“ Waschmaschinen gibt, also solche, die man an der Vorderseite öffnet anstatt oben, und die auch heißes Wasser zum Waschen verwenden. Vor allem gibt es im Kaikan auch einen Trockner. Unsere Wäsche braucht bei den herrschenden Wetterverhältnissen etwa 48 Stunden zum trocken werden, und weil die Maschine bei maximalem Wasserverbrauch nur ein begrenztes Fassungsvermögen hat, muss die nächste Ladung gewaschen werden, sobald der Platz zum Aufhängen frei ist. Unser Raumklima ist also nicht unbedingt das angenehmste. Der Gedanke an das Kaikan reizt mich natürlich, aber wenn ich ruhig darüber nachdenke, blicke ich mit mehr Zuversicht in den Winter – dann ist die Wohnung nämlich geheizt. Zum Heizen ist es derzeit nicht kalt genug, aber wenn der Ofen mal dauerhaft läuft, wird unsere feuchte Kleidung sicher schneller trocknen.

Am Abend mache ich einen weiteren Spaziergang, in die örtliche Videothek. Sie hat eine Größe, wie ich sie in einem Vorort erwarten würde. Das Ordnungsprinzip erkenne ich nicht auf den ersten Blick… aber das macht ja nichts, weil ich ja nach Filmen fragen kann, die ich sehen möchte, außerdem nehme ich den Laden eh genauer in Augenschein und kann mir ja merken, wo in etwa Dinge stehen, die mich interessieren. Da steht zum Beispiel viel Anime im Hauptraum rum, auch alte Sachen. Da kann ich später noch mal reinschauen, weil mir gerade einfällt, dass ich ein ganz bestimmtes Phänomen untersuchen wollte: Ich gehe in den Nebenraum „für Männer“. Der ist natürlich nicht als „für Männer“ gekennzeichnet, sondern mit dem Hinweis „ab 18, nur für Erwachsene“.

Wenn man davon ausgeht, dass hier hauptsächlich Unterthemen vertreten sind, die sich gut verkaufen, dann sind die hiesigen Vorlieben leicht erkennbar: Uniformen. Man sollte jetzt nicht zu sehr ans Militär denken (obwohl es auch einen Streifen mit militärischem Setting gibt), sondern eine oder mehrere Stufen niedriger: Schulmädchen, Stewardessen, Krankenschwestern, Polizistinnen und allgemein junge Damen im Badeanzug, daneben auch so genannte „Avex Girls“ und „Race Queens“.

Den Begriff „Avex Girl“ kann ich nicht recht erklären. Bei „Avex“ handelt es sich um eine Firma im Medienbereich, und die weiblichen Aushängeschilder („Kanban Musume“) tragen eben eine bestimmte Art von Kleidung. Es handelt sich um ein enges, kurzes Kleid aus Plastik, wohl meist in silber-grau mit weißen Seitenstreifen, das knapp unterhalb vom Gesäß endet. Unterhalb vom Hals über dem oberen Brustbein befindet sich ein quer eiförmiger durchsichtiger Bereich, auf dessen Material „Avex“ aufgedruckt ist. Zumindest ist dies eine Beschreibung eines solchen Outfits, das ich in einem „zivilen“ Kontext im Fernsehen gesehen habe.

Race Queen“ ist möglicherweise nicht der richtige Ausdruck. Wenn man sich Bilder der „Tokyo Motor Show“, der bedeutendsten japanischen Automobilausstellung, ansieht, erhält man einen Eindruck von diesem Typus. Es handelt sich um die jungen Damen, die sich „schmückend“ auf Motorhauben räkeln, man kann sie in Automobilmagazinen der ganzen Welt sehen. Die Art von spärlicher Bekleidung, die dabei zur Schau gestellt wird, hat es hierzulande offenbar zum Fetisch gebracht.

Wie dem auch sei, Live-Action Pornografie (nennen wir die Dinge doch beim Namen) gibt es eine ganze Menge. Ich habe schon größere Sortimente in Deutschland gesehen, aber auffällig ist hier eben, dass alle Produktionen japanischer Natur sind, wohingegen man in Deutschland eine sehr internationale Auswahl findet. Aber deswegen bin ich ja gar nicht hier. Mich interessiert ja, wie es mit Hentai Anime aussieht. Will man der deutschen Antipropaganda glauben, dann machen animierte Filme dieses Genres einen bedeutenden Teil des Angebots in Japan aus. Aber damit ist es nichts. Die Realität sieht viel realistischer aus. Es mag wohl sein, dass hier mehr Animationsfilme zu finden sind, als in einer deutschen Videothek vergleichbarer Größe, aber den Anteil „bedeutend“ zu nennen, wäre eine polemische Übertreibung. Für Insider: Die Hälfte (!) von „Kite“ ist hier zu finden, des weiteren eine Staffel von „Bible Black“ und noch zwei Serien, die mir nichts sagen und mir auch nicht im Gedächtnis haften blieben. Keine Spur von „Countdown“, „Cool Devices“ oder „XYZ of Darkness“. Ich hätte zumindest eine der Serien im Regal erwartet. Alter kann keine große Rolle spielen, da „Bible Black“ ja mittlerweile ebenfalls ein gewisses Alter hat und nicht mehr als hochaktuell bezeichnet werden kann.

Die Hentai Anime Fixiertheit der Japaner, von deutschen Jugendschützern oft als warnendes Beispiel zitiert, ist in dem geschilderten Maße ganz einfach nicht vorhanden. Die Fans dieses Genres sind eine klar und eng einzugrenzende Klientel, die keineswegs als für die Allgemeinheit repräsentativ aufzufassen ist. Ein klarer Fall von Medienmanipulation. Was man feststellen kann, sind durch den kulturellen Hintergrund bedingte Geschmacksunterschiede, was die Kunden sehen wollen. Aber ein Unterschied, der eine Dämonisierung rechtfertigt, existiert m.E. nicht.

Lustig ist übrigens, dass diese Abteilung ein extra Servicefenster hat. Normalerweise geht man zur Theke am Ausgang, legt den Film vor, den man haben will, sagt, wie lange man ihn ausleihen will und bezahlt den entsprechenden Betrag. Dieses Fenster hier dient jedoch ganz eindeutig der Diskretion. Es befindet sich etwa auf Bauchhöhe und ist mit einer Klingel versehen, damit man einen Angestellten von der Haupttheke herrufen kann. Der Bezahlvorgang ist derselbe, aber der Angestellte kann das Gesicht des Kunden nicht sehen. Äußert sich auf diese Art und Weise das beinahe sprichwörtliche Schamgefühl der Japaner, unter dem Deckmantel der Wahrung der Privatsphäre? Wie dem auch sei, ich finde die Idee interessant. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ein gerade achtzehn Jahre alter junger Mann im Sommer 1995 zum ersten Mal einen solchen Film ausgeliehen hatte und dann an der offenen Theke von einer weiblichen Angestellten bedient worden war. Heute kommt mir diese Situation natürlich lustig vor, aber damals… ?

Wenn ich schon bei der Erforschung von Realität und Dämonisierung bin, könnte ich ja versuchen, Schulen zu besuchen, um mir dort ein Bild von den ach so grausamen Zuständen im japanischen Bildungswesen zu machen. Wann immer ich Schüler auf der Straße sehe, entdecke ich fröhliche Gesichter, die Jungs machen Scherze und benehmen sich so cool, wie sie’s halt hinbekommen, während die Mädchen hier nicht anders kichern als in Deutschland. Denen scheint es zumindest nicht schlecht zu gehen. Manche machen sich den Spaß und grüßen mich, den großen Ausländer, mit „Hallo“ und ich freue mich und grüße zurück. Sieht man entsprechende Reportagen im deutschen Fernsehen, könnte man meinen, alle japanischen Schüler seien hoffnungslos überarbeitet, meist depressiv und generell potentielle Selbstmörder. Liebe Freunde und Bekannte, glaubt bloß nicht, was Ihr im Fernsehen hört und seht oder in Zeitungen und Magazinen lest! Fremde Kulturen auf der anderen Seite des Erdballs zu stigmatisieren, ist leider einfacher, als den Dreck vor der eigenen Tür wegzukehren, auch wenn eine solch negative Berichterstattung über Japan vielleicht auch den an sich noblen Hintergedanken haben kann, dem deutschen Publikum mitzuteilen, dass die Umstände bei uns zuhause doch nicht so übel sind, wie der deutsche Bundesbürger es zu glauben viel zu gerne bereit ist.

1 1 Go sind 160 g Reis, 5 Go also 800 g, und um 1 Go Reis zu kochen benötigt man etwa 200 ml Wasser.

30. September 2012

Gaytal Kamikaze (Teil 13)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 16:25

Ich möchte auch einen Fall schildern, der mir ernsthaft Sorgen bereitet hat, mich aber trotz allem nichts gekostet hat. Die Angelegenheit trug sich zu, kurz nachdem ich auf die Eifeltour umgestiegen war, genau war das am 11. Oktober 2011.
An dem Tag hatte ich wegen Reparaturbedarfs des Sprinters einen gemieteten Renault zugewiesen bekommen, dessen Bedienung sich von der eines Sprinters natürlich deutlich unterscheidet.
Auf der Bundesstraße zwischen Ehrang und Quint nun, bei weniger als 55 km/h, stellte sich mir so ein Bedienproblem. Ich war kurz abgelenkt und in diesem kurzen Zeitraum war der Ford Ka vor mir wegen der rot gewordenen Ampel stehen geblieben. Als ich das bemerkte, blieb mir nur noch die Vollbremsung. Trotzdem kam es mit einem deutlichen “FUMP!” zu einer spürbaren Kollision, ich konnte sehen, wie die beiden Damen in dem Wagen vor mir durchgeschüttelt wurden.

Warnblinker an, aussteigen, Schaden besehen, Daten austauschen. So sollte es sein.
Aber erstens war kein Schaden zu entdecken. Oder… bei genauem Hinsehen zeigte das Nummernschild meines Transporters eine kaum merkliche Delle auf. Am Ford war rein gar nichts zu sehen, nicht einmal ein Kratzer am Berührungspunkt. Und zweitens: Ich war der einzige, der Daten rausrückte. Ich wusste, dass ich für den Fehler verantwortlich war, der zu der Situation geführt hatte, die mir von den übrigen Verkehrteilnehmern genervte Blicke eintrug, also gab ich der Dame meine Telefonnummer mit Namen, Nummernschild und Arbeitgeber, mit der Aufforderung, sich zu melden, falls oberflächlich nicht erkennbare Schäden gefunden würden. Dann ging die Fahrt weiter, ich sagte Peter Bescheid und bekam einen Termin beim Vermieter des Renault.
“Das ist alles???” fragte der am Nachmittag.
“Das ist alles…” antwortete ich mit Hinweis auf das unmerklich veränderte Nummernschildblech. Der Vermieter sah sich nicht genötigt, dafür Schadenersatz zu fordern. Die Tage gingen ins Land.

Im November erhielt ich zuerst einen Anruf der Polizei, in der ein Beamter mir mitteilte, dass die Fahrerin des Ford Strafanzeige wegen fahrlässiger Körperverletzung gestellt habe, “weil sie sich sonst nicht zu helfen wusste”. Sie habe ein paar Stunden nach dem Unfall über Nackenschmerzen geklagt und sei in einem örtlichen Krankenhaus behandelt worden. Dem Beamten am Telefon schien neu zu sein, dass ich der Dame alle notwendigen Kontaktdetails übergeben hatte. Sie hatte den Zettel möglicherweise verloren. Danach erreichte mich wie am Telefon vereinbart ein Schreiben, in dem ich aufgefordert wurde, meine Sicht der Dinge darzulegen. Ich schilderte meine ungeschickte Ablenkung, die quasi nicht vorhandenen Materialschäden, die bereitwillige Übergabe meiner Daten, und brachte mein Bedauern zu dem Geschehen zum Ausdruck.
Wieder vergingen Wochen.

Am 12. Januar 2012 teilte mir die Staatsanwaltschaft mit, dass das Verfahren gegen mich eingestellt sei. Wegen der Ordnungswidrigkeit eines Auffahrunfalls müsse ich jedoch möglicherweise mit einem Bußgeld von Seiten der Polizei rechnen. Die meldeten sich prompt am 17. Januar und teilten mir mit, dass auch dieses Verfahren eingestellt worden sei. Ich habe nicht damit gerechnet, schadlos aus der Sache herauszukommen, aber scheinbar hat der Bagatellschaden am Fahrzeug, dazu noch ausschließlich am Fahrzeug des Unfallverursachers, die Ermittler davon überzeugt, dass die geschädigte Dame die Einschränkung ihrer Gesundheit ein wenig übertrieben dargestellt hat.

Wenige Wochen später wurde ich mit Günther Wallraff konfrontiert. Zumindest verbal. In einer Bäckerei in Neuerburg. Ich war dorthin gegangen, weil eine in der Nähe wohnende Privatkundin, wie das in knapp 50 % der Fälle so ist, am frühen Nachmittag nicht zuhause war, und ich wollte das Paket loswerden. Man nahm es dort gern an und ließ mich versprechen, eine Benachrichtigung in den Briefkasten der Dame zu werfen.

“Haben Sie schon gehört, dass der Wallraff bei DHL war und was der dort rausgefunden hat?”
Ich muss mich beinahe geehrt fühlen, dass die Fachverkäuferin hinter der Theke davon ausging, dass ein einfacher Transportfahrer weiß, wer “der Wallraff” ist. Nein, ich wusste noch nichts von der neuesten Aktion des Grand Seigneurs des investigativen Journalismus (fand aber später raus, dass er keineswegs bei DHL, sondern bei GLS recherchiert hatte). Ihr Text lief darauf hinaus, dass ich einem ja Leid tun könne, mit dem Job, den ich da mache. Ich erklärte ihr also die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Transoflex und den anderen Paketdiensten, und je öfter ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich auf die Idee, dass man es bei Transoflex noch am besten trifft – ich glaube, meine Hauptkritikpunkte entstammen dem Geschäftsgebaren der Subunternehmer. Ich bin jedenfalls ganz zufrieden damit, dass Transoflex sich auf Geschäfts- und Stammkunden konzentriert, dass ich über 90 % meiner Arbeitszeit zu Kunden fahre, die ich jeden Tag, mehrfach pro Woche oder zumindest einmal im Monat anfahre. Ich muss also nicht das gesamte Straßennetz meines Einsatzgebiets kennen, um jeden Kunden zu finden. Hat man die Tour ein paar Mal gefahren, braucht man keinen Navi mehr, und das spart ja Zeit. Und so weiter. Nicht zuletzt handelt es sich bei dem Subunternehmen, für das ich arbeite, um einen sehr kleinen Betrieb mit etwas mehr als einem Dutzend Mitarbeitern; die Atmosphäre ist damit sicherlich besser als in den Depots, wo 60 Touren bedient werden.

Diese Begegnung in der Bäckerei war allerdings nicht die einzige “Konfrontation” mit Wallraff, noch zwei weitere Kunden sprachen mich in der Folgezeit auf diese Dokumentation an. Und nur kurz danach kam eine “Nachahmung” dazu, als ein Journalist namens Reinhard Schädler die gleiche Aktion beim angesehenen Unternehmen DHL brachte und seine Geschichte unter dem Titel “Die Paketsklaven” veröffentlichte. Auch da gab”s unter meinem Kunden einen gewissen Konversationsbedarf.
Und wie ich sagte: Ich sehe das Problem eher im Subunternehmertum als in den Statuten des Transoflex-Netzwerks. Der Konzern selbst, der der Österreichischen Post gehört, ist gar nicht so groß, ist eigentlich nur ein Verwaltungsapparat (mal abgesehen davon, dass die Kühlwarensparte “Thermomed” direkt zum Konzern gehört), der Lizenzen an Satellitendepotbetreiber wie unseren vergibt, der theoretisch ein eigenverantwortlicher Unternehmer ist, der wiederum die Touren an Fuhrunternehmer vergibt. Das heißt in “meinem” Fall genau genommen, dass der Chef des Depots Trier ein leitender Angestellter eines Unternehmers ist, der mehrere Depots subunternehmerisch von Weinheim aus (wo auch Transoflex angesiedelt ist) führt. Natürlich zahlt Transoflex den Vertragsnehmern nicht mehr als unbedingt notwendig, und über diese Vertragskette geben die Vertragsnehmer die wirtschaftlichen Zwänge nach unten weiter. Der Fahrer ist das letzte Glied der Kette, der Letzte, den die Hunde dann beißen.

Aber Geld ist ja nicht alles, was als Faktor reinspielt, obwohl sich letztendlich alles auf dieses ultimative Motivationsmittel zurückführen lässt.
Der Subunternehmer JP kauft hauptsächlich alte Kisten, die andere Paketdienste abstoßen. Er lässt sie in seiner eigenen Werkstatt wieder straßentauglich machen und vermietet sie für (angeblich) 1000 E im Monat mit Kilometerpauschale an seinen eigenen Subsubunternehmer, zum Beispiel Peter. Alte Kisten haben die Eigenschaft, dass öfters mal etwas kaputt ist, und dann muss der Subsubunternehmer den Fahrer nach dessen Feierabend oder an dessen freiem Wochenende zur Werkstatt schicken, die 125 km von Trier entfernt liegt, damit der Schaden dort gerichtet wird – und der Subunternehmer JP verdient zusätzliches Geld genau daran, dass er das Billigste vom Billigen gerade noch vor der Verschrottung gerettet hat (um es mal mehr oder minder überspitzt auszudrücken; nach meinem persönlichen Empfinden eher minder). Ein teuflisch geniales Konzept irgendwie. Dem Fahrer gegenüber wird diese Zeit- und Geldverschwendung (der Subsubunternehmer muss ja die Betriebskosten für die insgesamt 250 km lange Fahrt tragen) damit gerechtfertigt, dass dies ja selten vorkomme und dass er den Wagen schließlich auch zum Pendeln zum Arbeitsplatz und für private Kurzstrecken wie zum Einkaufen oder Möbeltransport nutzen dürfe.

Ich kann auf den privaten Teil dieser Nutzungserlaubnis bequem verzichten – aber für mich zählt jedes Wochenende, jeder Tag, an dem ich ausschlafen kann, gerade im Hinblick darauf, dass mein durchschnittlicher Arbeitstag ab halb vier Uhr morgens, bzw. ab Ankunft im Depot um fünf Uhr aus zehn bis zwölf Stunden Arbeit, sieben bis acht Stunden Schlaf und einer Stunde zum Essen besteht. In der verbliebenen Zeit, die bis zum Schlafengehen zwischen sieben und acht Uhr abends bleibt, bin ich in der Regel zu müde, um irgendwas kreatives oder sonst etwas, was ein gewisses Maß an Konzentration braucht, zu leisten. Wie ein Betrunkener, der den Weg nach Hause noch irgendwie schafft, hält meine Anspannung, die mir konzentriertes Arbeiten ermöglicht, bis zu dem Zeitpunkt, wo ich die Wohnungstür hinter mir schließe. Ab dann möchte ich oft genug nur noch da sitzen und die Wand anstarren.

Das Dumme ist, dass mir das am Wochenende oft ebenso geht. Ich habe Spiele, die ich gern mal zu Ende spielen würde, um zu sehen, wie es ausgeht, aber mir fehlt die Energie dazu. Ich spiele also nur kurzfristige Sachen, ein bisschen Counterstrike vielleicht. Man kann es jederzeit ausmachen und muss nicht groß über sein Vorgehen nachdenken; anders, als es bei Rollenspielen oder Strategiespielen in der Regel der Fall ist. Und dann ist das Wochenende vorbei und eine weitere Woche meines Lebens rast an mir vorbei, ohne dass ich viel davon merken würde. Zwischen Bett und Fahrersitz habe ich sonst kein Leben. Warum besteht mein Blog wohl in erster Linie aus Einträgen zu meinen beruflichen Abenteuern? An Wochenenden ist das etwas anderes, aber auch ein Treffen mit Freunden und Kollegen muss erst mal organisiert werden und scheitert oft in letzter Sekunde daran, dass einer krank ist oder sonst einen Grund zum Absagen hat.

Dabei lief es zu Beginn des laufenden Jahres immer besser. Ich kannte das Tourgebiet, komme mit den allermeisten meiner Kunden blendend aus (und bin auch ausgesucht höflich zu den zwei oder drei Typen, mit denen ich nicht so klarkomme), und war oft schon zwischen drei und vier Uhr zuhause. Das lief der Organisation im Betrieb scheinbar zu gut, und auch das Schicksal machte dicke Striche in meine optimistisch gewordene Arbeitszeitenrechnung. Dass Big M einen Unfall hatte war eines, dass der Kleine wegen einer Steißfistel ausfiel, etwas anderes, aber die Einsatzgebiete wurden versuchsweise verschoben, um zu sehen, ob man nicht mehr Effizienz rausholen könne.
Das lief so richtig scheiße.
Rudi bekam von mir Zemmer, Orenhofen und Speicher (und kleinere Orte wie Hosten, Auw und Herforst) und ich übernahm dafür seinen Norden, also Orte wie Oberweiler, Bickendorf, Biersdorf, Ließem, Wissmannsdorf und Rittersdorf, und seinen Süden, das heißt Kordel und Welschbillig. Man sollte eigentlich meinen, dass das nicht kompliziert ist, aber man kann einen solchen Test nicht auf ein paar Tage ansetzen und dann der Meinung sein, dass Ergebnis stünde damit fest.
Das lief zum Beispiel so, dass ich um 14 Uhr aus Waxweiler wieder herausfuhr und dann für zehn Kunden in den Bitburger Käffern noch weitere zwei Stunden benötigte. Ich bin sicher, dass sich dieser Schnitt nach einem Monat oder so deutlich gebessert hätte, aber die Disposition (das ist Mike) sah davon ab, uns weiter damit zu belasten. Rudis Fahrzeit änderte sich gar nicht (weil er sich in seinem Puff noch ebensowenig auskannte, wie mit dem für ihn neuen Gebiet) und meine erreichte wieder spürbar unangenehme Längen.
Objektiv betrachtet endete der Versuch viel zu früh und hatte in erster Linie ein Absinken der Arbeitsmoral zur Folge. In zweiter Linie könnte man als positiven Aspekt eine Erweiterung der Ortskenntnis meinerseits nennen, immerhin.

Aber weitere Dinge kündigten sich an. Natürlich wollte auch Knut mal Urlaub nehmen. Wer bot sich nach Mikes Ansicht als Vertretung besser an, als derjenige, dem man die beste Lernfähigkeit zuschrieb: ich.
An einem sonnigen Tag, an dem es sich wegen niedriger Frachtzahlen nicht lohnte, eine einzelne Tour in die Südwesteifel zu schicken, fuhr ich mit Knut durch Ehrang, Biewer und Pfalzel, durchs westliche Industriegebiet, nach Euren, Zewen, Igel, nach Newel, Butzweiler, Trierweiler, Sirzenich, Ralingen. Außer seinem Gebiet fuhren wir noch die Südhälfte meines Bereichs, zwischen Irrel und Mettendorf, wo wir um etwa 15 Uhr den letzten Kunden besuchten. Ich machte Notizen zu besonderen Situationen wie Kellerapartments oder Anliefervereinbarungen, Mittagspausenzeiten und so weiter. Ich weiß jetzt auch, wo Mikes Frau arbeitet und dass die beiden einen dicken BMW fahren. Der Lerneffekt bei der Ortskenntnis nach einem Tag mitfahren ist natürlich annähernd Null, aber die Notizen sollten sich noch als kostbar im Sinne der Zeitersparnis erweisen.

Das gab mir natürlich auch Gelegenheit, mir ein genaueres Bild von Knut zu machen, und der wäre ein brauchbares Untersuchungsobjekt der Soziolinguistik.
Er hatte zuvor eine Weile als Fahrer bei Bofrost gearbeitet und kennt daher die Eifel ebenfalls sehr gut. Er nimmt es mit seinem Auto auch sehr ernst… wenn ich einen Stapel Pakete aus dem Auto hole, mache ich die Heckklappe für gewöhnlich mit dem Fuß zu. Er sieht das gar nicht gern; ebensowenig, wie wenn ich das Datum einer negativ beurteilten Reinlichkeitsüberprüfung in den Staub auf der Karosserie schreibe.
Zwei Unfälle habe er im Leben gehabt, und die habe er nicht zu verantworten gehabt. Einmal sei ihm eine ortsfremde ältere Dame rückwärts in die Front gefahren, als die an einer Ampel die Spur wechseln wollte und dazu hinter ein neben ihr wartendes Auto gelangen musste, aber keinen Blick in den Rückspiegel warf. Bei anderer Gelegenheit habe er bei über 100 km/h mit einem Sprinter gleich zwei Rehe gleichzeitig erwischt – dem einen flog der Kopf glatt in Einzelteilen weg, während der Rest unversehrt leblos am Straßenrand zurückblieb; das andere, davor laufende, kam genau senkrecht vor den Kühler und war danach als Reh nicht mehr zu erkennen.

Knut ist des weiteren ein Partymensch. Er hört abgefahrene Technomusik und kann Genres unterscheiden, von denen ansonsten bestenfalls gründlich nachforschende Fans aus Japan je gehört haben. Seine Vorstellung von Spaß hängt mit wilden Zuckungen zusammen, die seinesgleichen für Tanz halten, und er geht auch auf entsprechende Festivals, wie zum Beispiel “Nature One”, das mir natürlich gänzlich unbekannt ist.
Wie nun kommt ein Technojünger mit einem unverbesserlichen Metalfan wie dem Engel so blendend klar? Knut ist, wie angesprochen, ein wahrer Meister der Psycholinguistik, natürlich ohne das zu wissen. Er passt seinen Kommunikationsstil gekonnt der Person an, mit der er gerade zu tun hat, während viele andere im Arbeitsumfeld nur eine Unterscheidung zwischen, sagen wir, Kunden einerseits und Kollegen andererseits treffen. Er unterscheidet scheinbar auch zwischen Gleichgestellten, ich finde das bemerkenswert. Sein Platz in der Halle ist unten beim Engel, da geht es recht ungezwungen zu. Als er mit mir unterwegs war, hatte ich das Gefühl, dass er sich in meiner Gegenwart zusammennahm, und zwar ohne, dass es zwanghaft gewirkt hätte, er schien auch weiterhin ganz locker in dieser angepassten Rolle.

Ich würde am Wochenende nicht mit ihm auf Tour gehen wollen, und ich meine jetzt nicht auf Pakettour, sondern durch lokale Kneipen wie “Lucky”s Luke”, dafür hat er ein zu ungezügeltes Verhältnis zum Alkohol. Es heißt, Big M habe ihn mal retten müssen, als Knut sich in angetrunkenem Zustand mit einer Handvoll anderer, ebenfalls nicht mehr nüchterner Wochenendler angelegt habe, aber um darüber etwas zu sagen, fehlt es mir an Informationen, denn ich glaube garantiert nicht, was mir eine einzelne Quelle zuträgt, auch wenn es “die erste Hand” ist, aus der das kommt. Knut jedenfalls macht seine Arbeit gewissenhaft und man kann sich auf ihn verlassen, und darauf kommt es mir an, selbst wenn es vielleicht Ereignisse gegeben hat, die ihn erst auf einen geradlinigen Pfad diesbezüglich zurückgebracht haben – wie gesagt: unbestätigte Geschichten.

22. Juli 2012

Gaytal-Kamikaze (Teil 11)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 18:34

Jaja, wie hältst Du’s mit der Religion? Es spricht sich herum, dass ich Atheist bin. Stan, einer unserer Bandarbeiter und aus den USA zu uns ausgewandert, reagierte darauf in einer Weise, wie man sie Amerikanern mit wenig Bildung zuschreibt:
“Was? Du verehrst Satan?”
“Nein, wenn ich Satan anbeten würde, wäre ich ein Satanist, oder? Atheist zu sein bedeutet, dass man nicht an die Existenz übernatürlicher Kräfte glaubt.”
“Du glaubst also lieber an Dich selbst… meine Söhne sind auch so.”
“Ich halte es jedenfalls für sehr unwahrscheinlich, dass es einen Gott gibt.”
“Dann musstest Du vermutlich noch keine wirklich harten Zeiten durchmachen.”
“Was meinst Du?”
“Eine schwere Krankheit zum Beispiel.”
“Nein, sowas hatte ich noch nicht.”
“Dann warte mal ab.”

Rudi jedenfalls kann sich die Welt auch nur erklären, wenn er sie auf den magischen Einfluss eines Gottes zurückführt. Die Idee, dass es KEINEN “Masterplan” für die Existenz des Universums geben könnte, passt gar nicht in seinen Kopf.
“An was glaubst Du dann?”
“Ich glaube, dass sich die Welt durch wissenschaftliche Mittel erklären lässt; und wenn uns heute das Wissen dazu fehlt, werden wir es im Laufe der Zeit sicherlich finden.”
“Du glaubst also, dass alles mit einem Urknall angefangen hat und dass wir uns aus Affen entwickelt haben? Sag mir, wo sind die Beweise dafür?”
“Da musst Du einen Physiker fragen. Oder Darwin lesen.”
“Aber die Evolutionstheorie ist schon seit 20 Jahren vernichtet! Wie kann man daran glauben?”
“Ich weiß ja nicht, wer die vernichtet haben soll, aber jedes Jahr erscheinen hunderte von wissenschaftlichen Abhandlungen, die die Evolutionstheorie stützen. Genetiker und Molekularbiologen bestätigen, dass die Evolution aus unserer DNA ablesbar ist.”
“Bist Du voll überzeugt oder meinst Du, Du könntest Deine Meinung noch ändern?”
“Natürlich kann ich meine Meinung ändern, wenn ich die Hinweise auf die Existenz übernatürlicher Kräfte entsprechend gestärkt sehe.”
“Dann setzen wir uns mal zusammen und reden darüber.”

Er setzte, was mich irgendwie freute, einen Gegenpunkt zu Stan, wenn auch unbeabsichtigt. Er erzählte von einer Freundin, deren Arbeitskollegin einen nahen Verwandten verloren hatte. Daraufhin stellte sie Gott in Frage; es könne keinen solchen Gott geben, der ihr diesen Menschen, der nichts Böses getan hatte, nehmen würde, also gebe es keinen Gott. Wie kann ein Gott gerecht sein, der Strafen und Schicksalsschläge scheinbar rein willkürlich verteilt? Soll heißen: Kann es nicht ebenso sein, dass man sich eben unter dem Eindruck harter Zeiten von seiner Religion abwendet?
Wer an Gottes Gerechtigkeit glauben will, muss unbedingt auch an den “großen Plan” in der Schöpfung glauben, sonst kann man den frühen Tod guter Menschen und das lange Leben bösartiger Zeitgenossen nicht vor dem eigenen Verstand rechtfertigen. Ich ziehe es vor, Gott aus der Gleichung zu subtrahieren und von einem Universum, in dem Dinge einfach so geschehen, ohne Plan, auszugehen. Rudi kann das nicht und entdeckt den Missionar in sich. In Ausnutzung ihrer seelisch instabilen Situation gelang jedenfalls die Konvertierung der vom Leben gebeutelten Arbeitskollegin; man verstehe den Begriff “Ausnutzung” aber bitte nicht als “in böser Absicht”. Wer ehrlich glaubt, der meint es ehrlich gut, und ich glaube, dass viel von dem Bösen in unserer Welt guten Absichten entspringt. Bei der Bringung des Seelenheils hat schließlich so mancher bereits übertrieben, und nicht alle diesbezüglichen Maßnahmen sind so makaber-lustig wie die Praxis einzelner mormonischer Splittergruppen, die bedeutende Persönlichkeiten posthum zu Mormonen umtaufen (zum Beispiel Gandhi!).

Interessanterweise will Rudi das mit Konrad zusammen machen… was irgendwie interessant sein könnte, erstens, weil Konrad noch nie zu einem Treffen erschienen ist, und zweitens wegen des konfessionellen Grabens: Konrad ist Katholik und Rudi ist Moslem. Ich bezweifle, dass ein solches Treffen je zustande kommt, aber es kann ja nicht schaden, ein paar Diskussionspunkte zusammenzustellen… warum zum Beispiel ein Gott, der allgegenwärtig und allwissend ist, von einem Mann (Abraham) einen Treuebeweis verlangen muss (dass er seinen eigenen Sohn tötet), obwohl er doch schon immer gewusst haben muss, dass Abraham ein treuer Gläubiger sein würde. Dann ist dieser Gott entweder ein Sadist oder eben nicht allwissend.

Wir wollten uns ja schon einmal treffen, aber einfach nur zum Essen, das heißt, Rudi, Konrad und ich. Die Idee war von Konrad ausgegangen, nachdem er erfahren hatte, dass Rudi aus Marokko stammt. Konrad hatte einmal einen Schwager aus Marokko, der ein hervorragendes Lammcouscous zu kochen fähig war. Leider war mit dem Tod seiner Schwester dieser Schwager verloren gegangen und nun sah er eine gute Gelegenheit – und ich wollte sie nutzen. Wir machten eine Zeit und einen Ort aus, Rudi besorgte Lammfleisch und Zutaten und wartete darauf, dass Konrad ihn wie verabredet abholen würde, da er selbst aus technischen Gründen gerade kein Auto hatte. Aber der Konrad kam nicht. Wie üblich. Entgegen meiner Hoffnung reichte auch die Aussicht auf ein gutes Essen nicht aus, um ihn zu locken.
Am Montag darauf sprach Konrad kein Wort, und ich war auch nicht in Stimmung für eine Konversation mit ihm. Anders als früher, wo ich ein Essen vorbereitet hatte, hatte ich nichts verloren, aber enttäuscht war ich dennoch.
So ging das dann bis Mittwoch, da ging ich zu ihm zu sprach ihn an. Konrad fuhr zusammen und schaute mich an wie einer, der erwartet, gleich seine Zähne vom Boden aufsammeln zu müssen. Ich erklärte ihm, dass wir uns nicht die nächsten Wochen anschweigen könnten und dass er mir ruhig erzählen könne, was ihm dazwischengekommen sei.
“An dem Sonntag Morgen war ich mit meiner Freundin in Trier und auf dem Rückweg haben wir uns ganz furchtbar gestritten. Da hat die mich mitten in der Pampa aus dem Auto geworfen und ich musste 25 km zu Fuß heimgehen. Da hatte ich auch keine Lust mehr, noch mit irgendeinem zu telefonieren.”
Irgendwie beschleicht mich der Verdacht, dass Konrad in einer erpresserischen Beziehung lebt: “Entweder, Du tust, was ich sage oder ich verlasse Dich, und dann siehst Du Dein Kind nie wieder!” Im Dunstkreis meines eigenen sozialen Umfelds war bereits ein solcher Fall aufgetaucht. Irgendwie habe ich aber auch den Verdacht, dass Konrad seiner Freundin erst auf den letzten Drücker von seinen Plänen, nach Trier zum Essen zu fahren, erzählt hatte, wodurch sich der Doppeltermin (morgens mit der Freundin und nachmittags zu uns nach Trier) und die dadurch erst möglich gewordenen Probleme des Tages ergeben hatten.
Wie dem auch sei: Ein Schuss in den Ofen war es allemal, und umso seltsamer ist es zu hören, dass ausgerechnet diese beiden mich zur Religion bekehren wollen.

Übrigens hatte Konrad auch mit Felix und dem Winzer mal ausgemacht, sich morgens zu einem Frühstück im Pausenraum zu treffen – das setzte allerdings voraus, spätestens um kurz nach Fünf in der Halle zu sein. Konrad, in üblicher Manier, kam um kurz vor halb Sechs und es blieb keine Zeit fürs ausgemachte Frühstück. Die beiden anderen boten mir seinen Teil an, aber ich lehnte dankend ab, da ich jeden Morgen zuhause frühstücke und ich beim Arbeiten mein Blut im Kopf und nicht im Bauch brauche. Die zwei redeten dann auch den Tag über nichts mit Konrad. Irgendwie ist der Typ schon eine arme Sau, aber ganz unschuldig ist er daran nicht.

Springen wir wieder ein paar Wochen nach vorn in der Zeit: Der Winzer musste aus gesundheitlichen Gründen aufhören (er fand schließlich wohl zurück in den Schoß des Familienunternehmens) und wir fanden nach langem Hängen und Würgen einen Nachfolger. Wie soll ich den nennen? Der Kleine hatte ihn aufgetrieben und zum Probearbeiten überredet, nachdem wir wegen eines Batterieschadens an der 440 ein Überbrückungskabel gebraucht hatten. Beide wohnen am Weidengraben, wie auch Puck und meine Wenigkeit, nur in einem anderen Haus, und kollektiv nenne ich sie in Anlehnung an ihre Vornamen “die M&Ms”, aber ich will ja keine Klarnamen nennen.

In Anlehnung an seine Körperfülle nenne ich den neuen mal “Big M”.
Big M hatte zuvor bei Heister gearbeitet, einem durch Radiowerbung weithin bekannten Unternehmen, das vorrangig mit Autos handelt, und natürlich auch mit den Dienstleistungen drumherum; Big M ist gelernter Mechaniker, der mit einem hervorragenden Prüfungszeugnis Geselle geworden war. Jetzt kann man sich kaum vorstellen, dass man irgendwo noch weniger verdient als in meinem Job – aber es ist so. Seit Big M bei uns arbeitet, verdient er über 100 E mehr als vorher. Seine Kündigung wurde auch dadurch motiviert, dass man sich bei Heister nicht einmal die Mühe machte, ihm Aufstiegschancen auch nur vorzugaukeln. Big M wollte ja irgendwann seinen Meister machen, wurde aber immer vertröstet, ebenso ging es ihm mit seinen Ersuchen, ein Gehalt zu bekommen, das seiner Leistung entsprach.

Kurz und gut: Er ergriff die Gelegenheit beim Schopf, ließ Heister hinter sich und wurde Fahrer bei uns. Es muss ein echt mieser Job gewesen sein… denn Aufstiegschancen gibt es bei uns überhaupt keine, es würde gar keinen Sinn machen, einem Mitarbeiter etwas solches vorzumachen. Es gibt nur den Chef, den Disponenten und die Fahrer. Der Disponent ist 37 Jahre alt, selbst wenn er nicht bis zur Rente in dem Laden bleibt, treibt es ihn frühestens in ein paar Jahren woanders hin. Und seien wir mal ehrlich: Wer als Fahrer in dieser Firma bis zur Rente bleibt, kann sich für die Zeit danach schonmal eine hübsche Brücke zum drunter wohnen suchen.

Big M lernte schnell, machte sich gut, wurde aber vom Pech verfolgt.
An dem ersten Tag, an dem er ohne Begleitung die Tour in Wittlich bediente, hielt ihn die Polizei an, und den Beamten war das Fahrzeug nicht geheuer. Sie begleiteten ihn zur nächsten DEKRA Werkstatt und ließen den Wagen unter die Lupe nehmen. Fazit: “Dieses Fahrzeug ist nicht straßentauglich und stellt eine ernste Gefährdung der Verkehrssicherheit dar.” Achse verzogen. Blattfedern gebrochen. Bremssystem mangelhaft. Getriebe auf der Kippe. Einen Drogentest machten sie auch, zur Sicherheit. Immerhin waren weder Drogen noch Alkohol im Spiel. Dennoch: Ein Bußgeld von 138 Euro, und sein Führerschein hängt seitdem am seidenen Faden, der Fall ist noch nicht entschieden.
Big M brauchte ein anderes Fahrzeug, nachdem man ihn drei Stunden festgehalten hatte. Peter stellte es zur Verfügung und rief mich an, worauf ich nach dem Ende meiner Tour noch nach Wittlich fuhr und Big M bei der Erledigung der verbliebenen Stopps behilflich war.

Auch dieses Ersatzfahrzeug brach einige Tage darauf zusammen und verweigerte die Leistung. Big M war daher des öfteren zu Gast in der Werkstatt im fernen Plaidt und bestätigte, was bislang nur gemutmaßt worden war: Von den drei Leuten, die dort die Autos herrichten, hat nur einer, ein Russe von über 50, das Mechanikerhandwerk tatsächlich gelernt. Die anderen beiden, Yoghurt und Frank, sind nur angelernt. Und Big M war nicht begeistert von deren Fähigkeiten. In den wenigen Stunden, die er dort war, fand er die Fehler bei drei Transportern, die bereits seit Tagen untersucht wurden. Bei einem zum Beispiel war ein wichtiges Metallteil abgefallen – man frage mich nicht nach den notwendigen Fachbegriffen, davon habe ich keine Ahnung. Frank schweißte daraufhin einfach ein neues dran. Das neue Teil fiel nach drei Tagen wieder ab. Warum? Weil das neue Teil aus einem anderen Metall bestand und die unterschiedlichen Wärmeausdehnungskoeffizienten die Schweißnaht bersten ließen. Big M zeigte sich total begeistert. Wir ebenfalls, denn schließlich hängt unser Leben davon ab, dass in dieser Werkstatt qualifizierte Arbeit geleistet wird.
Der Chefoberboss bot ihm sofort einen Job an und um den Umzug nach Plaidt würde er sich ebenfalls kümmern. Big M lehnte ab. Die Frage nach dem Gehalt war nur ausweichend (also gar nicht) beantwortet worden.

Wenige Tage später nahm ihm ein LKW-Fahrer im Wittlicher Industriegebiet die Vorfahrt; Big M wich gerade noch so aus, setzte das Auto aber in den Graben, was die gesamte Ladung durcheinanderschaukelte wie Würfel in einem Lederbecher. Dabei gingen Behälter mit Lack kaputt. Big M schaufelte das Gröbste aus dem Wagen, fuhr zu einer namhaften Firma für Tiefkühlkost und bat dort um Utensilien für die Reinigung, die man ihm großzügig gewährte. Die unfreiwillige Neugestaltung des Laderaums war noch das Mindeste, denn viele andere Pakete waren durch den Lack verschmutzt bis gar beschädigt und der Inhalt unbrauchbar geworden.
Ob der Fahrer des fraglichen LKWs zur Rechenschaft gezogen werden konnte, ist mir zum aktuellen Zeitpunkt nicht bekannt.

Zwischendurch brachte Big M einen Bekannten mit, einen klassischen Sozialverlierer, kurz vor volljährig, der an wichtigen Punkten in seinem Leben die notwendigen Entscheidungen mangels Taten immer wieder an die Wand gefahren hatte. Ich nenne ihn wegen einer Tätowierung auf seinem Unterarm Yagi. Peter hatte sich wohl einverstanden erklärt, ihm durch offizielle Aussicht auf einen Job den Führerschein mit Hilfe des Arbeitsamts zu ermöglichen.
Yagi arbeitete ein paar Tage mit uns. Er fuhr mit Big M, der ihm zeigte, wie die Technik funktionierte und all das – aber Yagi scheiterte an seiner kurzen Aufmerksamkeitsspanne. Wenn man mehrere Kunden hat, die eine größere Zahl Pakete vom gleichen Versender erhalten, muss man aufpassen, dass man in der Eile nicht ein falsches ausgibt, aber leider passierte etwas solches. Glücklicherweise wurde es nach wenigen Tagen wieder gefunden, aber zuerst hatte man dem betroffenen Kunden erklären müssen, dass ein Paket mit seiner Ware verschwunden war. Yagi machte lauter kleine Fehler, und sicherlich keine bedeutenderen, als andere Neulinge. Aber ich habe den Eindruck, dass er deswegen deprimiert war und aus dieser Anspannung heraus noch weitere Fehler machte, sodass sein Ego keine Chance hatte, wieder ins Reine zu kommen. Der Knoten platzte nicht, stattdessen lief das Fass über. Yagi vergaß, eine Nachnahme von ein paar Hundert Euro zu kassieren, obwohl vor dem Bildschirm, in dem man seine Unterschrift setzt, ein Fenster mit Lautsignal erscheint, das in aller Deutlichkeit daran erinnert, dass es sich um eine Nachnahmesendung handelt. Niemand weiß, wie er das übersehen konnte. Ich glaube, er war einfach nervös, unausgeschlafen und hatte eine Art Aussetzer. Big M schimpfte mit ihm, er solle sich zusammenreißen, wo ein bisschen mehr Einfühlungsvermögen sicherlich ratsam gewesen wäre. Yagi fuhr, gedemütigt durch sein eigenes Unvermögen, die nächste Entscheidung an die Wand: Er rannte davon. Im übertragenden Sinne natürlich, aber er kehrte dem Depot den Rücken und sah eine weitere kleine Hoffnung in seinem wohl eher aussichtslosen Leben schwinden.

Anfang Juni meldete sich der Kleine krank: Steißfistel. Er konnte nicht mehr sitzen, die Beule musste entfernt werden. Etwa um die gleiche Zeit setzte mich Mike angesichts zu geringer Frachtzahlen für einen Tag mit Knut in ein Auto, damit ich mir dessen Tour mal ansah. Ich machte mir Notizen zu Hintereingängen, Garagen, Abstellgenehmigungen, Warenannahmezeiten und Mittagspausen. Hauptsächlich Industriegebiete, vornehmlich Trier West. Gar nicht mein Ding. Aber mir dämmert, dass Mike die Hoffnung hegt, ich könne eine Art Allrounder werden, der jede Tour gut genug kennt, um bei Krankheit oder Urlaub des eigentlichen Fahrers im Notfall einspringen zu können, ohne gleich überfordert zu sein.

Weniger als einer Woche später telefonierte ich um etwa 13 Uhr mit Big M wegen einer Freizeitangelegenheit nach Feierabend. Um etwa halb Vier erhielt ich einen Anruf von Felix, in dem er mir mitteilte, dass Big M einen Unfall gehabt habe und er deshalb in Witllich aushelfen müsse, weitere Details kenne er noch nicht.
Am Abend telefonierte ich mit Peter. Wie es aussieht, war ihm eine Britin unter Missachtung der Vorfahrt in seine rechte Seite gefahren, etwa auf Radhöhe. Den weiteren Blechschäden nach zu urteilen war sie danach mit der Länge des Autos in die Seite des Sprinters geschleudert. Big M traf keine Schuld. Es hieß, die Polizei habe ihn sogar gelobt: Er hatte im entscheidenen Moment das Steuer noch nach links gerissen und damit den Aufprallwinkel zugespitzt, die Personenschäden wären sonst gravierender gewesen.
Dabei waren sie gravierend genug: Big M hatte sich das rechte Knie heftig an der Lenksäule angeschlagen und den Rücken verzogen. Der Rücken war nach ein paar Tagen Ruhe wieder in Ordnung, aber das Knie war dick geschwollen und es zeigte sich, dass die Gelenkkapsel gerade mal nicht abgerissen war.
Im schmerzfreien ersten Moment, als man ihn in den Krankenwagen schob, hatte er noch zu Peter gesagt: “Ach, ist nicht so schlimm, ich komm morgen wieder.” Der Kleine war ja krankgeschrieben, er wusste, dass es gerade wieder eng war und er wollte niemanden im Stich lassen.

Fünf Wochen später hielt er es zuhause nicht mehr aus, verweigerte eine Reha und kam wieder zur Arbeit. Der Arzt hätte ihn noch eine Weile krankgeschrieben, aber da es ihm so wichtig schien, ließ er ihn gewähren – “auf eigenes Risiko”.
Big M kam zur Arbeit – der Kleine war immer noch auf Krankenschein – und klagte über Schmerzen im Knie, aber er wolle durchhalten. Die einen mutmaßten, er habe lediglich Angst um seinen Job und traue sich deshalb nicht, den Krankenschein zu verlängern, die anderen nannten ihn schlicht einen Deppen, weil er in seinem jugendlichen Aktionismus seine Gesundheit gefährdete. Big M ist erst 20 und damit der jüngste in der ganzen Halle. Sogar Antonius ist älter. Der Kleine ist wohl der dritte in dieser Reihenfolge.

In diesen fünf Wochen brach das so genannte Sommerloch an – nur dass wir dieses Jahr nichts davon merkten. Der Engel und Knut bekamen die Tour des Kleinen mit dazu, ich übernahm die Gegend von Trierweiler und Newel für Knut, Rudi musste nach Zemmer, Orenhofen und Speicher fahren, je nach Bedarf fuhr der Engel, Rudi oder meine Wenigkeit die Kunden in Kordel und Welschbillig. Felix bekam immer wieder ein paar Posten aus der Wittlicher Tour, die meist von Mike gefahren wurde. Das Sommerloch füllte sich mit der Fracht zweier fehlender Mitarbeiter, und als Felix seinen einwöchigen Sommerurlaub antrat, hatten wir anderen ein Gefühl wie an Weihnachten – und das ist in diesem Geschäft keineswegs etwas positives.

Knut und der Engel, so unterschiedlich ihr Musikgeschmack auch ist, sind sich in Fragen von Humor und Sprüchen so gleich wie eineiige Zwillinge. Natürlich machen die beiden Sprüche, und wenn man unterm Steiß etwas herausgeschnitten bekommt, muss man sich um den Spott nicht weiter kümmern, gerade bei so dauergefrusteten Leuten wie dem Engel. Ich will das im Einzelnen nicht widergeben, ich bin allerdings der Überzeugung, dass dieses Geblöke nichts anderes ist als genau das: Dumme Sprüche, die nicht ernst gemeint sind. Auch denen beiden ist klar, dass der Kleine sich seine Fistel nicht ausgesucht hat, und dass er im Gegensatz zum Engel, der seinen Führerschein wegen zu hoher Geschwindigkeit über drei Monate lang nicht hatte und damit seinen Kollegen gehörig auf den Senkel ging, keineswegs schuld an dem Zustand war. Der Kleine offenbarte allerdings eine bedauerliche Verwundbarkeit gegenüber solchem Verhalten. Es scheint, dass er sich zuhause vergräbt, nur den nötigsten sozialen Kontakt hält und am liebsten überhaupt nicht mehr zu Transoflex zurückkehren möchte, weil er glaubt, der Häme nicht gewachsen zu sein. Dabei hält er sich an einem Strohhalm fest: Ein früherer Arbeitgeber hat ihm scheinbar angeboten, ihm einen LKW-Führerschein zu bezahlen, falls er sich zwei Jahre lang vertraglich fest verpflichtet. Irgendwie passt das nicht zusammen. Wenn dieser alte Chef so toll ist, warum hat der Kleine dann irgendwann mal gekündigt? Auch Big M ist der Meinung, dass der Kleine sich einer Art Wunschdenken hingibt, und dass ihm nur die innere Stärke fehlt, den Sprücheklopfern übers Maul zu fahren, wie man so sagt. Was mir noch mehr Sorgen macht, sind die Schmerz- und Schlafmittel, die der Kleine von seinem Arzt erhält. Er sagt, die gewöhnlichen Medikamente zeigten nicht genug Wirkung, weswegen er sehr starke erhalte, richtige Wirkstoffbomben. Ich hoffe, dass er keine Langzeitfolgen wegen dem Zeug zu tragen hat.

Natürlich machten wir uns auf die Suche nach Vertretungen. Für Felix kamen zwei Jungs aus Koblenz runter, Peter trieb einen jungen Mann aus der Saarstraße auf, wegen seines Namens nenne ich ihn Kelvin II.
Der war Mechatroniker, lernte auch fix, hatte aber auch mehrere Eisen im Feuer, wie sich zeigte. Nach wenigen Tagen war er bereits so weit, dass er 50 Stopps in Wittlich in einer angemessenen Zeit fahren konnte. Der zu dem Zeitpunkt noch abwesende Big M machte sich in dieser Zeit wirklich Sorgen um seinen Job. “Wenn der Wittlich fährt, was fahr dann ich?” Als ob es nichts anderes gäbe, was Big M fahren könnte. Es schien sich nämlich u.a. zu konkretisieren, dass Konrad Ende Juli endgültig und tatsächlich die Firma verlassen würde, für einen Lagerjob, der ihm mehr Geld und mehr Zeit für seine Familie bringen würde.
Aber auch mit Kelvin II. sollte es nichts werden. Er werde nach Chemnitz gehen, erklärte er nach etwa zwei Wochen. Er habe einen Sohn im Alter von sechs Monaten, der dort wohne, und den könne er fast nie sehen, wenn er in Trier bliebe (vor allem bei dem Gehalt, das wir bekommen). Ich fragte ihn nicht nach den genaueren Umständen dieser Familientrennung und wünschte ihm viel Glück.

Danach brachte Mike einen Fahrer, der zuvor schon als Fahrer und das auch noch im Bereich Wittlich gearbeitet hatte. Mike war begeistert. Der Neue kannte nicht nur die Gegend auswendig, sondern auch noch alle Kunden. Er müsse noch die Kündigungsfrist bei seinem aktuellen Arbeitgeber abarbeiten und stehe dann ab der letzten Juliwoche zur Verfügung. Auch diese Neuigkeit schmeckte Big M natürlich gar nicht und er sieht schon mit Schrecken der Mitteilung entgegen, dass man ihm die Tour um Morbach herum geben werde, obwohl noch niemand etwas solches gesagt hat.

10. September 2011

King of Kylltal (Teil 11)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 11:12

Die elf Stunden Schlaf, die ich von Freitag auf Samstag am letzten Augustwochenende gebraucht habe, kamen nicht von irgendwoher, in der Woche war was los.

Am Montag lief das Band an und Kalaschnikow war noch nicht da – was Grund zur Besorgnis gab, denn Kalaschnikow ist nach Kelvin der zweite, der schon vor Fünf ins Depot rollt, und wenn der unpünktlich ist, hat es einen driftigen Grund.
Gegen sechs Uhr kam er dann ans Band gelatscht, noch mit der Warnweste bekleidet, sein Auto war bei Staffelstein mit Keilriemenschaden stehen geblieben, keine Ahnung, wie er nach Trier gekommen ist. Da meine Gerolsteintour montags eh nicht viel fordert, wurde sie zwischen Bitburg und Prüm aufgeteilt, Kelvin fuhr Bitburg und Kalaschnikow mit meinem Auto Prüm, und ich nahm erst mal nur Pakete vom Band. Ich sollte mit Konrad (Name geändert) mitfahren, aber der war nach der Beladung auf einmal verschwunden, also begleite ich die LKW-Tour von Mike: IT-Haus, Softexpress und irgendein Kaff in der Eifel, wo jemand sich per Kleinanzeige im Internet eine Holzspaltmaschine gekauft hatte.

Das Ding wog 340 kg und stand frei auf einer Palette, also ungesichert und unverpackt, was einige Kreativität beim Sichern dieses Ladestücks erforderte, also Abstellung in der hinteren rechten Ecke, Palettenstapel links, Haltestange vorne, und wir rückversicherten uns beim Depotchef, dass bei Schäden der Versender haftet (denn auch wir müssen uns beim Empfang einer Ware vergewissern, dass ein Paket ordentlich verpackt und zumindest äußerlich unversehrt ist).
Der Kunde war auch erstaunt über die “nackte” Maschine, weil ihm der Verkäufer zugesichert hatte, die Maschine werde verpackt. Immerhin hatte er noch 900 E dafür gezahlt, bei einem Neupreis von über 2000 E, da könnte man ja eigentlich etwas Polsterung erwarten.

Zusätzlich nahmen wir einen Keilriemen für Kalaschnikows Sprinter mit, der ja immer noch an der Autobahnauffahrt stand. Ich warf nur einen Blick auf den Keilriemen und sah auch als Laie sofort, dass das Ding nicht neu war. Kalaschnikow würde begeistert sein.

Ein Stück hinter dem Hof des Holzspalters blieben wir am Straßenrand stehen und warteten auf den “Eifeltornado”. Der warf einen ebenso kurzen Blick auf den Keilriemen: “Der ist ja gebraucht!?”
Mike zuckte mit den Schultern. “Musst Dich bei Peter beschweren.”
“Wie lang soll der denn halten?”
“Bis nach Bitburg zum Ersatzteilhändler?”
Wir tauschten an der Stelle nicht nur den Keilriemen aus, sondern auch mich. Ich sollte bis zur Auffahrt Staffelstein mitfahren und beim Wechseln des Riemens helfen. Zuerst mussten wir noch bei Kalaschnikow zuhause vorbeifahren, damit er sein Werkzeug holen kann, und irgendwie kam ich mir vor, als habe man einen Chefarzt zu einem Haustermin gebeten, als ich das Sammelsurium an Hilfsmitteln betrachtete, das da ins Auto wanderte. Nebenbei lernte ich seine Frau und seine beiden Kinder kennen, einen Jungen von vielleicht fünf (“Justin”) und ein Mädchen um die sieben Jahre, die noch nicht wussten, was los war.
“Wir müssen noch nen Keilriemen an meiner Kiste wechseln.”
“Dann hast Du ja Glück, dass Du gute Kollegen hast,” sagte das Mädchen strahlend und ich musste so ein bisschen darüber lächeln, denn das Wort “Kollegen” war mir in dem Alter nicht unbedingt geläufig. Mein Vater erzählte zwar hin und wieder Anekdoten aus Sägewerk und später aus dem Ersatzteillager, aber wenn er von Kollegen sprach, verwendete er individuelle Namen und nicht diese Sammelbezeichnung. Ich denke mal, daraus ableiten zu können, dass Kalaschnikow im Allgemeinen positiv über uns als Kollektiv spricht, und das freut mich schon irgendwie.

Dann fuhren wir nach Staffelstein und im Auto lief eine einzige CD rund, eine eigene Zusammenstellung von deutschsprachigen Liedern, bei denen es um das Transportwesen geht, man könnte auch einfach “Truckerlieder” sagen. Im Gedächtnis geblieben sind mir nur die “120 Schweine nach Beirut” von Mike Krüger, und der Rest verursachte mir immerhin kein Ohrenbluten. Kalaschnikow ist gelernter Kfz-Mechaniker, was zu seiner Zeit wohl noch “Kfz-Instandsetzer” hieß, zu einer Zeit, wo die Ausbildung noch so ziemlich alles mit einbezog, anstatt sich in viele kleinere Spezialisierungen aufzuspalten, und war danach jahrelang im internationalen Fernverkehr gefahren, zwischen Lissabon und Kiew, hauptsächlich Frankreich und Spanien. Den Zöllnern in Spanien brachte er immer Bier von Aldi mit, die darauf total abfuhren und sich schon von weitem freuten, wenn sie seinen Sattelzug heranrollen sahen, was seinen Schmuggel mit Schnaps, Zigaretten und Kaffee erleichterte. Da ich ja “Reiseliteratur” mag, höre ich mir solche Anekdoten natürlich gern an.

Um kurz nach Vier waren wir dann vor Ort und begannen mit der noptwendigen Operation. Zuerst: Neues Warndreieck aufstellen, das alte war plattgefahren worden und seine zersplitterten Einzelteile lagen über knapp hundert Meter verstreut auf dem Seitenstreifen. Der alte Keilriemen sah aus wie ein Bündel schwarzer, gekochter Spaghetti.
Direkt vor dem Keilriemen befindet sich der Ventilator, der wiederum mit einer Plastikschale abgedeckt ist. Man kann diese Plastikschale lockern, aber nicht so ohne weiteres herausnehmen. Immerhin kann man nach dem Lockern der Verkleidung die Hand an die Führungsrollen des Keilriemens heranbringen. Zuerst muss der Spanner fixiert werden, damit der neue Riemen auf die Rollen gelegt werden kann, und nach einigem Hin und Her gelang es, eine große Nuss zu verklemmen. Dann ging er zu meinem Sprinter und sah sich die Gurtführung an, die auf den ersten Blick etwas verwirrend wirkt. Ganz einfach war es wegen der Enge dennoch nicht, und das Vorhaben gelangt auch erst im zweiten Versuch, und da war es bereits Fünf und unsere Hände hatten die Farbe von rosig zu schwarz gewechselt.

“Und? Wie war`s?” fragte Kelvin am anderen Morgen.
“Wir beide hatten schon Spaß,” antwortete Kalaschnikow.
“Ja, Sonne, blauer Himmel… hat nur der Strand gefehlt.”

Ich sprach mit Peter über die Möglichkeit, das Jobcenter einen LKW-Führerschein bezahlen zu lassen, denn DJ wird gegangen und insgesamt braucht unser Laden zwei LKW-Fahrer – denn Mike soll eigentlich als Disponent arbeiten und nicht als Fahrer. Peter wäre es also ganz Recht, wenn ich 7,5 t fahren könnte, weil er weiß, dass ich ein gewissenhafter Fahrer bin, was wohl besser ist, als einen ganz neuen Fahrer einzustellen, dem man ohne seine Eignung wirklich zu kennen gleich das wertvolle Vehikel in die Hand drückt.
Ich meine, LKW-Fahrer haben weit weniger Stress: Die müssen sich nicht am Band die Augen nach Paketen ausglotzen, sondern bekommen ihre Paletten zugeteilt, von denen sie ein Dutzend für eine kleine Handvoll Kunden gemütlich mit Hubwagen in den Laderaum und woanders wieder raus schieben, und zu guter Letzt steht z.B. Elmo, der bei Speicher, also 25 km weit weg, wohnt, zu einer Zeit auf, wo ich bereits das Haus verlassen muss, und dafür kriegt er auch noch ein paar Hundert Kröten mehr – ich will das auch!

Moment mal – DJ “wird gegangen”?
Ja, in der Tat… ich bedauere das natürlich, aber aus rein geschäftlicher Sicht kann ich es nachvollziehen, denn Sascha hat sich in den vergangenen Wochen immer wieder üble Konzentrationsfehler geleistet, wie Abholer zu vergessen, in die völlig falsche Richtung zu fahren, oder das 2500 E teure Rolltor der Halle zu schrotten, weil er es nicht weit genug aufgemacht hat. Jetzt gibt es natürlich Leute, die Witze über ihn machen, was für eine Null er doch sei, aber ich teile diese Meinung nicht. DJ ist an den Wochenenden damit beschäftigt, sein Haus zu renovieren und er kommt an Montagen oft völlig unausgeschlafen ins Depot – ich glaube, der ist schlicht überarbeitet, weil er sich nicht genügend ausruht.

Dienstag und Mittwoch liefen dann gemütlich ohne besondere Vorkommnisse, aber Kalaschnikow kündigte am Mittwoch an, dass er Freitag krank geschrieben sein werde.
“Du nimmst am Freitag mein Auto,” sagte er zu mir.
“Warum das denn?”
“Ich will nicht, dass einer von den Chaoten das fährt… sonst krieg ich am Ende nur noch Ersatzteile wieder.”
Ich will nicht leugnen, dass ich wegen dieser Aussage ein bisschen stolz war – ich erarbeite und pflege ja meinen Ruf, und der ist eigentlich ganz gut, soweit es um meine Verlässlichkeit geht.
Nachdem ich vor wenigen Wochen einen Montag frei hatte, kam ich am Dienstag drauf ins Depot und konnte halt erst dann die Nachnahmekasse bei Milli (Name geändert) im Büro abgeben.
“Ich hab mich gestern gefragt, wo Du bleibst,” sagte sie zu mir, “ich hab mich schon gefragt, ob Du verschlafen hast, dachte mir dann aber, nee, der Dominik verschläft doch nicht.”

Dienstag und Mittwoch also ruhig, aber gegen Ende der Woche legte die Sache zu. Ich bin nicht mehr ganz sicher, was an dem Donnerstag faul war. “Wort und Bild” war’s jedenfalls nicht, stattdessen deckten sich die Zahnärzte in Speicher mit allem möglichen Zeug ein, von Papierhandtüchern bis zum Desinfektionsmitteln, ich hatte ein Dutzend FedEx Pakete und Umschläge für den Luftstützpunkt Spangdahlem, und der “Landesbetrieb für Mobilität Rheinland-Pfalz” in Gerolstein erhielt 29 Pakete mit neuen Aktenordnern. Das Auto war ausnahmsweise voll bis zur Türkante.
Dem enstprechend viel Zeit verschlang Speicher, eine halbe Stunde mehr als üblich. In Spangdahlem musste ich allein 15 Minuten mit Telefonieren verbringen, bis ich alle Empfänger benachrichtigt hatte, und danach wartete ich eine halbe Stunde, um dann nur zwei Pakete losgeworden zu sein, weil da zwar welche am Telefon sagten, sie schickten jemanden ans Tor, aber dann kam keiner (was vorkommt, wenn kein Laufbursche oder auch kein freies Fahrzeug gefunden wird), und mir das mitzuteilen, ist ja leider nur schwer möglich, nachdem ich mal aufgelegt habe.
Um 14:05 Uhr am HIT-Markt in Gerolstein, wo “Warenannahme bis 14 Uhr” an der Tür steht, aber der zuständige Herr L. ist da toleranter als seine Kollegen vom Hagebau gegenüber.

Knapp zwei Stunden später, um zehn vor Vier, kam ich am “Landesbetrieb” an, und fürchtete schon, verschlossene Türen vorzufinden – bei staatlichen Betrieben weiß man ja nie. Ich hatte aber Glück und wurde an den Hintereingang verwiesen.
“Die Frau X. macht Ihnen auf.”
Leider stand da auch bereits ein Sprinter einer Baufirma, die Schönheitsreparaturen im Gebäude ausführte; egal, es ging auch so, und die Frau X. besorgte eine Rollkarre. Ich stürzte mich in den Laderaum, scannte Pakete und stellte die ersten vier auf den Wagen. Während die Angestellte die ins Gebäude fuhr, scannte ich weitere Pakete und stellte sie hinter das Auto, stieg wieder ein uns scannte weiter, in der Annahme, dass Frau X. selbständig die nicht schweren Pakete auf den Rollwagen stellen und ins Lager fahren würde – aber weit gefehlt. Die stand nur stumpfsinnig in der Gegend rum und sah gelangweilt nach Bäumen und Wolken! Ich durfte also regelmäßig meine Arbeit im Wagen unterbrechen, um auszusteigen und auf das Wägelchen zu laden. Als das Scannen dann abgeschlossen war, stapelte sich ein knappes Dutzend Pappkartons noch hinter der Hecktür, von denen ich dann erstmal zwei nahm und sie in der gewohnten Tradition der Arbeitskette Frau X vor die Füße stellte, damit sie sie zwei Schritte weiter auf den Stapel mit den anderen Kisten stellen konnte. Aber als ich mich zum Gehen wandte, um weitere Kisten zu holen, bemerkte sie “Sie könnten sie auch gleich auf den Stapel stellen.” Da schwoll mir der Kamm auf ungeahnte Größe, aber der Gedanke, sie zu erwürgen, kam mir, anders als bei Frau Bohlen vor wenigen Jahren, noch nicht. Da weiß man gleich wieder, was für Leute man mit seinen Steuergeldern bezahlt!

Das schönste kam aber erst zum Schluss. Kurz nach Niederstadtfeld leuchtete die Kraftstoffanzeige auf, das heißt, ich konnte noch mit 50 km Reichweite rechnen und ein Blick auf den Navi zeigte mir die Tankstelle Eifel West in 17 km Entfernung an. Inklusive der Umwege, die ich noch zu fahren hatte, sollte das hinhauen. Vorher ging es nämlich nach Manderscheid, zum Blockhüttenweg. Dabei handelt es sich um eine Reihe von Häusern direkt neben der Hauptstraße, aber versteckt in einem Waldstück direkt unterhalb der Burg. Der Weg ist schmal, links und rechts verblieb mir insgesamt vielleicht noch ein halber Meter, kennt man ja. Aber das machte nicht viel, denn die Straße war zumindest teilweise asphaltiert, weswegen mich auch nicht erschreckte, dass der Weg nach der ersten Hälfte recht steil nach unten abknickte, und der Kunde, der vorletzte des Tages, wohnte natürlich im letzten Haus.

Ich gab die Lieferung ab und wollte wieder fahren – allerdings hatten die Steigung und die feuchte Straße was dagegen. Die Hinterräder fanden keinen Halt und drehten durch, und als ich verbranntes Gummi riechen konnte, gab ich das Unterfangen auf. Ich musste wieder um Hilfe bitten.
Eine internationale Familie präsentierte sich mir. Der Herr des Hauses war Deutscher und stellte sich als Klaus vor; er machte von seinem Äußeren her den Eindruck eines neureichen 68ers, zumindest war das mein erster Eindruck. Seine Frau musste ich für eine Nordwestafrikanerin halten, wegen Hautfarbe, Gesichtszügen und ihrem zum französischen Akzent neigenden Englisch. Von den vier Kindern, von denen mir erzählt wurde, sah ich drei, einen Jungen von vier Jahren, der gemischt, aber klar getrennt, also ohne mitten in einem Satz zu wechseln, Deutsch und Englisch sprach, ein Mädchen von etwa fünf oder sechs Jahren mit dem gleichen linguistischen Phänomen, und eine hübsche junge Frau von 16 oder wenig mehr Jahren, die mir ein Glas kaltes Wasser reichte, an der das rückenfreie T-Shirt und ihr ästhetischer Gang auffällig waren (und damit meine ich nicht sowas wie das fast schon vulgäre Hüftschaukeln vieler Italienerinnen im gleichen Alter, die ich in Rom und Neapel gesehen habe).

Interessant war das ganz klar europäische Aussehen der Kinder, denn der Nachwuchs gemischt-ethnischer Paare, den ich bisher gesehen habe, zeugte bislang immer von der Schwäche europider Gene, die sich z.B. in Sachen Hautfarbe normalerweise den afrikanischen, und bei der Augenform oft den asiatischen Genen unterordnen – für mich ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Geschichte vom weißen Herrenmenschen nur ein Märchen ist, das Wunschdenken einiger Verzweifelter, die in ihrem Dasein als globale Minderheit eine mehr oder minder göttliche Mission zu erkennen glauben und deren Rassismus eigentlich eine Form von Angst ist, von der sie umgebenden Mehrheit geschluckt zu werden. Hier also die Ausnahme, die die Regel bestätigt?

Aber zurück nach Manderscheid. Klaus sagte mir, dass er mit seiner Familie nur zweimal im Jahr für ein paar Wochen hier sei und er daher nicht die Beziehungen habe, um schnell jemanden zu finden, aber er werde mal mit dem Pächter der Burg reden. Nach insgesamt einer halben Stunde kamen zwei weitere junge Frauen die Straße herunter, hinter ihnen zwei Herren um die Fünfzig in einem Unimog mit Stahlseil. Und hoch gings den Berg… von oben rollte ich dann die verbliebenen 200 m rückwärts zur Hauptstraße, bedankte mich, und fuhr Richtung Autobahn.

Aber irgendwie zog das Auto nicht richtig. Konnte das am niedrigen Tankstand liegen? Der sechste Gang hatte überhaupt keine Kraft mehr, mit dem konnte ich auf gerader Strecke gerade noch die Geschwindigkeit halten. Drückte man aufs Gaspedal, hatte man Gefühl, mit angezogener Handbremse zu fahren. Aber auch nach der Füllung des Tanks stellte sich keine Verbesserung ein – stattdessen leuchtete nun die Motorwarnanzeige. Ich rief Peter an und teilte ihm die Lage mit.
“Dann bring das Auto morgen zum Depot, lass es vor der Tür stehen. Ich besorg dann aus Koblenz ein Ersatzauto.”
Zum letzten Kunden in Eisenschmitt bin ich dann erst gar nicht mehr gefahren.

Bis ich dann zuhause war, war es 2015 – ich konnte also noch schnell was essen, duschen und dann ins Bett fallen, und ich dachte mir noch: “Ach, morgen ist Freitag, der wird den heutigen Donnerstag wohl kaum toppen.” Aber der Freitag toppte den Donnerstag.

Freitag Morgen. Kalaschnikow abwesend wegen Krankenschein. Kelvin abwesend, weil er den Ersatzwagen aus Koblenz holen musste. Und der neue Fahrer, den der Kurde vor ein paar Tagen eingeführt hatte, ist auch spontan zuhause geblieben:
“Ich dachte ich spinne… sagt der zu mir, ich geh mal aufs Klo, und schreibt mir ne halbe Stunde später ne SMS, dass er nich mehr kommt.”
Drei Mann weniger am Band, und alle am gleichen Ende – meinem Ende. Mike sprang ein, zusammen holten wir Pakete für die Touren Prüm, Bitburg, Gerolstein, Frühdienst, IT-Haus und Soft-Express vom Band. Wir mussten öfter das Band anhalten, weil wir nicht hinterherkamen. Wir können ja nicht unendlich Pakete am Band stapeln, die müssen auch mal gescannt und grob geordnet werden. So chaotisch war meine Anordnung noch nie. Weiter unten am Band beschwerten sich die anderen lautstark: “Was macht Ihr da oben? Pennt Ihr oder was?” Ist ja ganz klar: Wenn das Band steht, werden auch die nicht fertig, und auch die haben ihre Expresse, die sie schaffen müssen. Wir taten, was wir konnten, aber zwei Mann für fünf Touren sind zu wenig. Wir riefen Elmo ans Band, aber der war keine große Hilfe, weil er keine Erfahrung damit hat, vorbeirollende Pakete blitzschnell nach ihrer Postleitzahl zu untersuchen, und er kennt die Postleitzahlen auch nicht auswendig. “Mann, da wird einem ja schwindlig von!” sagt er nach 15 Minuten. Ich lache ihn aus: Das Band ist Gewöhnungssache, mir kommt es weitaus weniger schnell vor als noch vor zwei Monaten. Im Nachhinein muss ich sagen, dass es sinnvoller gewesen wäre, ihn das Zeug für die LKW-Touren scannen und stapeln zu lassen, aber scheinbar kam in dem Moment keiner drauf.

Kelvin kam schließlich dazu und die Sache entspannte sich, kehrte sich gewissermaßen ins Gegenteil: Die Trierer Fahrer hielten nun ihrerseits wegen Überlastung mehrfach das Band an, wir am “Oberlauf” hätten uns beinahe gelangweilt, wenn Kelvin nicht einen Berg von Paketen zu scannen gehabt hätte – über 220 Stück, die weitgehend ungeordnet an seinem und an Jürgens Stellplatz herumlagen. Igor (Name geändert), der Vorarbeiter der Bandaufleger, kam mehrfach mit strafendem Blick zu uns herüber und beobachtete die Trierer Fahrer kritisch.
“Was ist denn los da unten?”
“Ihr legt zu eng auf!”
“Ja ja,” sagte Mike, “ne große Klappe haben sie…”
“… und wenn’s mal stressig wird, fangen sie an zu heulen,” fügte ich grinsend hinzu, denn die meisten Leute am Band würden glänzende Forschungsobjekte für Geschlechterstudien im Bereich Männlichkeitsrituale abgeben, wie lautes Rülpsen, liberaler Umgang mit Kraftausdrücken, zotige Witze und vulgäre Sprache auch gegenüber weiblichen Angestellten, wie
“Kann ich ne Tasse Kaffee haben?”
“Warte, ich hol Dir eine runter.” (vom Regal natürlich)
“Wie? Du holst mir einen runter?”
Auch, wenn sie’s nicht ernst meinen, ist es dennoch sexuelle Belästigung, oder?

Aber wie dem auch sei, wegen des personellen Engpasses dauerte es bis Viertel vor Zehn, bis ich endlich aus dem Depot kam, und ich übernahm meinen “alten” Wagen, mal wieder, von Konrad.
In Speicher “Allgemeine Verkehrskontrolle”, bei einem Paar, das so unterschiedlich daherkam, wie die beiden Tierärztinnen in der Maarstraße: Eine nette und sympathisch wirkende Blondine einerseits, und ihr Kollege, dessen Mundwinkel der Schwerkraft folgten. Die wollten aber zum Glück nur Führerschein und Fahrzeugpapiere sehen und interessierten sich nicht für Gefahrgut oder die Ladung allgemein, kosteten mich also nur zwei oder drei Minuten. Die kaputte Bremsleuchte bemerkten sie nicht. Nichtsdestotrotz rief ich gleich wieder bei Peter an.
“Peter, ich komme mir vor, als ob ich im gleichen Auto wie gestern sitze.”
“Warum das denn?”
“Es ist eine Bremsleuchte kaputt und die Motoranzeige ist auch an.”
“Scheiße…”
Christian hatte nichts davon gesagt, dass diese Warnleuchten an waren, und ich würde mir derlei eigentlich wünschen, wenn man mir ein Auto übergibt – und nicht nur ich.

Mike übernahm an dem Tag zwar Spangdahlem, dafür musste ich hoch bis nach Ormont fahren, wo ich meinen Kunden nach seinem Feierabend nur zufällig antraf, weil er sich spontan dazu entschlossen hatte, an seinem Arbeitsplatz noch zu tanken. Und dann nach Eisenschmitt, wo ich ja am Donnerstag nicht mehr gewesen war.

Ankunft zuhause schließlich um 1915, und da musste ich noch rüber nach Tarforst, weil dort ein Abholer eingetragen war, Empfänger: “VitalAire”, eine Firma, die alles verkauft, was mit Atemgas zu tun hat, also zum Beispiel Sauerstoffflaschen, Atemgeräte, entsprechendes Zubehör und so weiter. Nur hatte sich diese Woche ergeben, dass Abholaufträge doppelt erteilt wurden, dass ich also bei Kunden zum zweiten oder dritten Mal innerhalb weniger Tage klingelte, die dann von nichts wussten. Der Kunde in Tarforst war nicht zuhause, ich warf ihm also einen Zettel ein, mit dem ich ihn bat, sich mit dem Depot in Verbindung zu setzen, falls er keine Abholware hatte.

Aus Kalaschnikows Plan, mir sein Auto zu überlassen, war übrigens nichts geworden, am Ende saß dann doch wieder der Kurde drin – der in der Zeit, die er bei Transoflex arbeitet, bereits ein paar Hundert Euro wegen verursachter Schäden hat löhnen müssen. Ihm ein Auto zu überlassen, und gerade das von Kalaschnikow, ist also ein bisschen wie Russisches Roulette.

Freitag Abend hatten wir dann noch einen Spielabend, während dem auch “Zombie Fluxx” gespielt wurde, aber davon ein ander mal.

12. März 2011

Eine Reise in den Süden ist für andre schick und fein…

Filed under: Arbeitswelt,Japan,Militaria — 42317 @ 23:26

…doch ich armer Arbeitsloser wollte nicht mehr joblos sein.

Am 8. März erhielt ich einen Anruf in englischer Sprache, den ich erst gar nicht zuordnen konnte. Nach einigen Sätzen erst wurde klar, dass man mich zu einem Vorstellungsgespräch einlud. Nach Oberammergau. Ob ich in zwei Tagen, am 10. März um 16 Uhr, kommen könne, oder ob mir ein Telefoninterview lieber sei. Ich bat mir zwei Stunden Zeit aus, um zu prüfen, ob mir ein Kommen technisch und finanziell überhaupt möglich war.

Oberammergau? Am Südende Deutschlands also. Und, ach Du lieber Himmel – Passionsfestspiele! Ich erinnerte mich nur dunkel, dort einmal eine Bewerbung hingeschickt zu haben. Laut meiner Unterlagen hatte ich mich Ende Dezember beworben. Nach zwei Monaten Wartezeit hatte ich die Hoffnung aufgegeben. Die Jobbeschreibung war nicht mehr aufzutreiben, und den Trick, wie man Seiten im Internet findet, die es eigentlich nicht mehr gibt, kenne ich nicht mehr. Aber in dem Moment hatte ich eher kurzfristige Sorgen. Natürlich wollte ich meine Motivation unter Beweis stellen und lieber hinfahren, als fast anonym angerufen zu werden. Abgesehen davon bin ich gern mit dem Auto unterwegs. Aber die Frage der Kosten musste geklärt werden.

Anruf beim Arbeitsamt, bei meinem Vermittler, etwa um halb drei. Da ging keiner ans Telefon. Also bemühte ich mein soziales Offlinenetzwerk, mein Dank an Alex, und erhielt die Versicherung, dass mich bald jemand anrufen werde, der mir weiterhelfen könne. In der Zwischenzeit organisierte ich mehrere Reiseetappen: Mein Vater musste mir sein Auto leihen, damit ich nicht vom fahruntauglichen Großvater in Saarbrücken abgeholt werden musste. Der Großvater musste mir wiederum sein Auto leihen, damit ich nach Oberammergau und wieder zurück kam, was die Kiste meines Vaters nicht gewährleistete. Und weil ich nicht knapp tausend Kilometer inklusive eines nervlich sicherlich nicht anspruchslosen Vorstellungsgesprächs am selben Tag bewältigen wollte, organisierte ich eine Übernachtung bei einem alten Kameraden in Stuttgart, den ich seit etwa elf Jahren nicht gesehen hatte.

Schließlich kam der Anruf vom Arbeitsamt. Mein Vermittler sei im Urlaub und seine Vertretung bereits um 12 gegangen. Eigentlich müsse ich den Antrag vor Reisebeginn stellen und dafür eine schriftliche Einladung des potentiellen Arbeitgebers vorlegen. Nun musste ich aber morgen bereits aufbrechen, weil ich sonst ja nicht am frühen Morgen des 10. März losgekommen wäre, und das ist zu knapp, um noch eine schriftliche Einladung zu erhalten und den Antrag zu stellen. Das sei aber in Ordnung, sagte die Dame am Telefon, sie habe meine mündliche Mitteilung festgehalten und ich könne und müsse die notwendigen Schriftstücke nachreichen, den Antrag werde sie mir umgehend zusenden.

Dann blieb also nur noch, mit dem amerikanischen Anrufer zu klären, wie das mit den Fahrtkosten handhabbar sei, außerdem wollte das Arbeitsamt natürlich wissen, wie denn die Organisation hieß, die cih besuchen würde. Da mir die Daten des Jobs nicht mehr zur Verfügung standen und meine Notizen nur sagten “Computer Assistant, Oberammergau, US Army”, musste ich natürlich noch ein bisschen was in Erfahrung bringen. Schließlich heißt es, dass Arbeitgeber es mögen, wenn man sich über ihren Laden informiert und zumindest oberflächliches Insiderwissen ins Bewerbungsgespräch einstreuen kann.
Nur kam der versprochene Rückruf um 1630 nicht. Ich rief um kurz nach fünf also selber an, aber da hatte der Anrufer scheinbar bereits Feierabend. Das würde die Angelegenheit ein bisschen verkomplizieren, aber es würde sich sicherlich eine Lösung finden.

Am Morgen des 9. März saß ich also ab 0800 neben meinem Handy und wagte kaum, aufs Klo zu gehen. Kurz vor halb Neun war es dann soweit: Der potentielle Arbeitgeber würde die Fahrtkosten wohl nicht übernehmen, aber man würde mir auf jeden Fall die notwendigen Dokumente zur Verfügung stellen, um meinen Rückerstattungsantrag (offiziell: “Antrag auf Gewährung einer Förderung aus dem Vermittlungsbudget gem. § 16 Abs. 1 Sozialgesetzbuch – Zweites Buch – (SGB II) i.V.m. § 45 Sozialgesetzbuch – Drittes Buch – (SGB III)”) zu ermöglichen.
Und bei dem Arbeitgeber handelte es sich um die “NATO School Oberammergau” (NSO). Klingt sehr interessant. War natürlich lustig, als der Anrufer versuchte, mir klarzumachen, dass die Adresse “Am Rainenbichl 54” lautet. Man versuche das mal als Amerikaner, der nur das allernotwendigste Deutsch spricht. Die etwa fünfminütige Unterhaltung wurde also zu einem nicht unwesentlichen Teil in Form von Buchstabierungen gemäß des NATO-Alphabets geführt, um sicherzugehen, dass wir die richtigen Daten übermittelten.
Im Anschluss gab ich die erhaltenen Daten noch telefonisch an das Arbeitsamt weiter und nachdem ich meinen Anzug verpackt hatte, konnte die erste Reiseetappe losgehen.

Bus zum Bahnhof. Verdammt, ich habe meine Kamera vergessen!
Zugfahrt Richtung Völklingen, kostet 13,90 E. Die Zeit konnte ich mir mit dem aktuellen Trierischen Volksfreund vertreiben, den ein Fahrgast an diesem Morgen liegen gelassen hatte. Darin ein Artikel zur Geschichte der Fastenzeit, in dem unter anderem zu lesen war, dass man Maultaschen in Schwaben wohl auch “Herrgottsbescheißerle” nennt, weil man in der Teighülle Fleisch “verstecken” konnte. Vielleicht hätten sie’s besser “Pfarrerbescheißerle” genannt, denn wenn man an Gott glaubt, kann und muss man davon ausgehen, dass der sich in seiner allmächtigen, allwissenden und allsehenden Art wohl kaum von einer Teighülle täuschen lässt.

In VK einen Tee getrunken und in die Klapperkiste des Vaters gesprungen, und nach Gersheim gefahren. Nach dem Mittagessen habe ich einen alten Freund im Ort angerufen und ihn gebeten, mir seine Internetverbindung mitsamt Drucker und Papier zur Verfügung zu stellen. Ich recherchierte dort also die NSO und zog mir alle Texte über Geschichte, Aufgaben, und Unterrichtspläne, dazu noch die Grunddaten der NATO seit ihrer Gründung, insgesamt 25 klein bedruckte A4 Seiten. Das drückte ich mir den Nachmittag über in den Kopf, und am Abend entfernte ich den übermäßigen Haarwuchs auf demselben. Für einen Film am Abend hatte ich gar keine Zeit.
Die Seiten der NSO weisen eine Reihe von Grammatik- und Rechtschreibfehlern auf, zudem existiert dort ein Mischmasch von amerikanischem und britischem Englisch, und zuletzt wird dort mit militärischen Abkürzungen herumgeworfen, dass ein unbedarfter Leser keine Freude dabei haben dürfte. Akronyme wie SHAPE, SACEUR oder JFCOM werden entweder gar nicht oder erst an späterer Stelle erklärt. Auch das Webdesign erschien sogar mir stellenweise amateurhaft, hauptsächlich wegen der Uneinheitlichkeit zwischen den einzelnen Fachbereichen. Das hätte ich mir ein bisschen professioneller vorgestellt.
Als letztes schnitt ich mir noch die Haare auf die üblichen sechs Millimeter runter, Rasieren würde ich mich morgen früh.

Am andern Morgen Aufstehen um 0615. Gemäß dem mir innewohnenden Alarmwecker für Tage mit hoher nervlicher Belastung erwachte ich selbständig um exakt sechs Uhr, und das hatte seinen Grund nur zum Teil in der vermaledeiten Turmuhr am anderen Ende der Wohnung mit ihrem verdammten Glockenschlag.
Nach dem abendlichen Sechsmillimeterschnitt am oberen Ende am Morgen also Entfernung des Haarwuchses unterhalb der Brille. Wie schön, ich hatte auch meinen Rasierer vergessen. Das hieß, ich musste auf die Packung Einmal-Rasierer des Großvaters zurückgreifen. So ein widerliches Kroppzeug kann man sich kaum vorstellen, mein Gesicht sah nachher aus wie ein rohes Schaschlik, nur ohne Spieß drin. Ich entfernte die Blutkrusten durch eine letzte Gesichtswäsche, bevor ich mich aufmachte, und zum Glück war es damit dann gut.

Abfahrt Richtung Südosten um 0720. Das Navigationsgerät zeigt mir eine geschätzte Reisezeit von knapp fünf Stunden, aber bei einer Strecke von über 400 Kilometern ist es nicht auszuschließen, dass es Schwierigkeiten mit Baustellen und was weiß ich noch was geben kann. Ich rechne einfach mal mit sechs Stunden.
Landstraße nach Zweibrücken, Autobahn und Bundesstraße Richtung Landau, durch Hinterweidenthal und das Trifelsland. Schließlich Autobahn nach Karlsruhe, von dort in Richtung Stuttgart. Auf der Strecke holte ich mir mein erstes Premiumfoto wegen überhöhter Geschwindigkeit. LKW mit 120 überholt, währenddessen Begrenzung auf 100. Direkt nach Abschluss des Überholmanövers Begrenzung auf 80. In der Regel gehe ich nicht in die Eisen, sondern nehme einfach den Fuß vom Gas. Leider ging’s da aber leicht bergab – als es in der nächsten Kurve blitzte, standen immer noch etwa 100 km/h auf dem Tacho. Es gibt halt immer ein erstes Mal und bei der nächsten Gelegenheit bemühe ich halt lieber die Bremsklötze.

Die Nachrichten im Radio verkünden mir eine Weile später ein interessantes Urteil eines Kölner Gerichts: Es soll Hartz-IV-Empfängern verboten werden, Glücksspiele zu spielen. Klingt an sich vernünftig, weil man dabei in erster Linie an die dämlichen Automaten in der Kneipe und an verantwortungsloses Pokern in verrauchten Nebenzimmern denkt – aber wie ich später höre, schließt dieser Begriff ganz locker auch Lotto ein. Wie man als Betreiber einer Lottoannahmestelle einen Hartz-IV-Empfänger erkennt, ist mir nicht klar, aber vielleicht wird ja demnächst verlangt, dass man sich einen “Hartz-IV-Stern” an die Jacke näht? Laut dem zitierten Urteil drohen bei Missachtung des Verbots bis zu sechs Monate Gefängnis oder eine Geldstrafe von 250.000 E. Zweihundertfünfzigtausend Euro. Von einem Sozialhilfeempfänger. Es gibt Dinge, die sind so scheiße, dass man drüber lachen muss, um mal den Feldwebel Diete (1998) zu zitieren.
Wie wäre es, wenn diese scheinbar gelangweilten Bürokraten die Leute mit den paar Kröten, die sie nicht zum nackten Überleben brauchen, machen ließen, was ihnen Spaß macht?

Von Stuttgart in Richtung Kempten, um kurz nach Elf machte ich eine kurze Pause. Ist das zu glauben? Der Fruchtsaft, den ich mir für die Fahrt gekauft hatte, steht noch in der heimatlichen Küche! Zum Aus-der-Haut-fahren ist das doch! Dann muss es eben ohne gehen, bis ich in Oberammergau vielleicht was zu trinken kaufen kann.
Im Radio hörte ich, wieder unterwegs und wohl anlässlich der christlichen Fastenzeit, einen Beitrag über Verzicht und Sucht, am Beispiel des Alkoholismus… wenn ich mir vornehme, eine Woche auf Alkohol zu verzichten und schaffe es nicht, dann ist der Fall wohl klar, aber ebenso bedenklich sei es, wenn allein die Überlegung eines solchen Verzichts schon Gegenreaktionen hervorruft (“Ach was, das ist doch nicht nötig…”)

Irgendwo bei Kempten sollte ich dann von der Autobahn abfahren und auf der Landstraße weiter nach Oberammergau reisen. Ja, sollte, hätte, würde. Die Autobahn da unten ist nämlich neuer als die Daten im Navi. Das Navigationsgerät geht nämlich noch davon aus, dass die Autobahn mitten in der Vorgebirgspampa aufhört und in eine untergeordnete Straße überleitet. Ist aber nicht mehr so. An dem Punkt, wo mir die Abfahrt signalisiert wird, befindet sich keine solche, und auch danach kommt keine weitere Abfahrt. Schließlich durchfahre ich einen Tunnel und werde auf der anderen Seite durch ein Schild in Österreich willkommen geheißen, und die Autobahn hat sich in das Gegenstück zur deutschen Bundesstraße verwandelt.

Positiv an dieser Situation war aus ästhetischer Sicht eindeutig das schöne Wetter, das herrschte, denn bei Sonnenschein sehen die Alpen schlicht besser aus, als wenn es bewölkt ist, und aus technischer Sicht, dass das mir vorliegende Navigationsgerät auch Österreich mit einschließt. Ich wurde am so genannten Plansee vorbeigeführt, der zum Großteil geradezu malerisch zugefroren ist, durch ein beschauliches Dorf mit dem Namen “Kretzelmoos”, wo der Sprit auch nicht billiger zu sein scheint, als bei uns, anschließend über einen Pass, wo noch meterhoch der Schnee und stellenweise Eis auf der Straße liegt, bis ich dann auf einer unauffälligen Landstraße einen ebenso unauffälligen Grenzübergang überschritt, und mich auf den letzten 20 Kilometern Oberammergau von Südwesten her näherte, anstatt von Nordwesten.

Um kurz nach 13 Uhr war ich in Oberammergau und stand auf dem Parkplatz der dortigen Kaserne. Die Architektur der drei- bis vierstöckigen Gebäude aus den Dreißigern hat etwas Bedrohliches an sich. Die Anlage war 1934 eröffnet worden und beherbergte ursprünglich die 54. Gebirgsfernmeldekompanie der I. Gebirgsdivision. Die NSO befindet sich in einem weiter abgegrenzten Bereich der Kaserne, deren frei zugänglicher Teil die Verwaltungsschule der Bundeswehr beherbergt.
Ich hatte also noch drei Stunden Zeit. Ich nutzte sie, um meine Notizen zur NSO noch einmal durchzugehen und ging zwischendurch auf eine Toilette der Verwaltungsschule. Ich fragte eine der Angestellten, ob man hier irgendwo was zu trinken kaufen könne. Ja, es gebe eine Kantine… aber halt, die sei heute ausnahmsweise geschlossen, weil wegen des Faschings die Kurse später angefangen hätten und nichts los sei. Einen Supermarkt gebe es in der näheren Umgebung nicht. Diese Information erhielt ich übrigens in einwandfreiem Hochdeutsch, was ich hier in Bayern so nicht erwartet hätte.

Ich ging um 1530 zum Tor, wo ich mich anmelden sollte. Noch bevor ich begriff, dass es sich auch hier um eine private Sicherheitsfirma handelte, sprach ich den Wachmann in englischer Sprache an, sah dann das Abzeichen seiner Firma, und dann hörte ich die Art und Weise, wie er Englisch redet. Wir wechselten also zu Deutsch, und ich würde den Dialekt für zwei Drittel Österreichisch und ein Drittel Bayrisch halten. Eine interessant klingende Mischung, die mir weniger “großkopfert” vorkommt, wie die Münchner Vorlage.

Wie dem auch sei, ich stand nicht auf der Besucherliste. Wie habe ich bei einer militärischen Organisation auch erwarten können, dass solcherlei Dinge glatt laufen? Wer mich denn eingeladen habe, fragte der Wachmann. Auch darauf konnte ich keine Antwort geben, weil ich diese Angabe am Telefon nicht verstanden habe. In der Regel nennt der Gegenüber seinen Namen in der kurzen Phase, die ich brauche, um auf Englisch umzuschalten. Ich machte also auf dem Absatz kehrt, ging zurück an das Auto, kramte mein Telefon hervor, und wählte die Nummer, von der die Anrufe bislang kamen. Mein Kontaktmann versprach, das zu klären. Ich ging also wieder zum Wachmann, der mir einen Besucherausweis für meinen Personalausweis überreichte und mich in ein kleines Nebengebäude 80 m weiter schickte. Dort sollte ich beim Master Sergeant vorsprechen.

In dem grauen Containerbau befinden sich ein großes und eine Handvoll kleinerer Büros, nebst einer Toilette direkt am Eingang. Ein klassisches Geschäftszimmer, eine Soldatin links am Rechner, ein Soldat rechts am Rechner. Ein paar eher unauffällige Details im Raum lassen die Vermutung zu, dass diese Verwaltungsstelle von der US Air Force betrieben wird. Ich müsse wohl noch etwa 20 Minuten warten, sagt der Soldat rechts und weist mir einen Bürostuhl neben der Eingangstür zu.
Wo ich den herkäme, wollte er dann wissen. Ich werde mit “Sir” angesprochen, fühlt sich irgendwie irre an…
Saarland? “Äh…” Kennt er nicht.
Trier? “Äh…” Kennt er auch nicht.
Bitburg? “Ah!” Davon hat er gehört. Ich unterlasse die Frage, ob er es wegen des Biers oder wegen des Luftwaffenstützpunkts in der Gegend kennt.
Ich fragte lieber, ob schwarze Stiefel bei der Armee außer Mode geraten seien. Er gab an, dass er zuletzt 2003 schwarze Stiefel getragen habe, seitdem gebe es eigentlich nur noch die sandbraunen Exemplare aus Wildleder. Das sind ja tolle Aussichten für mich, ein Paar schwarzer Armeestiefel aufzutreiben.
Kurz darauf kam ein amerikanischer Gefreiter herein und sagte, er überbringe eine schriftliche Anfrage (“request”). Die Soldatin links nahm das Blatt entgegen, runzelte die Stirn und fragte ihn:
Wie schreibt man request?”
“Nun, R-E-Q…” Er zögerte eine Sekunde.
“R-E-Q-U-E-S-T! Da ist ein U drin!”
“Echt? Oh…” Er nahm eines von diesen Korrekturbändern vom Schreibtisch, strich das falsche Wort aus und schrieb es mit einem Kugelschreiber richtig drüber. Ich amüsierte mich prächtig. Elitäre Verhältnisse bei der NSO.

Dann kam der Master Sergeant herein. Ich hätte, der Stimme am Telefon nach zu urteilen, alles mögliche andere erwartet, aber nicht einen Schwarzen Ende 20 von 1,65 m. Immerhin macht er einen geistig wacheren Eindruck als sein dröges GeZi-Personal. Er führte mich in das größere Gebäude nebenan, in das Besprechungszimmer, wo das Bewertungskomittee saß. Mich empfing ein dicker Oberst der Bundeswehr, neben ihm ein Oberstleutnant der gleichen Armee, und eine Dame um die Fünfzig in Zivil. Der Master Sergeant war der einzige Amerikaner im Raum, und der ist noch nicht mal von der Army, an die ich die Bewerbung mal geschickt hatte. Ich war etwas verwirrt. Man wies mir auf Deutsch einen schwankenden Stuhl zu (also einen Bürosessel, dessen Ausrichtung sich dem jeweiligen Körperschwerpunkt angleicht) und führte dann das Gespräch in englischer Sprache weiter. Die beiden Leute von der Bundeswehr haben einen schier grausamen Akzent, ihre Grammatik weist Fehler auf. “Thank you for your informations.” Alles klar? Warum musste ich gerade von solchen Leuten interviewt werden? Nicht, dass die beiden Offiziere unsympathisch wären, aber ihre Art, Englisch zu sprechen, hat auch nicht dazu beigetragen, dass ich in die Situation hineinfand.

Ich glaube nicht, dass das Gespräch günstig für mich gelaufen ist. Ich habe mir eine Menge Zeug zurecht gelegt, aber da ich in mündlichen Prüfungssituationen zur Nervosität neige, habe ich die Hälfte davon vergessen, was zum Beispiel die Heraushebung persönlicher Stärken betrifft. Ich muss davon mal eine schriftliche Liste erstellen, damit ich mich an die auch unter Stress erinnern kann. Ich hätte spontan erwähnen können, dass ich Englisch besser schreibe, als so mancher Muttersprachler hier am Standort.
“Warum bewerben Sie sich für diese Stelle?” fragte der Oberst gleich zu Beginn. Anstatt also die landschaftlichen Vorzüge des Allgäus zu loben, auf Alpenurlaube meiner Kindheit hinzuweisen (womit ja eine persönliche und emotional nachvollziehbare Motivation genannt worden wäre), und letztendlich vom guten Ruf der NSO zu lobhudeln, wo meine Anstellung nur verglichen werden könne mit dem Videospielfreak, der ein Jobangebot von Nintendo erhält, zerschoss ich mein Anliegen sofort mit der ebenso wahren Geschichte, dass ich lediglich wegen der Jobbeschreibung, in der von Berufserfahrung keine Rede war, auf den Gedanken gekommen war, dass ich für die Arbeit geeignet sei und dass ich im Grunde nur versuchen wolle, auf dem Jobmarkt Halt zu bekommen. Die Aussage tat mir im gleichen Moment leid, in dem ich den Satz beendet hatte. Goodbye, Oberammergau.
Von der Frage nach meiner Erfahrung im Bildungsbereich müssen wir gar nicht reden. Bis zu genau dem Zeitpunkt bin ich davon ausgegangen, es handele sich um einen Verwaltungsjob, für den man eben MS-Office-Kenntnisse braucht. Erst, als die Frage nach meiner Erfahrung im Bildungsbereich kam, ging mir ein Licht auf: Es geht nicht nur um Verwaltung – es geht um die Entwicklung und die Bereitstellung von Lerninhalten für die internationale Gemeinschaft von Offizieren und Unteroffizieren, die hier weitergebildet werden soll. Ich konnte an der Stelle nur darauf verweisen, dass Zweitspracherwerb mit Hilfe von elektronischen Korpora immerhin ein Schwerpunkt meiner Universitätsausbildung war, und dass ich zumindest über theoretisches Wissen über die Anwendung pädagogischer Inhalte am Rechner verfügte. In dem Moment fragte ich mich, warum die mich überhaupt eingeladen hatten, denn schließlich möchte ich mal ausschließen, dass hier Dutzende von Leuten vorsprechen und nicht ein Großteil von denen bereits über das hier geforderte Hintergrundwissen verfügt.
Ich glaube, die einzig gute Antwort, die mir einfiel, gehört zu der Frage, warum ich der Meinung sei, ich sei der beste für diesen Job geeignete Bewerber. In einem Anfall von rhetorischem Geschick (und selbst das ist im Nachhinein fragwürdig) wies ich darauf hin, dass es dumm von mir wäre, genau das zu behaupten, nämlich der beste zu sein, dass ich aber stattdessen mit gutem Gewissen behaupten könne, die mir gestellten Aufgaben nach bestem Wissen und Gewissen zu erledigen.
“Haben Sie noch Fragen?” Mir fällt in der Regel auf die Frage nie was ein, aber in diesem Fall interessierte mich natürlich, ob mir im Falle des Falles jemand helfen könne, eine Wohnung für zwei zu finden, und wie die Mieten seien. Ja, Hilfeleistung bei der Wohnungssuche sei auf jeden Fall drin, und die Warmmieten für 2ZKB lägen so bei 450 E.
Außerdem interessierte mich die Frage, warum man jemanden wie mich, der über keinerlei konkrete Berufserfahrung in dem gewünschten Feld verfügt, denn überhaupt eingeladen habe. Das entscheide die Personalstelle des Hauptquartiers in Stuttgart, erzählte mir der Oberst. Er erhalte nur die Daten der Auserwählten, lade sie ein, stelle ihnen die notwendigen Fragen, und gebe anschließend seine Auswahlempfehlung weiter.

Kurzum, wenn man mich nicht wegen meines sympathischen Auftretens nimmt, ist dieser Zug abgefahren. Ich verabschiedete mich nach etwa 20 Minuten und ging zum Auto zurück. Da war es zwanzig vor Fünf. Ein eher zufälliger Blick auf meine Notizen offenbarte mir aber etwas, an das ich hätte denken sollen: Ich brauche schriftliche Nachweise meiner Einladung und meiner Anwesenheit. Ich wählte erneut die Nummer des Master Sergeants, aber der war in jenem Moment bereits mit dem nächsten Bewerber beschäftigt und ich erwischte nur den geografisch unbegabten GeZi-Soldaten. Ich solle in 30 Minuten noch einmal anrufen, sagt der.

Ich döste also im Auto vor mich hin, bei offenem Fenster. Auf dem Parkplatz, auf den die Sonne herabschien, war es fast frühlingshaft warm. Ein paar Meter links von mir befand sich eine Mauer, hinter der sich die Wohnanlage der NSO verbirgt. Ein paar Kinder spielten direkt hinter der Mauer, am deutlichsten dabei ein Englisch sprechender kanadischer Junge, der im Laufe der halben Stunde dreimal “What the balls!?” ausrief. “What the fuck?” ist für Angehörige von Offizieren wohl zu vulgär, und auch “What the hell?” scheint irgendwie verpönt. Ich hätte daher mit “What the heck?” gerechnet, aber “What the balls?” ist mir völlig neu, und auf Grund der dennoch inneliegenden sexuellen Anspielung sehr amüsant. Dass es sich um einen jungen Kanadier handelte, konnte ich daraus erfahren, dass im Laufe meines Zuhörens weitere Kinder den abgesperrten Bereich betraten, denen er sich dann als Kanadier vorstellte.

Um Viertel nach Fünf rief ich erneut im Geschäftszimmer an, aber der Master Sergeant war immer noch nicht da. Ich schilderte also dem Soldaten am anderen Ende der Leitung die Lage quasi zweimal, bis ich das Gefühl hatte, dass er verstanden hatte, was ich brauche, damit mir die Bürokratie meine Reisekosten ersetzt. “Das ist aber nett!” sagte er dazu. Ich hätte ihm beinahe einen Vortrag über den Unterschied zwischen sozialer Sicherheit einerseits und dem amerikanisch-konservativen Hirngespinst von der “sozialistischen Sicherheit” andererseits gehalten, aber ich hielt mich zurück.

Um zwanzig nach Fünf aß ich mein zweites Brötchen und machte ich mich dann endgültig auf den Weg, und binnen der kommenden 30 Kilometer brauchte ich dringend eine Tankstelle. Ein Supermarkt wär auch nicht schlecht gewesen, denn ich hatte mittlerweile Durst. Ich fuhr in den Ort hinein, um zu sehen, ob ich vielleicht eines der bekannten Markenschilder entdecken konnte. Die Gassen sind eng und verwinkelt, die Verkehrsführung unübersichtlich, weil hier die Häuser scheinbar nach Zufallsprinzip nebeneinander gestellt wurden und Jahrhunderte später hat man einfach an den breitesten Stellen eine Straße durchgeführt. Ich fand eine Apotheke, das Rathaus, das sich von den anderen Häusern nicht so deutlich unterscheidet, einen Laden für Schnitzereien, für sonstige Andenken, zwei kleine Elektroläden, Pensionen und Hotels, aber der einzige Laden, in dem es was zu trinken gibt, ist ein Spirituosengeschäft.
Wie durch ein Wunder fand ich ohne große Probleme wieder aus der dörflichen Innenstadt heraus und fuhr zurück Richtung Kempten, diesmal ohne Ausflug nach Österreich.

Nach Oberammergau durchquerte ich Unterammergau… später tankte ich dann in Saulgrub… die Bayern haben schon lustige Ortsnamen. Wenn hier in Kenn lauter Kenner wohnen, dann muss ich wohl davon ausgehen, dass da unten in Söld ausschließlich Söldner leben.
Ein Kalauer, hahaha!
Im Radio lief ein Informationsprogramm zum Thema Darmkrebs, dessen Auftreten bei Menschen über 50 sprunghaft ansteigt, für den es allerdings mittlerweile gute Früherkennungs- und Heilverfahren gebe. Spätestens ab dem 54. Lebensjahr kann man anscheinend von der Krankenkasse bezahlte Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch nehmen.

In Saulgrub hatte ich meine erste feindliche Begegnung mit der E10 Zapfsäule und ging erst mal an die Kasse, um Informationen zu meinem Autotyp zu erhalten. Zu Peugeot stand da geschrieben, dass alle Modelle, die nach 2000 gebaut worden sind, E10 vertragen. Ich glaube mich allerdings zu erinnern, dass das vorliegende Modell bereits Ende der Neunziger gebaut worden ist. Ich hätte in den Papieren nachsehen können, aber ich kam in dem Moment nicht drauf. Abgesehen davon tanke ich grundsätzlich Super Plus, bzw. Treibstoff mit einer Oktanzahl von mehr als 95, weil der Motor besser läuft und das Plus an Reichweite den Preisunterschied ausgleicht. Auch die Angestellte hier sprach ein überraschend sauberes Hochdeutsch. Sind es dann letztendlich doch die Schwaben, bei denen man niemanden findet, der es beherrscht?

Mein erster Versuch, auf die Autobahn zu kommen, scheitert ebenso wie mein vergangener Versuch, sie zu verlassen: Statt einer Auffahrt sehe ich an der im Navigationsgerät vorgesehenen Stelle eine Baustelle von einem halben Hektar. Dann also weiter durch die Landschaft, versorgt mit Informationen zum Thema Darmkrebs. Als der Sender auf der Autobahn Richtung Stuttgart dann zu schwach wurde, fand ich woanders einen Beitrag über eine Buchhändlerin, das heißt die Besitzerin der so genannten “Literaturhandlung”, aus München, eine Frau Dr. Rachel Salamander. Scheinbar eine interessante Persönlichkeit, die mit Literaturgrößen wie Reich-Ranitzky auf Du-und-Du ist, und natürlich konnte der Moderatur sich den Seitenhieb nicht verkneifen, indem er fragte, ob sie denn eine “echte” Doktorin sei. Ja, sie hat summa cum laude in Mediävistik promoviert.

Bei der Einfahrt in Stuttgart dann eine Sendung zum Thema Hartz-IV, die ich leider nicht zu Ende hören konnte. Es ging um einen Geisteswissenschaftler, der unter anderem Philosophie studiert hatte und nach seinem Abschluss ein Jahr arbeitslos gewesen war. In diesem Jahr hat er wohl seine Erfahrungen mit den Arbeitsämtern protokolliert und dann ein Buch darüber herausgegeben, und vieles von dem, was er erzählte, entsprach voll und ganz meinen eigenen Eindrücken: Dass zum Beispiel das Personal der Arbeitsämter mit Universitätsabsolventen völlig überbeansprucht ist und selbst nicht weiß, was man mit denen anfangen kann, und dem entsprechend fielen die wenigen Jobangebote und Fortbildungsmaßnahmen aus, die er in dieser Zeit von dort bekam. Er sagte, er sei nur einmal an eine junge, scheinbar neu eingestellte Urlaubsvertretung geraten, die ihm von sich aus von Fördermitteln erzählte, auf die er Anspruch habe, und die ihm auch was nutzten. Sie war scheinbar noch nicht von ihrer Umgebung befleckt, sagte er, und mutmaßt weiterhin, dass wohl niemand, der über die Kontakte und die Anlagen verfügt, etwas anderes in dem Feld zu finden, als Vermittler beim Arbeitsamt (bzw. ArGe/”Jobcenter”) bleibe. Ich interpretiere: Wenn ich als Zivilist für nichts tauge, melde ich mich zur Armee, und wenn ich für die Armee grade einen Tick zu gut bin, dann bewerbe ich mich beim Arbeitsamt. Ich sehe Alex schon indigniert die Stirn runzeln…

Um halb Neun erreichte ich die Adresse, wo ich übernachten möchte, und ein dieser Tage bärtiger Kamerad aus den Zeiten bei der eben erwähnten Armee empfing mich sehr herzlich. Wir tranken zwei Flaschen Wein und unterhielten uns über dies und das, wobei seine negative Weltsicht einen nicht unwesentlichen Teil zum Inhalt beisteuerte. Ich kann’s ihm auch nicht verdenken, schließlich ist er seit mehreren Jahren arbeitslos, das frisst am Selbstbild. Er zeigte mir ein Jobangebot, Vollzeitstelle, aber bei “Zoo & Co.” brauche er sich erst gar nicht zu bewerben, weil die ihn schon einmal abgewiesen hätten, wo ich mir denke “Na und?” Eine Standardbewerbung zu versenden kostet nicht wirklich ultimativ viel Mühe, aber mich beschleicht das Gefühl, dass er in dieser Hinsicht schlicht aufgegeben hat. Dass er sein eigenes Ding mit Internetgeschäften machen will, ist natürlich gut, ich hoffe aber inständig, dass sich dieses Projekt letztendlich nicht als auf Sand gebaute Realitätsflucht erweist. Als Laie diagnostiziere ich hier einen manisch-depressiven Zustand, und ich habe eine gute Vorstellung davon, wie so jemand tickt. Ich verspreche jedenfalls, an Arbeit beizusteuern, was ich kann, denn mit dem Englischen hat er es nicht so, und ich bin weit davon entfernt, irgendjemanden hängen zu lassen. Vielleicht sollte ich das mal ganz oben auf der Liste meiner persönlichen Stärken festhalten.

Die Wohnung macht einen ganz ähnlichen Eindruck wie sein Innenleben. Aufgeräumt, ja, wenn auch mit einer Menge Krempel vollgestopft, aber ich meine mehr die Grundvoraussetzungen, die diese Wohnung bietet. Es handelt sich um einen Altbau, dessen widerliche Backsteinarchitektur den Eindruck macht, er stamme aus dem finstersten Industriezeitalter in der späten Kaiserzeit. Die Heizung ist uralt, die Fenster entsprechen keinem Umwelt- oder Energiestandard der vergangenen 30 Jahre. Zum Waschbecken im “Bad” muss ich mich zum Zähneputzen sehr tief herabbeugen oder mich auf die Toilette setzen. Der Boden dieses 0,5 qm kleinen Raums besteht aus Holz, von einem Bodenabfluss keine Spur. Der Geruch der sanitären Anlage zeugt vom Sanierungsbedarf der Rohrleitungen. Und das allerverrückteste: Wenn man duschen oder baden möchte, muss man hierzu in die Küche gehen! Gegenüber der Kochzeile mit Waschmaschine befindet sich ein metallener Deckel von 1×2 Metern, unter dem sich eine Badewanne verbirgt. Und für dieses Loch zahlt man in Stuttgart über 400 Euro Warmmiete. Ich gehe davon aus, dass meine Wohnung in Trier ein paar Quadratmeter weniger hat, aber dafür befindet sich das Haus in einem allgemein viel besseren Zustand.

Um halb zwei war ich dann so müde, dass ich die Augen kaum noch offen halten konnte. Ich nahm daher in einem Schlafsack, der gerade so breit ist, dass ich noch problemlos reinpasse, die linke Hälfte seines Doppelbetts in Beschlag. Mein Gastgeber ging um etwa Drei ins Bett und stand um Acht wieder auf. Bis ich die Augen aufkriegte, war es bereits Zehn.

Ich betrat das Wohnzimmer und hätte wegen des kalten Zigarettenrauchs schon kotzen können. Dann wurde ich empfangen mit der Nachricht, dass in Japan ein kleiner Weltuntergang stattgefunden habe, dass es in Sendai starke Zerstörungen gegeben habe und wegen des Ausfalls eines Kühlsystems in einem Kernreaktor bei Fukushima eine nukleare Katastrophe drohe. Ich sah auf dem Computerbildschirm Szenen von meterhohen Gerölllawinen, die sich durch Ortschaften und über Reisfelder ergießen, Autos, die wie Spielzeug einfach weggespült werden, brennende Häuser, die auf der Welle schwimmen. Nicht ganz Taiyô no Mokushiroku (“Die Apokalypse der Sonne”, ein Anime mit Endzeitthema und sozialem Anspruch), aber nah dran. Das Hanshinbeben in Kobe (1995) hat damals 4500 Menschenleben gekostet. Je nach Vorwarnzeit könnten es diesmal mehr sein, vermutlich aber weniger als in Tokyo anno 1923, das mit über 140.000 Toten kaum zu übertreffen sein dürfte.
Das aktuelle Beben wird mit 8,9 auf der Richterskala angegeben… ach Du meine Güte! Hätte dieses Beben die Insel direkt getroffen, wäre jede Stadt in dem Gebiet in Schutt und Asche versunken. Ich glaube, die Wolkenkratzer in Tokyo halten nur Stärke 8 aus, und das Kantôgebiet, in dem sich die Metropole befindet, beherbergt ein Wirtschaftsvolumen, das dem ganz Frankreichs entspricht – man stelle sich vor, ganz Frankreich würde zerstört. Unglaublich.

Nach 20 Minuten war klar, dass die Faktenlage noch viel zu unsicher ist, um mehr als das Allergröbste zu erfahren, außerdem waren die Webseiten der Nachrichtensender völlig überlastet, was das Betrachten der wenigen verfügbaren Videos schwierig machte. Es wird wohl Tage dauern, bis handfeste Informationen verfügbar sein werden, und bis dahin wird sich die Presse dankbar auf den kritischen Zustand des Atommeilers stürzen. Das verkauft sich wegen Chernobyl (1986) noch besser als eine überspülte Landschaft und eine verwüstete Großstadt, die beide weit weg von hier sind.
Meine Sorge gilt jedenfalls in erster Linie meinen Freunden Kanako und Yui, die an der Universität von Sendai studieren. Den Bekanntschaften im Rest des Landes werde ich ich später schreiben, in Stuttgart verfügte ich ja nicht über japanische Tastaturunterstützung.

Um halb Zwei machte ich mich wieder auf in Richtung Heimat und warf die nicht mehr benötigten Notizen, die ich vor meiner Reise ausgedruckt hatte, in einen Papiermüllbehälter in dem kleinen Hof des Mietshauses. Um Stuttgart herum viel Stau, die Autobahn nach Karlsruhe wird auch vielerorts ausgebessert, zum Teil Stop-and-Go. Die Radiosender hatten kein anderes Thema als das Seebeben vor der japanischen Küste. Quasi nach jedem Lied gab es einen Einschub, in dem darauf hingewiesen wurde und die Moderatoren telefonierten live mit Deutschen in Tokyo und auf Hawaii, wo das andere Ende der Flutwelle gegen 15 Uhr erwartet wurde. Dabei gab es keine neue Lageinformation, und auch die persönliche Sichtweise der Anrufer änderte daran nichts, dass einem das Thema nach zwei Stunden auf den Keks ging. Da wurde viel geredet, aber nur wenig Neues gesagt, und das Neue kam in homöopathischen Dosen.

Noch einmal Stau auf der B14, die streckenweise wegen einer Baustelle nur einspurig ist, die Autobahn in Richtung Zweibrücken dagegen erwies sich als frei. Zuletzt brachte ich den Tank noch auf den Füllstand, den er vor der Fahrt hatte. Die Tankkosten betragen 95 E, zuzüglich weiterer 15 E, die ich später am Abend noch in die Kiste meines Vaters tankte, um ihn für die gefahrenen Kilometer etwas zu entschädigen.

Im Gau musste ich dann den endgültigen Kilometerstand festhalten und stellte bei der gelegenheit ein weiteres Versäumnis fest: Ich hatte den Zettel mit dem Kilometerstand am Start in Stuttgart mit in die Tonne geworfen! Soviel Eselei müsste eigentlich wehtun. Ich rief also den Kameraden in Stuttgart noch einmal an und bat ihn, den Zettel zu bergen und mir die gesuchte Zahl zu übermitteln. Er werde das mangels Handy per Mail tun, versprach er. Dann packte ich nach einer halbstündigen Pause lediglich noch meine Sachen zusammen, nahm von den Großeltern noch dankbar eine kleine Lebensmittelspende entgegen, und machte mich auf den vorletzten Teil des Rückwegs.
Am Tisch des Vaters verspeiste ich dann ein Kilo Fleisch in Form von knusprigen Hähnchenschenkeln, dazu noch ein paar Pommes und etwas Gemüse, bevor ich gerade noch den Zug in Richtung Trier erreichte.

Das nächste Dilemma erwartete mich dort: Ich brauchte nämlich noch einen Fahrschein, und wenn ich mir einen am Automaten gezogen hätte, hätte ich den Zug verpasst. Aber es heißt ja, wenn man aktiv den Fahrbegleiter aufsucht und ihm die Situation schildert, könne man Kulanz erwarten und das Ticket im Zug nachlösen.
Ein junger Mann im Trainingsanzug mit, hihi, “Migrationshintergrund” hatte das gleiche Problem, aber der war bereits da gewesen, als ich am Bahnsteig ankam. Statt eines Schaffners fanden wir jedenfalls erst einmal zwei weibliche Angestellte der “DB Security”, deren Gesprächsinhalte etwa ebenso vulgär rüberkamen, wie die beiden fett waren. BMI deutlich über 30, würde ich schätzen. Ich schilderte also erst mal denen die Lage und sie sagten, damit sei meiner Sorgfaltspflicht in einem solchen Fall genüge getan, allerdings würden sie in Merzig aussteigen. Ich machte mich also lieber auf, den Schaffner selbst zu suchen. War aber keiner da, worauf ich die Auskunft bekam, dass es sein könne, dass ein Schaffner in Merzig zusteige. Auch das passierte nicht. Na, dann war immerhin diese eine Fahrt kostenfrei.

Bis ich dann zuhause war, war es etwa Viertel vor Elf, und ich hatte keinen Nerv, noch lange aufzubleiben. Abgesehen davon stanken meine Klamotten abscheulich und ich wollte sie schnellstmöglich “abstoßen”.

Am folgenden Morgen fand ich dann in der Tat zwei Mails vom Master Sergeant vor. In der ersten schickte er mir ein Einladungsschreiben per PDF, das auf den 9. März datiert war, und in der zweiten eine auf den 11. März datierte Bestätigung meiner Anwesenheit in Oberammergau. Und laut Unterschrift ist er tatsächlich von der Air Force.
Der Kilometerstand liegt mir nun in seiner Gesamtheit vor und ich bin insgesamt 933 Kilometer gefahren, und dazu muss man eigentlich den Weg von Trier nach Gersheim noch addieren, was ja noch weitere 300 sein dürften.
Auch der Antrag für die Fahrtkostenerstattung kam heute mit der Post, und den gilt es noch auszufüllen.

Außerdem fand sich in Post ein mittlerweile zweites Hinweisschreiben der Blieskastler Notarin, dass sie bitte einen Überweisungsnachweis für die Grundschuldtilgung zur Übergabe des Gersheimer Hauses erhalten möge. Ich rief daher gleich den Großvater an, um ihn darauf aufmerksam zu machen. Ja, sagte der, diese Rechnung sei noch gar nicht bezahlt, das Geld müsse er erst einmal auftreiben, weil er in den letzten Wochen so viele hohe Rechnungen erhalten habe (unter anderem erwähnte er 900 Euro für das Auto). Klingt ja toll. Ich gehe also mal davon aus, dass er sich vor der Aktion mit der notariellen Übergabezeremonie nicht darüber informiert hat, was die ganze Sache kosten würde. Am Montag will er also die Notarin besuchen, um ich weiß nicht was zu klären. Vielleicht kann man den Betrag ja stunden. Aber ich hoffe, dass diese Sache nicht noch allzu heiter wird.

1. Januar 2011

Die Zeit bleibt nicht stehen

Filed under: My Life — 42317 @ 20:22

Das Jahr 2011 hat begonnen. 2010 bin ich also los, ein Jahr, das stressig anfing und frustrierend endete. Erst habe ich wegen meiner Prüfungen gekotzt, dann habe ich einen unterdurchschnittlichen Universitätsabschluss in Geisteswissenschaften hingelegt, und zum Ende des Jahres war und bin ich noch immer ohne festes Einkommen.
Als ich damals sagte, egal, wie der Abschluss wird, Hauptsache, ich komme hier raus, da habe ich kaum ahnen können, wie sehr sich das bewahrheiten würde.
Jobangebote gibt es nach wie vor, aber da müsste man schon Wirtschaftswissenschaftler sein, Informatiker, oder Ingenieur, vielleicht noch Jurist, und auf der Stufe darunter braucht man einschlägige Berufserfahrungen, am besten mehrere Jahre inklusive Personalführung.

Ein Licht der Hoffnung bleibt paradoxerweise die US Armee in Deutschland, deren “Local National” Programm sogar jemandem mit meinen Qualifikationen Chancen auf ein gutes Einkommen eröffnet. Natürlich habe ich auch da bislang nur Ablehnungen erhalten, aber immerhin habe ich mich bereits ein Dutzend mal beworben, vier weitere folgen am 3. Januar, sobald das Postamt aufmacht, und ich musste bislang nur die bestbezahltesten Angebote wieder schließen, weil nur da und sonst nirgendwo ein Text steht, der besagt, dass ich weitere Erfahrungen und Ausbildungen brauche. In meinem Fall hilft mir das oft belächelte amerikanische System der Ausbildung durch “Learning by Doing”. Je nach Schulbildung werden gewisse Sachen zwar vorausgesetzt, da ich aber als Magister über Stufe 5 verfüge, steht da in der Regel: “Keine weiteren Qualifikationen vonnöten”, während tiefere Stufen Berufsausbildungen oder zumindest Arbeitserfahrung mitbringen müssen.

Ach, was soll’s. Es kommt, wie’s kommt. Reden wir kurz über Weihnachten. Das war dieses Jahr nicht teurer als letztes Jahr, obwohl der Baum natürlich wieder einmal größer war, als im Jahr zuvor. Von dem 35 E teuren Stück wurden dann auch von mir knappe 30 cm abgeschnitten, weil der Baum sonst zu instabil in seiner Halterung stand, und dazu wiederum war eine 35 E teure Säge notwendig, weil ich den Baum nicht mit dem sonst üblichen Brotmesser kürzen konnte, und weil ich die Säge auch noch zu anderen solchen Arbeiten brauche. Da musste zum Beispiel der Flieder im Gau geschnitten werden.
Wie durch Butter. Super Säge. Der Kirschbaum wird sich vermutlich “von allein” erledigen, da die Nachbarn keinen Bock auf Laubkehren haben und das Fällen übernehmen wollen.

Wegen dieses Arguments sind in den vergangenen 15 Jahren übrigens alle Bäume, die in der Nachbarschaft mal standen und mit denen ich gute Erinnerungen verknüpfe, mit Ausnahme kleiner Obstbäume abgesägt worden: Die Birke der Familie Schulz, die Birken und die Tannen der Familie Klein, der wunderschön blühende Baum der Familie Schmöckel, der Walnussbaum auf der großen Wiese hinten, die wohl auch noch der Familie Klein gehört, und nun der zugegeben ausgeuferte Kirschbaum der Familie Philipp, der noch nie ein Schönling war. Schöne, große Bäume sind also an sich gern gesehen – aber bitte mindestens fünfzig Meter vom Grundstück weg.

Eine vorweihnachtliche Freude war mir auch Ronalds Besuch. Leider hatte er wegen terminlicher Verpflichtungen keine Zeit, mit uns, das heißt Karl, Christian, und mir, DSA zu spielen, was er sehr bedauert hat. Eigentlich müsste ich auch einen Text fertig schreiben, den ich ihm versprochen habe, anstatt mich hier in Selbstgefälligkeit zu ergehen. So selbstgefällig, wie die Geschichte, dass ich mich bei Textbroker angemeldet habe und mein Textbeispiel, anhand dessen bewertet wird, was für Qualitäten von mir zu erwarten sind, mit vier von fünf Punkten beurteilt worden ist – fünf bekommen nur professionelle Autoren. Vielleicht lässt sich dort also etwas Geld dazuverdienen, durch Texte auf Bestellung.

Ach ja, Weihnachten: Sehr beschaulich, dieses Jahr. Melanie, Ricci, und meine Wenigkeit. Sogar Melanie hat nachher bemerkt, dass drei Leute ein bisschen zu wenig war. Ich hätte ja auch gern noch jemanden eingeladen, QiuPing und ihren Mann Wei zum Beispiel, aber Melanie war sich wegen ihrer Abschlussarbeit bis auf den letzten Drücker nicht sicher, ob sie Weihnachten überhaupt mit Gästen feiern wollte. Und zu guter Letzt wollte Tino dieses Jahr seine Ruhe haben.
Ach, was mussten die sich mitten im Jahr in die Wolle kriegen? Die Streitigkeit wurde zwar offiziell beigelegt, aber ich fürchte, dass ich meine glücklich zu Stande gebrachte Shadowrun-Spielgruppe nach der ersten kleinen Kampagne gleich wieder vergessen kann.

Weihnachten will nicht, glaube ich. In meinen Artikel hier, meine ich. Ich rede immer noch drum herum. Ich überspringe dann einfach mal das Wetter. Wir haben alle gemerkt, dass es sehr kalt und verschneit und zum Teil unangenehm glatt war. Meine Gedanken zum Thema Automobil will ich noch für mich behalten, weil ich noch nicht weiß, welche Ergebnisse aus den letzten Aktionen hervorkommen werden.

Komme ich jetzt zu Weihnachten? Ja, los: Abgesehen von etwas Bargeld habe ich von Freunden vier Dinge geschenkt bekommen – drei DVDs (Lawrence of Arabia, Salvador, Kinskis Jesus Christus Erlöser) und ein Spiel (Grandia 2 für PC). Die Uniform eines Oberstleutnants der Infanterie der Vietnamesischen Volksarmee, die ich ein paar Tage zuvor vom Kameraden Ritter erhalten hatte, war nicht für Weihnachten, sondern mir aus Anlass meines Studienabschlusses geschenkt worden.
Aus Japan hat man mir einen Sushi-Kugelschreiber (da stehen die Kanji der verschiedenen Fischsorten drauf) und ein paar Tüten mit Furikake, das sind Geschmack gebende Streusel für gekochten Reis, zukommen lassen. Ich freue mich sehr darauf!

Wir haben Heiligabend unglaubliche Mengen Fleisch gegessen. Vielleicht haben wir auch keine unglaublichen Mengen gegessen, sondern einfach nur einen Rekordanteil gegenüber dem einsamen Stück Zucchini, das wie das Alibigemüse auf der Anrichte aussah. Angefangen hat das Ganze am Nachmittag, wo ich, einer alten Familientradition folgend, mit Grill, Holzkohle, und (untraditionellem) Fächer auf die verschneite Wiese raus stapfte, und ein Feuer entfachte, an dem wir dann zu dritt Würstchen im Baguette aßen. Abends ging es dann weiter mit einem Raclette und Rindfleisch. Ich hatte nach diesem Gelage keine Probleme, aber mir war die Tage danach nicht so wirklich nach Essen, schon gar nicht nach Fleisch.

Nichtsdestotrotz gab es am ersten Feiertag Raclette bei meiner Mutter, wo ich zu meinem Ruhme aber beinahe komplett vegetarisch nur drei Kartoffeln und eine Garnele gegessen habe.
Scheinbar wegen der Eigenbrödelei ihres Katers Pinot Noir (der sich nur selten dazu herablässt, sich anfassen zu lassen und seine Ernährung mit Kratzen und Beißen quittiert) hat sich meine Mutter zusätzlich einen Hund zugelegt, den sie “Maurice” nennt:

Eine frz. Dogge, wenn ich das richtig in Erinnerung habe. Sieben Monate alt, quicklebendig, begrüßt scheinbar jeden, als er habe der ihm bereits eine Menge Steaks mitgebracht. Mit dem Kater ist er fertig geworden, im Willensduell: Der Hund kommt ins Haus, entdeckt den Kater, und läuft mit seinem jugendlichen Schwung auf ihn zu. Im letzten Moment verliert Pinot die Nerven und flüchtet. Damit war die Hierarchie geregelt.

Tags drauf zu den Großeltern, der Großvater hatte angekündigt, auch dieses Jahr gemeinsam essen zu gehen. Zu meiner Überraschung hatte er allerdings ausnahmsweise ein Abendessen und kein Mittagessen reserviert, und dann auch noch in einer Pizzeria. Gibt es was noch hundsgewöhlicheres? Ich will mich nicht beschweren, ich wurde eingeladen und bin dankbar. Allerdings machte dieses Abendessen meinen sonst üblichen Plan zunichte, im Laufe des Nachmittags und in den Abend hinein meinen Vater zu besuchen. Den musste ich dann zwischen zwei Uhr und Viertel vor Fünf einschieben, um rechtzeitig für die Pizza zurück zu sein. Dort war das Essen vielversprechender: Ein Hase und eine Pute, mit Klößen und Soße. Ich aß einen Kloß und ein Stück Fleisch. Mehr wollte nicht. Außerdem würde ich zwei Stunden später schon wieder etwas essen. Als Gag zwischendurch probierte mein Bruder aus, ob seine Tochter nicht vielleicht ihren Onkel, das bin ich, ankotzen würde, aber sie hat es zu seiner Enttäuschung nicht getan. Ich verzeihe ihm, auch im Hinblick darauf, dass sie sich den Kopf an meinem Daumen angestoßen hat und darüber in Tränen ausbrach.

Und danach das Essen, das ich ganz bestimmt nicht brauchte: Pizza essen in Wittersheim. Ich weiß nicht, wie er auf den Laden gekommen ist. Scheinbar sind die Großeltern mal dort gewesen, aber das war zu einer Zeit, als da noch ein anderer Pächter den Betrieb führte. Wir wären auch normalerweise in das Bistro im gleichen Ort gegangen, aber auch dort hat der Pächter gewechselt, nachdem das alte Ehepaar, das früher verantwortlich war, sich mittlerweile im Ruhestand befindet. Der neue Chef dort bietet scheinbar nur ein einziges Menü an… ich weiß noch nicht mal, ob es gut oder schlecht ist, für den Großvater war das Grund genug, da nicht mehr hinzugehen. Ob er mal bedacht hat, dass auch die Vorpächter gerade mal zwei Menüs angeboten hatten, um Auswahl zu simulieren?
Egal, Pizzeria dann eben. Voll mit Leuten einer familiären Weihnachtsfeier. Gerade noch vier Plätze frei, von denen wir drei reserviert haben.
Blick auf die Speisekarte: Dieser Laden bietet vier Pizzen an. VIER.
Immerhin, es sind keine Standardkompositionen, sondern eigene Zusammenstellungen. Ich kann die Namen nicht alle widergeben, ich erinnere mich, dass eine den Vornamen des Wirts trug, und eine andere den Namen des Ortes. Abgesehen von dem, was auf jeder Pizza drauf ist, bot der Belag der “Pizza Wittersheim” Spiegelei und Lyoner. Ich wollte ohne Ei mit mehr Käse. Das Weglassen des Eis hat geklappt, aber wenn das, was da an Käse drauf war, “mehr Käse” war, dann muss da ursprünglich so gut wie gar kein Käse drauf sein. Na ja, das kann man essen, muss man aber nicht. Es ist nicht herausragend, aber zumindest auch nicht schlecht – zumindest für meinen in der Regel eher anspruchslosen Geschmack.

Kaum vom Fressen genesen, überfiel mich die Laune, mir eine Flasche Rum zu kaufen, und ich schwöre: Hätte ich nicht am 28. Dezember am späten Abend eine Dokumentation über eine “Zeitreise” gesehen, in der eine Gruppe von Leuten in der Rolle von Mägden, Knechten, und einem Knappen von einem “Burgvogt”, der garantiert mal Grundausbilder bei der Bundeswehr war, sechs Wochen lang durch das Jahr 1419 gescheucht werden, hätte ich an der Flasche vermutlich länger als nur neun Stunden gehabt. Es war einfach zu nostalgisch, den Typen reden zu hören.
Ich habe auch nur ganz wenig gekotzt, aber meine Freundin um die Nacht gebracht und den folgenden Tag zwangsweise wegen Erholungsbedarf völlig sinnfrei totgeschlagen, so dass ich erst am 30. Dezember wieder etwas mit mir anfangen konnte. Das werde ich auch bestimmt nicht wieder tun… ich bleibe beim japanischen Reiswein. Der macht schön high und hat keine solchen Nachwirkungen.

Zu Silvester hat Volker nach Heusweiler gebeten. Mit seinem Bruder, der gerade in Trier weilte, hätte ich vielleicht hinfahren können… aber die Nachwirkungen von 0,7 Liter zu 37,5 % waren mir dann doch noch zu stark, und wollte das Jahr lieber geruhsam ausklingen lassen.
Was auch gelang: Es ist unglaublich, wie viel Zeit man damit verbringen kann, mehrsilbige deutsche Substantive (keine nominalisierten Adjektive und auch keine Pluralformen!) zu finden, die auf “e” enden und nicht feminin sind.
Wenn die weitaus häufigeren femininen Substantive die Regel sind, dann sind neutrale und maskuline die Ausnahme. Neutrale haben wir nur eins gefunden, aber bei den maskulinen Substantiven finden sich Unterausnahmen von den Ausnahmen, und bei den Tierbezeichnungen gibt es Überschneidungen, deren Ursache man wieder für sich ergründen müsste.

Es bleibt noch, den Rest der Weihnachtssüßigkeiten nach und nach zu verdrücken und irgendwann in ein paar Tagen den Weihnachtsbaum aus dem Fenster zu schmeißen. Dieses Mal werde ich mir auch Mühe geben, die Außenantenne des Bewohners untendrunter, einen Draht vom Fenster zum Baum, den ich letztes Jahr unbeabsichtigt gekappt habe, zu verfehlen.

29. November 2010

Schneeflocken am Wegrand

Filed under: My Life — 42317 @ 18:56

In Trier schneit es, sogar in der Stadt selbst und natürlich vor allem auf den Höhen, auf einer deren ich ja wohne. Der Stadtverkehr läuft nicht viel anders, als sonst auch, aber sobald man Alt-Kürenz verlässt, beginnt das alljährliche Winterdrama, dass ich in diesem Jahr erstmalig automobil erleben durfte.

Dazu sei ein Artikel eingeschoben, den ich aus informativer Armut und mangels guter Ideen nicht geschrieben habe: Mein Großvater hat aus gesundheitlichen Gründen tatsächlich den Verzicht auf sein Auto erklärt und es mir zur dauerhaften Verfügung gestellt. Das Benzin zahle ich, er übernimmt weiterhin Steuern und Versicherung. Im Gegenzug fahre ich mindestens einmal im Monat die Strecke Trier-Bliesgau und zurück, um mit den Großeltern den monatlichen Einkauf zu machen. In den vergangenen beiden Monaten kam ich jeweils mit einer Tankfüllung aus, aber ich bin auch mehr als einmal im Monat gefahren. Der tatsächliche Schnitt wird sich erst nach Ablauf des zweiten Quartals realistisch einschätzen lassen – obwohl es mir ganz lieb wäre, wenn es kein weiteres Quartal in Trier gäbe.

Aber ich bin aktuell in Trier und plage mich mit der Wettersituation.
Der Rückstau des Kürenzer Bergs beginnt ganz regulär an der Abfahrt zur Wehrtechnischen Dienststelle, und bis dorthin fahren derzeit die Busse. Wer weiter oben wohnt, muss laufen, oder ein Auto haben. Die Zeit, die dafür benötigt wird, ist etwa die gleiche.
45 Minuten hat es gedauert, im Schritttempo mit Stop-and-Go und allem drum und dran, von Alt-Kürenz zur Uni hoch zu kommen, von 1720 bis 1805.

Die Fahrspur nach oben kam dabei irgendwie voran, aber die Fahrspur in die Stadt hinunter war dicht. Dort stand der Verkehr dank eines Zementfahrzeugs, das aus irgendeinem Grund nicht weiter gefahren war. Es handelte sich nicht um einen Unfall. Vielleicht war dem Fahrer die Abfahrt zu gefährlich. Und ohne staatliche Hilfe in Form unserer immer blauer werdenden Freunde und Helfer dachte natürlich kein vernünftiger Mensch daran, gerade am steilsten Stück stehen zu bleiben, damit immerhin ein paar Fahrzeuge, die sich hinter dem LKW stauten, ihre Fahrt fortsetzen konnten. Zugegeben: Ich auch nicht. Dabei wurden zwei Stopps am Anstieg notwendig, weil natürlich auch der Kreisel oben auf der Höhe zu war. Ha, Anfahren am Berg auf schneematschiger Straße, aus technischer Sicht bin ich direkt stolz auf mich.

Hinauf wurde also gekrochen, hinunter gestanden, mal abgesehen von dem Menschenfluss hauptsächlich jüngerer Erwachsener, die zu Fuß in beide Richtungen unterwegs waren und sich Mühe gaben, nicht zu fallen.
In dieser Situation war Melanie jedoch heiß entschlossen, in die originalsprachliche Vorstellung des aktuellen Potter-Films zu gehen. Ich verzichte darauf, weil ich nur die ersten drei gesehen habe und es wenig Sinn machen würde, jetzt ins Kino zu gehen. Melanie wollte sich nicht abbringen lassen, und ich kann mich schon mal darauf einstellen, mitten in der Nacht in die Stadt zu fahren, um meine Freundin abzuholen, die mangels Busse sonst nicht so schnell nach Hause kommt.

Ich will zumindest mal hoffen, dass sich die Blechlawine, die sich vor meinem Fenster erstreckt, im Laufe des Abends auflöst, immerhin hat sie in Richtung Stadt etwas an Fahrt aufgenommen, ich nehme also an, dass mittlerweile ein Weg um den Zementlaster herum gefunden wurde, und hoffe, dass die Kiste bald von der Straße verschwindet.

1. September 2010

Eiserne Herzen (3/3)

Filed under: Militaria,Spiele — 42317 @ 19:15

Zuletzt ein Spiel, das ich für eine mutige Entscheidung hielt: Polen.
Nun ja, vielleicht ist Polen eine mutige Entscheidung, wenn man weiß, was kommt, aber nichts dagegen tut.
Das Spiel beginnt am 01. Januar 1936, und als erstes muss die Armee auf den aktuellen Stand gebracht werden. Dann besetzten die Deutschen das Rheinland. Großbritannien und Frankreich schweigen betreten und ballen die Faust in der Hosentasche – aber Polen reagiert! Indirekt. Ohne besonderen Grund fege ich mit 45 Divisionen durch die Tschechoslowakei und Österreich, um den Deutschen die Ausgangsbasis für den Angriff auf Polen zu nehmen. Europa reagiert nervös. Ungarn, Jugoslawen und Rumänen verlegen eilig Truppen an ihre Grenzen. Nur die Deutschen nehmen die Sache locker. Nur, was mache ich da eigentlich?
Ich nehme über Winter noch ein paar Modernisierungen vor und Ende Frühjahr 1937 erkläre ich dem Deutschen Reich den Krieg. Warum auch nicht? Die Deutschen haben zu diesem Zeitpunkt 48 Divisionen, die Polen 45. Ein geringfügiger und unbedeutender Unterschied, beachtet man die Leistungsfähigkeit der KI. Am 18. Juli 1937 kapitulieren die letzten deutschen Divisionen im Kessel von Essen und das Deutsche Reich wird von Polen annektiert. Aus irgendeinem Grund kann ich keinen Marionettenstaat einrichten. Vielleicht ist das für den stolzen Führer der Achsenmächte nicht vorgesehen?
Man soll übrigens kaum glauben, wie schnell der Aufstand von General Franco in Spanien zusammenbricht, wenn die Deutschen ihm nicht helfen.

Da nichts besseres auf der Agenda steht und ein Krieg die Bedürfnisse der Bevölkerung an Verbrauchsgütern senkt, wende ich mich als nächstes Italien zu. Eine gute Übung, da Italien über Kolonien verfügt. Und zu Übungszwecken baue ich eine Einsatztruppe von neun Luftlandedivisionen inklusive der notwendigen Transportmaschinen auf.
Den italienischen Stiefel aufzuräumen, ist keine große Sache. Die Ostseeflotte verlegt ins schöne Mittelmeer, Sardinien fällt. Sizilien wird ausgebombt. Noch sitzen die Italiener stark in Afrika, zumindest ihre Flotte, was einen konventionellen Angriff über den Teich hinweg verhindert, weil sie alle meine Transporter versenken würden – so eine Landung dauert mehrere Stunden, was der Flotte des Verteidigers Zeit gibt, sich an Ort und Stelle einzufinden und einzugreifen, und mangels genügend starker Kampfeinheiten kann ich die Landungsflotte nicht vor ihrer Vernichtung bewahren. Es schlug die Stunde der Fallschirmjäger.

Die sollten versuchsweise auf dem zumindest nicht durch Landeinheiten verteidigten Dodekanes landen, das ist eine Inselgruppe vor der Küste der Türkei. Jetzt bemerkte ich das Konzept, nach dem in diesem Spiel Luftlandungen behandelt werden: Die Weltkarte besteht nicht nur aus einzelnen Provinzen, sondern auch aus Gebieten, die grob den Nationalstaaten entsprechen, und Regionen, die man vielleicht mit Bundesländern vergleichen kann, so wie u.a. die Provinzen Stuttgart und Freiburg die Region „Baden Württemberg“ bilden. Als Ziel für Fallschirmjäger kann man keine einzelnen Provinzen, sondern nur Regionen auswählen. Der Dodekanes gehört zur Region „Östliches Mittelmeer“, und wenn ich die Region als Ziel markiere, dann landen die Fallschirmjäger automatisch auf Kreta. Und nirgendwo sonst. Ob ich an Kreta interessiert bin, oder ob ich Kreta selbst besitze, spielt überhaupt keine Rolle. Jede Region hat eine Art Hauptprovinz, und nur dort kann man luftlanden.
Dann lasse ich den Dodekanes halt bleiben und lande gleich in Libyen.
Italienische Truppen gibt es dort kaum, und Benghazi ist schnell genommen. Da das Ausladen in einem besetzten Hafen im Nullkommanichts geht, lande ich ein paar Heeresdivisionen aus und nehme die Luftlandearmee zurück nach Italien zur Auffrischung, bevor ich sie inmitten der libyschen Wüste absetze, während die Armee an der Küste entlang nach Westen auf Tripolis vorgeht.
Dabei entdecke ich, dass Luftversorgung nach dem gleichen Muster abläuft wie Luftlandung: Versorgungsgüter werden nicht dort abgesetzt, wo die Armee sie braucht, sondern in der jeweiligen Hauptprovinz der Region. Was für ein Quatsch ist denn das? Denn das heißt doch, dass es unmöglich ist, eine eingekesselte Armee aus der Luft zu versorgen, egal wie klein die Armee, und egal wie groß die Luftflotte ist, wenn die eingeschlossene Truppe nicht zufällig in der „richtigen“ Provinz sitzt!

Nach der Eroberung Libyens war die italienische Flotte verschwunden, hatte sich in Luft aufgelöst. Ich konnte ungestört auf dem Dodekanes landen, und anschließend Äthiopien und Somalia befreien. Ich beglückte die Afrikaner noch mit je einem modern ausgestatteten Hafen und entließ sie dann in die Unabhängigkeit.

Dann war niemand mehr da, der Stunk machen konnte. Mit Ausnahme der Japaner, aber an die kam ich nicht ran. Nur irgendwann 1939 erhielt ich noch eine Meldung, dass der deutsche Außenminister Ribbentrop von Polen eine Verkehrstrasse zwischen Pommern und Ostpreußen forderte. Dabei gab es weder ein deutsches Außenministerium, noch einen deutschen Staat. Dämliche Skripte!
Ich spielte noch mit dem Gedanken, mich mit den Russen anzulegen, aber wozu? Da die Spannung des Spiels gezwungenermaßen mit den Deutschen steigt und fällt, gab ich das Spiel dann Mitte 1939 auf.

Die Konzepte im Hintergrund

Prinzipiell handelt es sich weder um ein runden- noch um ein echtzeitbasiertes Strategiespiel. Oben rechts im Hauptbildschirm läuft eine Uhr, eine Stunde nach der anderen vergeht, je nach gewähltem Szenario vom 1. Januar 1936 bis zum 31. Dezember 1947. Die Geschwindigkeit, mit der die Stunden vergehen, lässt sich im Menü einstellen, und die Zeit kann jederzeit zu planerischen Zwecken angehalten werden.

Der Ansatz ist eigentlich klasse. In Strategiesimulationen, die den Zweiten Weltkrieg zum Thema haben, hat man als Spieler üblicherweise die Auswahl zwischen den hauptsächlich beteiligten Großmächten, aber Hearts of Iron 2 geht an das Maximum des Möglichen: Man kann jeden Staat spielen, der 1936 auf dem Globus zu finden war. Okay, es gibt Ausnahmen. Liechtenstein, Andorra, oder Monaco wird man vergeblich suchen. Aber man findet zum Beispiel Uruguay. Oder Nepal. Oder Albanien. Oder Luxemburg. Schon mal von Tannu Tuva gehört? Oder von Guangxi?

Das Spielen der Kleinen kann spaßig sein, auch, wenn sie von den größeren Nachbarn mit hoher Wahrscheinlichkeit überrollt werden. Luxemburg fällt der Wehrmacht zum Opfer, Albanien wird von den Italienern geschluckt, Nepal ist überhaupt ein britischer Marionettenstaat, Tannu Tuva geht früher oder später in der UdSSR auf, und Guangxi im geeinten China. Die Chancen dafür sind hoch, aber nicht bei 100 %. Das macht den Reiz aus.

Man muss als Nationenverwalter keinen Anteil am Zweiten Weltkrieg haben oder suchen. Als Südamerikaner, weit ab vom Schuss, kann man ziemlich ungestört sein eigenes Süppchen kochen. Auch als kleine, neutrale Nation in Europa oder Asien kann man versuchen, das beste aus der Situation zu machen. Der Iran z.B. könnte unter Aufbietung seines gesamten mit Ölexporten geschmierten Potentials, das nie und nimmer für Panzer oder Luftwaffe reicht, seine Infanteriekräfte ausbauen und Afghanistan schlucken. Oder die Türkei. Oder beide. Die Polen könnten sich ranhalten und mit der Eroberung der potentiellen deutschen Bündnispartner beginnen, bevor diese der Achse beitreten und damit ihr industrielles Potential dem falschen Pool zukommen lassen. Oder die Deutschen, solange sie noch schwach sind, gleich überrennen. Die Möglichkeiten sind jedenfalls gegeben.

Das im Spiel enthaltene Tutorial ist eine super Sache, um sich mit den Steuerungselementen und den Optionsmenüs bekannt zu machen, wenn man völlig neu in das Spiel einsteigt. Man muss einen Plan in der Tasche haben, wenn man das Spiel gewinnen will, denn hinter dem Mann an der Front muss eine funktionierende Kriegswirtschaft stehen, und die wiederum braucht brauchbaren Input aus Rohstoffen (Öl, Erz, seltene Materialien, Energie, Geld, und Nachschubgüter) einerseits, und verschiedenen Forschungsgebieten andererseits. Und man muss (oder sollte vielleicht) Schwerpunkte setzen, was man dem Mann an der Front in die Hand gibt. Man kann nicht alles haben, dafür reichen die Kapazitäten nicht aus. Wenn aus der geostrategischen Situation heraus klar ist, dass man hauptsächlich in Landkonflikte verwickelt wird, wird man dem Heer und der Luftwaffe den Vorzug geben und die Marineforschung auf das Notwendigste beschränken. Wenn der große Feind oder man selbst sich wirtschaftlich auf ein globales Koloniensystem stützt, dann wird man der Marine viel mehr Aufmerksamkeit widmen müssen, und statt normaler Infanterie eher zu Marineinfanterie und vielleicht Luftlandetruppen neigen.

Die Versorgung mit Rohstoffen funktioniert bequem, wenn man eine Landmacht ist. Probleme gibt es, wenn man sie aus überseeischen Gebieten beziehen muss und obendrein auch noch ein Feind mit Marine draußen lauert. Feindliche U-Boote durchkämmen dann die Meere zwischen Kolonie und Mutterland, und immer wieder werden Konvois und/oder Eskorten versenkt.
Dem kann man auf zwei Arten entgegenarbeiten: Erstens sollte man genügend solcher Schiffe gebaut haben, damit die Rohstoffversorgung nicht zum Erliegen kommt. Konvois und Eskorten sind ein zusätzlicher Produktionspunkt neben Transportflotten (die nur Truppen transportieren) und Zerstörern, die für offensive Zwecke in Schlachtflotten eingebunden werden. Zweitens kann man die Effizienz der Eskorten durch Marineforschung („Zerstörer“) erhöhen.
Wenn man das möchte, kann man die Planung der Konvois automatisieren und der Computer wird Konvoischiffe und Zerstörer zuteilen, aber ob man mit dem zugeordneten Verhältnis von Transportern und Kampfschiffen einverstanden ist, bleibt dem jeweiligen Spieler überlassen. Ein Zerstörer auf zehn Transporter mutet wenig an, wogegen andere Konvois auch mal mehr Zerstörer als Transporter bekommen, ohne, dass ein nachvollziehbarer Grund für die Prioritätensetzung vorläge.

Forschung ist eine große Sache in diesem Spiel. Das Forschungsmenü teilt sich in eine nicht geringe Anzahl von Teilbereichen, unter denen man seine Prioritäten auswählen kann.
„Industrie“ fasst ganz verschiedene Dinge zusammen, zum Großteil natürlich verbesserte Herstellungstechniken (z.B. Fließbandproduktion, die die Herstellungszeit von Einheiten verkürzt), aber auch Radar-, Nuklear-, Raketen-, Computer-, Verschlüsselungs-, und Agrartechnik.
Unter „Infanterie“ erforscht man verschiedene Infanterieformen, von den gewöhnlichen Landsern abgesehen gibt es technische Entwicklungen für Kavallerie, motorisierte und mechanisierte Infanterie, Fallschirmjäger, Gebirgsjäger, und Marineinfanterie, sowie logistische Neuerungen.
Der Bereich „Panzer und Artillerie“ dient der Erforschung neuer Divisionen von leichten und mittleren Panzern, schweren Panzerbrigaden, und verschiedenen Formen von Artillerie, Rohr- oder Raketen, selbst fahrend oder gezogen, Flak oder Pak.
Unter „Marine“ kann man neue Schiffstypen entwickeln und weiterentwickeln, die übliche Reihe von U-Booten und Zerstörern bis zu Schlachtschiffen und Flugzeugträgern, in den technischen Variationen von Vorkriegsstandard bis zu atomgetrieben (sofern man Atomtechnologie unter „Industrie“ erforscht).
Der Abschnitt „Flugzeuge“ ist ebenso selbsterklärend, es gibt Abfang-, Begleit-, und Mehrzweckjäger, taktische und strategische, sowie Marinebomber, Stukas und Lufttransporter.

Des weiteren gibt es drei Gebiete für Doktrinen, für Land-, Wasser- und Luftgefechte. Theoretisch gibt es mehrere Richtungen, in die man jeweils forschen kann, wie Massenangriffstaktiken, Feuerkraftfokus oder Mobilität beim Heer, verbesserten Flugtaktiken bei der Luftwaffe, oder verschiedenen Seekampfschwerpunkten bei der Marine, was den Einheiten Boni auf potentielle Eigenschaften gibt, die zu positiven Ereignissen während der Schlachten führen können. In der Praxis ist es bei den technisch fortgeschrittenen Staaten allerdings so, dass diese bereits die grobe Richtung vorgegeben haben. Man kann also als Deutscher z.B. nicht (mehr) statt Mobilitäts- (= Blitzkrieg-) den Feuerkraftfokus wählen. Eine einmal gewählte Richtung eliminiert alle Alternativen.

Zuletzt ist da das Kapitel „Geheimwaffen“. Dort entwickelt man aus der Raketentechnik die kriegerischen Anwendungen wie Raketen allgemein (sowohl Interkontinental- als auch Luft-Luft-, Luft-Boden-, und Boden-Luft-Raketen) und Düsenflugzeuge, setzt die bislang friedliche Atomforschung in Nuklearwaffen und atomgetriebene Schiffe um, bringt aber auch frühe elektronische Rechner – Computer – hervor, um die Forschung weiter zu fördern.

Diplomatie ist ebenfalls ein Lieblingsthema des Spiels.
Innenpolitisch kann man in jedem Jahr eine Reform durchführen, also ob man mehr zur Diktatur oder mehr zur Demokratie neigt, ob die Politik eher dem linken oder dem rechten Spektrum zuzuordnen ist, ob man Pazifist oder Kriegstreiber ist, eher isolationistisch auftritt oder aktive Intervention bevorzugt, ob man freie Märkte oder lieber Planwirtschaft will, und so weiter. Jede dieser Entscheidungen hat Vor- und Nachteile – so muss eine Diktatur weniger IK für Konsumgüter ausgeben, um die Bevölkerung zufrieden zu stellen, als eine vom Konsum verwöhnte Demokratie, und während Berufsheere eine höhere Organisationsstruktur aufweisen, können Einheiten aus Wehrpflichtigen mit weniger Aufwand an IK aufgestellt werden.

Je nach Konstellation dieser Schieber hat man als Spieler Einfluss auf die Zusammensetzung des eigenen Kabinetts, das aus dem Staatsoberhaupt, dem Regierungschef, Ministern für Äußeres, Rüstung, Sicherheit und Geheimdienst, sowie dem Chef des Generalstabs und den Kommandeuren der Teilstreitkräfte besteht. Jeder Minister bringt Vor- und Nachteile mit sich. Genau genommen gibt es ein paar Minister, die Vor- und Nachteile haben, während andere nur Vor-, und wieder andere nur Nachteile aufweisen. Je nach politischer Situation ist die Auswahl aber begrenzt, und manchmal bleibt nur die Wahl zwischen dem Teufel, der „-20 % auf Geldproduktion“ hat, und dem Beelzebub, der die Senkung der Unruhe behindert.

Durch Klicken auf die entsprechenden Flaggen in der linken Leiste erhält man eine Übersicht über den diplomatische Status verschiedener Nationen, welche Bündnisse sie unterhalten, mit wem sie Krieg führen, ob sie Gebietsansprüche an jemanden stellen, usw. Darunter sieht man das Kabinett des Staates und grobe Informationen über die Persönlichkeit der einzelnen Minister. Oben rechts erscheinen die diplomatischen Optionen, von denen die meisten eine finanzielle Investition notwendig machen.

Einen Krieg zu erklären kostet zumindest kein Geld, muss aber mit einem Anstieg der nationalen Unruhe, einem Absinken der betroffenen Staatenbeziehung auf den Minimalwert von -200, und den sonst logischen Folgen bezahlt werden.
Ganz teuer ist es, einen Putsch anzuzetteln, um eine freundlich gesinnte Regierung einzusetzen, und ob der gelingt, hängt irgendwie von der Unruhe des Zielstaats ab und von den Fähigkeiten der Minister für Sicherheit und Nachrichtendienste. Interessanterweise kann man keinen Staatsstreich bei einer Nation versuchen, mit der man sich im Krieg befindet.
Billiger kommt es vielleicht, eine Nation nur zu beeinflussen. Dazu fördert man freundlich gesinnte Politiker finanziell, was bei geringem Erfolg zu einem Anstieg des Zahlenwerts für diplomatische Beziehungen führt, und bei größerem Erfolg zu einer Annäherung der innenpolitischen Einstellungen des Zielstaats an die eigenen Werte.
Handelsabkommen können angeboten und aufgelöst werden. Das kostet kein Geld, aber der Bruch eines Abkommens belastet natürlich die diplomatischen Beziehungen.
„Verhandlungen eröffnen“ ist genau das, nur geht es hier nicht um Handel, sondern eher um Tausch, zum Beispiel von Provinzen. Dieser Punkt ist im Handbuch unter „Offene Verhandlungen“ zu finden… keine sinnige Übersetzung von „open negotiations“.
Des weiteren gibt es die Möglichkeit, jemandes Unabhängigkeit zu garantieren, einen Nichtangriffspakt vorzuschlagen oder aufzuheben, jemanden ins eigene Bündnis einzuladen, oder aus einem Bündnis auszutreten, Truppen an Verbündete zu senden, einen Durchmarschbefehl für die eigenen Truppen zu fordern, oder gleich den Oberbefehl über die verbündeten Truppen zu übernehmen – vorausgesetzt, die betroffenen Politiker stimmen dem zu.

Man sollte ganz zu Beginn einstellen, welche Nachrichten man deutlich angezeigt bekommt, und ob diese den Zeitablauf unterbrechen sollen oder nicht. Es ist empfehlenswert, sich auf das wichtigste zu beschränken, sonst verbringt man sehr viel Zeit damit, Nachrichtenfenster wieder zu schließen. Jede Nachricht kann jederzeit über das „Logbuch“ abgerufen werden, der Unterschied besteht darin, dass man sich die Mühe machen muss, dem Ablauf der internationalen Ereignisse bewusst zu folgen. Aber das meiste davon ist unwichtig.

Nicht ganz unwichtig sind die verschiedenen Darstellungen, die man sich auf die Karte projizieren lassen kann. Neben der Standardansicht gibt es zum Beispiel eine Wetterkarte. Schlechtes Wetter unterstützt grundsätzlich den Verteidiger, also möchte man vielleicht den Wetterbericht ansehen, bevor man eine Offensive in Auftrag gibt. Weiterhin gibt es eine Ansicht, die über Partisanentätigkeit in den einzelnen (eroberten) Provinzen Auskunft gibt. Diesen Widerstandsgruppen muss man mit Garnisonsdivisionen und Polizeibataillonen begegnen. Interessant ist auch die Darstellung der Wirtschaft, wo man sehen kann, welche Rohstoffe es in den jeweiligen Provinzen gibt. Man sollte sich bei seinen Angriffen aber weniger von Rohstoffen, als eher von einer haltbaren Frontlinie leiten lassen.
Zuletzt erwähnenswert ist die Geländekarte. Berg- und Hügelregionen sind nicht nur leichter zu verteidigen, sondern auch schwerer zu durchqueren, man sollte also aufpassen, wo man hinläuft.

Spielerleichterung

Gibt es ein Spiel ohne Cheats? Es gibt zwar auch hier die üblichen Wörter und Phrasen, die man während des Spiels irgendwie eingibt, worauf man unrealistische Vorteile erhält, es gibt aber originellere Methoden.

Die Spiele werden unter anderem in Dateien mit der Endung .eug gespeichert. Diese Dateien kann man mit dem Texteditor öffnen und einfach alle Werte ändern, die man verbessern möchte. Zum Beispiel kann man den Namen eines im Spiel vorkommenden Wissenschaftlers suchen und dessen Spezialgebiete ändern. Oder man sucht sich einen General und gibt ihm irgendwelche Fähigkeiten. Man muss sich nur an die in der Datei verwendete Syntax halten. Was man nicht tut, ist den Fertigkeitswert einer Person erhöhen; stattdessen setzt man die Werte auf “1” fest – weil dieser Wert nur eine Aussage darüber macht, wieviel die Dienste dieses Forschungsteams kosten. Der Fertigkeitswert macht keine Aussage über die Forschungsgeschwindigkeit. Das Vorhandensein eines Spezialgebiets gibt einen Bonus, das ist alles.

Taugt es was?

Ja, prinzipiell schon. Da man sich den Staat, den man spielen möchte, beliebig aussuchen kann, ist es möglich, intuitiv einen Schwierigkeitsgrad festzulegen, den es so im Spiel nicht gibt.

Das Planen, Bauen und Befehlen macht schon Spaß, und natürlich ist es viel interessanter, einen Krieg zu führen, als darauf zu achten, dass der Rohstoffimport mit dem Wirtschaftswachstum Schritt hält. Das politische Taktieren hat etwas für sich, aber noch ist mir nicht ganz klar geworden, was mir die Außenpolitik eigentlich bringt, sieht man einmal von der Rohstoffeinfuhr ab. Es ist zum Beispiel völlig schleierhaft geblieben, was es bringt, einen anderen Staat politisch zu beeinflussen.

Grafisch kommt das Spiel eher spartanisch daher, aber es ist erstens auch nicht mehr ganz neu, und zweitens muss ein Strategiespiel auch nicht grafisch auf dem neuesten Stand sein. Wozu auch? Es braucht ja nur erkennbare Symbole auf einer Weltkarte.
Die Icons der einzelnen Divisionstypen ändern sich je nach Modernisierungsgrad, das reicht meines Erachtens völlig aus.

Die Klangeffekte sind ein schöner Punkt. “Krieg ist die Hölle, aber der Sound ist verdammt geil!” hieß es bei uns früher, und Hearts of Iron II bietet ebenfalls Kampfgeräusche, wenn es zu feindlichen Begegnungen kommt, gerade bei Luftangriffen und Seegefechten. Mir zumindest haben Sie gefallen.

In der deutschen Version des Spiels sind manche Namen bedeutender Nazipersönlichkeiten verfälscht: Göhring ist Gorink, Himmler ist Heimmler, und Hitler ist Hiller. Aber Ribbentrop, Bormann, und Kaltenbrunner dürfen so heißen, wie sie nunmal hießen. Interessant war auch zu sehen, dass “Heimmler” den Kommandeursposten einer Armee inne hat. Schwachsinn pur.

Es ist natürlich auch wieder einmal schade, dass der vom Computer gesteuerte Gegner von minderer Qualität ist. Es ist allein schon auffällig, dass der Gegner nur die billigsten Kampfeinheiten, Infanterie, baut. Vielleicht auch noch kleine Marineeinheiten. Ich möchte jedenfalls vermuten, dass alles andere, was die Deutschen zum Beispiel in die Schlacht werfen, lediglich modernisierte Versionen der Einheiten sind, die sie bereits zu Spielbeginn hatten, dass aber zum Beispiel keine Panzer oder Flugzeuge nachgebaut werden, dafür habe ich bislang viel zu wenige von denen vorgefunden. Das ist einerseits unrealistisch, andererseits senkt der Mangel an motorisierten Einheiten den Ölverbrauch und damit den Bedarf an Einfuhren ganz erheblich. Im Rahmen der beschränkten Logik des Spiels macht das also Sinn, aber begeistert bin ich von diesem Detail dennoch nicht.

Es gibt auch eine Multiplayer-Option, ich habe sie allerdings nicht ausprobiert. Das könnte wiederum interessant sein, aber vermutlich ist es auch extrem zeitintensiv.

12. Oktober 2009

Geben Sie uns Geld!

Filed under: Uni — 42317 @ 17:55

Tröröö, der nächste Troubadour finanzieller Notwendigkeiten steht vor der Tür.
Diesmal in Form des Bundesverwaltungsamts.

Dieses Amt ist zuständig für das Eintreiben von BaföG-Schulden, und laut Auskunft ist meine erste Rate nach fünf Jahren des maximalen Bewilligungszeitraums fällig: Im kommenden März. Nach meinem Verständnis des in schönstem Beamtendeutsch verfassten Schreibens muss ich die erste Vierteljahresrate in Höhe von 315 E zahlen, und zwar unabhängig von meiner Einkommenssituation und unabhängig davon, ob meine Ausbildungszeit bereits vorüber ist. In diesem Punkt kann ich mich allerdings irren, möglicherweise ist auch allein das Ende der Ausbildung unbedeutend für den Start der Rückzahlungen und geringes Einkommen zählt immer als Aufschubgrund.
Die weiteren Raten kann ich auf jeden Fall mit Hinweis auf ein zu niedriges Einkommen – die Grenze liegt irgendwo knapp über 1000 E – um ein Jahr verschieben, wonach ich erneut begründet verschieben kann oder aber zahlen muss, falls ich kann.

Nach dem augenblicklichen Stand, also ohne mein Aufschubgesuch, müsste ich ab März 2010 bis ins Jahr 2014 hinein monatliche Raten in Höhe von 105 E zahlen. Leider habe ich derzeit nicht so viele Rippen, als dass ich das alles da rausschneiden könnte.
Wenn ich mir auf die Schnelle den gesamten fälligen Betrag (zwischen 5000 und 6000 E)  zinslos leihen könnte, wäre ich sogar in der Lage, einen dicken Batzen Geld zu sparen – aber woher nehmen?
Weitere Sparmaßnahmen bestehen aus Fällen wie “Ausbildung innerhalb des Bewilligungszeitraums abgeschlossen” (oder wenige Monate danach), oder “als einer der besten 30 % der Jahrgangsteilnehmer abgeschlossen”… jaja, völlig ausgeschlossen bei einem derart unmotivierten Fall von “Hauptsache, weg hier!” wie mir.

Was ich auf jeden Fall sofort zahlen muss, sind 25 E Bußgeld. Und zwar dafür, dass ich dem Bundesverwaltungsamt meinen Wohnungswechsel nicht angezeigt habe. Da musste meine Sachbearbeiterin wohl irgendwo anrufen, um herauszufinden, wo ich wohne, und unabhängig von den entstandenen Kosten dieser Arbeit sind pauschal 25 E an Vadder Staat abzuführen. Aber was soll’s, mea culpa, selber Schuld, und das kostet halt Geld. Leb damit oder häng Dich auf, wenn’s das wert ist.

15. Juli 2009

Das Wort zum Zweiunddreißigsten

Filed under: Japan,My Life,Uni — 42317 @ 22:43

Zuerst mal Danke an alle, die an meinen Geburtstag gestern gedacht haben.

Meine Oma hat als erste um halb Neun angerufen. Mein Opa war da leider nicht zu erreichen, weil er es dieser Tage vorerst wieder einmal geschafft hat, dem Tod von der Sense zu hüpfen. Nach einigen Schwierigkeiten, die der Herzschrittmacher nicht wettmachen konnte, ist derzeit wieder die Rede von Kur und Reha.

Mein Vater und WSK haben leider abends angerufen, und dienstags ist das keine gute Idee, weil ich da Rennergebnisse auswürfele, den Sheriff manchmal unter Verschonung des Deputys erschieße, oder aber mich mit Dynamit in die Luft sprenge. Dies alles im Kreis werter Kameraden, die ich nicht missen möchte. Dienstag abends nach Acht anzurufen ist jedenfalls keine gute Idee. Dabei möchte ich erwähnen, dass einem das Brummen aus dem Telefonhörer auf den Keks gehen kann. Das könnte an der Internetleitung liegen, allerdings habe ich bemerkt, dass dieses Störgeräusch sich kurzzeitig beheben lässt, indem man am Hörer herumdrückt. Ein Funktionsfehler unseres sicherlich nicht teuren Telefons ist daher nicht auszuschließen, und die Alice-Flatrate möglicherweise völlig unschuldig!

Und da wird mir zugetragen, dass eben jener WSK sich beschwert habe, dass ich seine Kommentare nicht kommentiere. Hm… bislang war ich nach dem Lesen eigentlich der Meinung, alles notwendige sei gesagt worden, wozu also noch weiteres hinzufügen? Ihm sei gesagt, dass ich generell dankbar bin für Kommentare, auch für seine, dass ich dies aber nicht extra noch drunterschreibe. Wenn ich es für sinnvoll erachte, noch etwas hinzuzufügen, werde ich das jedenfalls mit Sicherheit tun.

Sempai Pierre hat angerufen, zum Spieleabend, aber ich will mir zumindest mal einbilden, dass mein Geburtstag seine Hauptmotivation gewesen ist, zumal er ihn kaum vergessen kann, weil der werte Freund nämlich Franzose ist, und welcher Nachfahre der bastillestürmenden Massen könnte einen Geburtstag am 14. Juli vergessen?
Der jedenfalls fand die westliche Beta-Version eines japanischen Spiels nach der Serie “Higurashi no naku no koro ni” so erschreckend schlecht, dass er umgehend Mails an die Lizenzeigner in Japan geschrieben hat. Alles sehr löblich, allerdings muss ich aus eigener Erfahrung sagen, dass es an ein Wunder grenzt, auf offizielle Mails nach Japan irgendeine Antwort zu erhalten, zumal es auch nicht selten in den vergangenen Jahren aussah, als ob sich japanische Lizenzeigner einen Dreck dafür interessierten, was man mit ihren Produkten im Ausland machte. In Sachen Unterhaltung sind Japaner extrem auf den Binnenmarkt konzentriert.

Tolle Sache: VAG hat mir japanische Milchkaffeedosen mit Evangelion Sondermotiven geschenkt! Leider haben nicht alle die Reise ohne Beulen überstanden, aber vielleicht kann man das mit Innendruck wieder hinbiegen? Ich hab sie jedenfalls leergesoffen, mit Wasser gefüllt und ins Eisfach gestellt, und harre nun der Dinge, die da kommen, wie wir bei der Armee gerne sagten.

Apropos Armee, auch mein kommissarischer Feldwebel, mittlerweile vom Tiefpfälzer zum Mittelrheinländer mutiert, hat mich mit einem Anruf bedacht, der von dem Geschrei seines Nachwuchses im Hintergrund nur minimal gestört wurde. Auch der hat mir eine Geschenklichkeit angedeutet. Also, der Ex-Fw natürlich, nicht sein Nachwuchs. Ich bin nicht sicher, womit ich das immer verdient habe, aber dankbar bin ich allemal.

Ricci hat mir einen 15 E Amazon Gutschein geschenkt! Eitel Freude herrschte da. Und Kopfzerbrechen. Was von meiner langen Wunschliste soll ich denn nur kaufen? Nachdem Melanie mich darauf aufmerksam gemacht hat, dass man für einen Zwanziger einkaufen muss, um versandkostenfrei zu kaufen, war die Wahl gefallen: “Band of Brothers” kommt ins Haus!

Ein paar Leute haben wohl nicht sofort dran gedacht… aber das macht nichts… ich denke auch manchmal erst Wochen später an Geburtstage. Ich wäre also der letzte, der sich deswegen verstoßen vorkommt.

Verdammt, sogar der Mihel hat dran gedacht! Ein bitter  belustigtes “sogar”, möchte ich sagen. Mit nur vier Tagen Unterschied ist seine Tat auch nicht schwer gewesen, aber ich will mal abwarten, wie lang es noch dauert, bis ihm dämmert, dass ich ihm sehr übel nehme, dass er seine Hochzeit vor wenigen Wochen verschwiegen hat, während er anderen Leuten aus meinem Umkreis sehr wohl davon erzählt hat. Aber ich hab auch kein engelsgleich blondes Haar, und überhaupt fehlen mir vielleicht die weiblichen Formen, die es braucht, um meiner für solche Gelegenheiten zu gedenken. Egal. Er ist damit der zweite, der achtkantig aus meinen Dateien geworfen wurde.

Übrigens, meine/unsere Nebenkostennachzahlung… die war nur 160 E stark. Da war ich ein bisschen überrascht, muss ich zugeben. Aber vielleicht war auch die Bombe vom letzten Jahr nur eine Illusion in meiner wirtschaftlichen Dauerdepression?
Doch halt, Korrektur: Sie war dieses Jahr 212 Euro stark und die 160 E sind vom vergangenen Jahr. Die aktuelle Rechnung wurde trotz konstant gebliebenen Verbrauchs von den gestiegenen Energiepreise in die Fäkalientonne geritten.
Wie dem auch sei, ich bin jedenfalls der Meinung, dass ein energieeffizienterer Eisschrank, Energiesparlampen, und nächtlich ausgeschaltete Computer im Vergleich zu früheren Jahren so einiges gerettet haben. Dann kann ich ja dem unibedingten Aderlass im nahen Herbst ein kleines bisschen entspannter entgegenblicken, wenn mich mein Magisterarbeitssemester 800 Flocken kosten wird.

Und die alte Band hat gratuliert. Ist das nicht nett von den undisziplinierten Nervensägen? Na ja, einer der eher Verschollenen hat sich gemeldet und ein Grillen im alten gauischen Domizil vorgeschlagen, mit den Eltern in einem fernen Urlaubsland weilend… da krieg ich ja direkt nostalgische Gefühle! Na, für einen Abend werd ich die Jungs wohl ertragen können.
Scherzle am Rande. Oder wie der Kamerad Jordan aus Karlsruhe zu sagen pflegte:
“Haha, Spässle g’macht, Witzle g’risse.” Natürlich sagte er das nur, wenn jemand Witze auf seine Kosten machte. Zum Beispiel in Anbetracht seiner an eine Kartoffel erinnernde Körperform, von den Armen und Beinen mal abgesehen. Möchte wissen, was aus dem geworden ist… aber da der Suchdienst der Bundeswehr ja völlig inkompetent ist, kann ich das auf die Schnelle vergessen. Ich hab keine Ahnung, nach welchem Muster die jemanden finden. Den Kameraden Roppel haben sie gefunden, obwohl der mittlerweile mindestens einmal umgezogen war. Der Kamerad Ritter war auch nur einmal umgezogen, aber den haben sie nicht gefunden. Und der Kamerad Theuer war gar nicht umgezogen, hat aber niemals ein Schreiben von denen erhalten. Ja, ich habe die beiden letztgenannten sozusagen als Kontrollgruppe eingefügt. Ich gehe nicht davon aus, dass ich derart unbeliebt im Zug war, dass sich niemand außer dem ollen Roppel bei mir melden würde.

Ich schweife ab. Ich schweife ab? Was soll ich denn sonst noch so sagen?
Eine Sekretärin der Anglistik, Frau D., ist mit 62 Jahren in Rente gegangen. Was denn, die war 62? Die sah nicht unbedingt älter aus als 52. Zumindest sah sie jünger aus als die Obersekretärin Frau S., die immer noch da ist, was aber an dem nicht geringen Tabakkonsum der letztgenannten liegen könnte. Raucher der Welt, verwendet Nikotinpflaster! Da ist immer noch Suchtstoff drin, aber immerhin keiner der 4500 Giftstoffe des verarbeiteten Tabaks. Auch die Phonetik lehrende Dozentin Frau O. ist in Rente gegangen, aber die sah auch schon länger aus, als sei sie reif dafür. Und entgegen allen Unkenrufen kam man gut mit ihr aus. Zumindest außerhalb des Sprachlabors. Aber scheinbar – oder offensichtlich – war ihr Humor nicht jedermanns Sache. Der kam manchem ein bisschen grantig vor. Da saß ich anno 2005 im Sprachlabor in der ersten Reihe, der Saal voll. Neben mir eine Tasche auf dem Stuhl.
Da schaut sie mich strafend an und sagt: “Sie erinnern mich an diese BWL-Arschlöcher im Zug, die ihre Taschen auf den Sitz stellen und lieber alles und jeden stehen lassen, aber Hauptsache, die Tasche hat einen Platz. Also, runter damit!” Dabei war das gar nicht meine, die Besitzerin war nur kurz vor Unterrichtsbeginn nach draußen gegangen. Vielleicht “e Angschdbach mache”, wie mein alter Freund HJK manchmal meint? Nee, wohl nicht… ich wollte dieses infame Wort auch nur mal in meine Schlagwörter aufnehmen, mal sehen, ob es irgendwann “Toilettenweisheiten” als den Toppverweis auf mein Code Alpha Blog ablöst?

Auch im Animetric Forum hat man sich meiner erinnert, aber das ist auch nicht schwer, weil der Geburtstag eines Mitglieds automatisch auf der Hauptseite angezeigt wird. Ich würde mich beinahe noch mehr freuen, wenn ich bei den derzeitigen Verlosungen mal wieder was gewinnen würde, was wegen der langen Warteliste der Dinge, die ich vorher sehen möchte, wahrscheinlich erst in ein paar Jahren in meinem DVD Player landet, aber gehabt ist gehabt, und gewonnen ist doppelt so gut wie gekauft.
Und sobald Wettbewerbe und Verlosungen ausgeschrieben werden, kommen sie aus ihren Löchern, die so genanten Lurker. Sie sind eingeschriebene Mitglieder, aber man liest das ganze Jahr über kein Wort von ihnen. Aber wenn es was zu gewinnen gibt… ja dann sind die auf einmal so aktiv wie Ameisen, denen auf einmal verdammt viel einfällt, was sie schreiben und vorschlagen können, um was geschenkt zu bekommen… um ganz ehrlich zu sein, nervt mich das ein bisschen… wozu Preise an Leute verteilen, die kein bisschen daran mitarbeiten, die Popularität der Webseite zu steigern? Mehr Posts, mehr Themen, daraus folgt: mehr Begriffe, über die man das Forum mittels einer Suchmaschine finden kann. Kriegt man von denen aber nicht. Sie behaupten, sie würden Forumseinträge nur lesen. Ja Chekov, basst scho. Vielleicht sollte man Lose verteilen, deren Anzahl sich nach den eigenen Beiträgen in den Diskussionsforen richtet. Das wär fein, vor allem bei der Masse meiner eigenen Beiträge. Ach, vergessen wir das, das wird nicht geschehen, unser Admin ist Demokrat, und er vergibt auch Preise an Leute, die sich nur dafür eingeschrieben haben und danach wieder in den Weiten des WWW verschwinden.

Abgesehen davon habe ich an einem Wettbewerb des Japan-Vloggers BusanKevin teilgenommen (der nennt sich so, weil er auch ein paar Jahre in Südkorea zugebracht hat), dessen Ergebnis noch aussteht. Ja, ich rede von YouTube. Er hat dem zufällig zu ziehenden Gewinner jedenfalls eine Kiste voll japanischen Krempels versprochen, darunter eine große Tüte Wasabi-Furikake (das sind gefriergetrocknete Streusel für den gekochten Reis, dessen Feuchtigkeit die Streusel genießbar macht, ich habe vor Jahren mal in meiner Japanrundmail davon berichtet, und was Wasabi ist, muss ich wohl nicht extra erklären).

Last but not least… es wurde viel geredet über den bundesweiten Studentenprotest im vergangenen Monat, der sich gegen die derzeitige Erscheinungsform der Bachelor und Master Studiengänge richtet. “Fünf Jahre zu spät!” sagt ein Dozent und hat vermutlich Recht. Und da waren wohl einige Protestierer so gefrustet vom bösen Staat, dass sie mit Hilfe von Schablonen diverse Abbildungen und Sprüche mit Lackfarbe an die Unigebäude, auf Böden, und auf Glasscheiben gesprüht haben, die man nicht so einfach wieder runterwischen kann. Herzlichen Dank ihr Arschgeigen. Das macht mir das Anliegen der Aktion so richtig sympathisch. Von mir aus könnt ihr im BaMa Studiengang verrotten, denn Hände abhacken is ja bei uns nich. Dabei kam mir das nach einer Vorzugsbehandlung mit speziellen Arschtrittstiefeln erst als zweites in den Sinn.

22. Februar 2009

Big Mac Ramadan (2/3)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 21:19

Da keiner den ersten Schritt machte, ging ich vorneweg, wie erwartet folgte mir der entschlusslose Rest wie eine kleine Herde Lemminge. Nach zweihundert Metern fanden wir, was wir suchten: Einen kleinen Imbiss mit Sitzgelegenheit, der mit der Aufschrift “Good Food” warb. Die Verkäuferin war wohl um die Fünfzig und stammte aus Ostasien. Wir bestellten alle was zu essen, ich selbst ein Sandwich mit Lachs, und die eine oder andere Bestellung musste wiederholt werden, weil die sonst nette und zuvorkommende Angestellte nur ein suboptimales Deutsch beherrschte. Aber wir kriegten alle was zu Beißen, nur der Lachs ist leider ausverkauft. Ich nahm stattdessen Tandoori-Chicken. Die Currypaste dazu war nicht schlecht, aber wenn ich das nächste Mal ein solches Sandwich zu mir nehme, werde ich sie weglassen.

Wir schlugen irgendwie eine Stunde tot. Ich hatte Glück und bekam einen SPIEGEL zu fassen, mit einem Bericht über die deutsche Beteiligung am Unternehmen “Atalanta”, der Piratenjagd im Golf von Aden, und einem Artikel über eine ecuadorianische Familie, die illegal in Deutschland lebt und arbeitet, um Geld für das Eigenheim in der Heimat zu sparen.

Um 1645 suchte ich noch die Toilette auf, und eigentlich suchte ich sie mehr als ich sie aufsuchte. Die Tür im Laden selbst führt in einen Zwischenraum mit schneeweißen Wänden, in dem sich drei weitere Türen befinden, eine links, eine geradeaus, und eine rechts. Nirgendwo ein schriftlicher oder grafischer Hinweis. Ich probierte die linke Tür aus. Sie führt in die Küche des Ladens, also schloss ich sie wieder. Ich öffnete die Tür geradeaus. Auf der anderen Seite hat sie keinen Türgriff zum Öffnen, sondern nur einen Knauf, ich würde also nicht wieder zurück können, wenn sie ins Schloss fiele. Außerdem führt sie in die Lobby eines rückseitigen Gebäudeteils und befindet sich am Kopfende der Einbuchtung, in der sich die vier Fahrstühle befinden. Dann blieb ja nur noch eine Tür übrig. Ich kam mir vor wie in einem Rollenspielabenteuer.

“Ich öffne die rechte Tür des Zwischenraums. Was sehe ich?”
“Da ist ein reichlich unbeeindruckender, leicht nach links gekrümmter Gang mit ebenso weißen Wänden wie der Zwischenraum. Du siehst, soweit Du in die Krümmung hineinsehen kannst, fünf Türen an der rechten Seite. Zwischen den Türen hängen ebenso unbeeindruckenden Gemälde, die wohl nur die Tristheit des Gangs etwas aufpolieren sollen. An der linken Seite scheint nach etwa zehn Metern ein weiterer Gang abzubiegen.”
“Ich sehe mir die Tür zur Rechten an.”
“Die Tür hat ein Schild, aber darauf steht nur eine Nummer. Kein Name und keine Funktionsbezeichnung.”
“Die nächste Tür?”
“Ebenso.”
“Kann ich mittlerweile in die Einmündung zur Linken sehen?”
“Klar und deutlich. Es ist kein weiterer Gang, nur eine Einbuchtung von etwa einem Meter Tiefe. Da befindet sich eine Tür, und über der Tür befindet sich die vereinfachte Darstellung eines Menschen, wie man sie an Toiletten öfters findet…”

Als ich dann abschließend mein Essen bezahlte, waren die anderen bereits vorausgegangen. Ein Gefühl für das Verhältnis von Raum und Zeit haben die scheinbar nicht… ach, egal. Je früher wir reinkommen, desto früher werden wir fertig.

Um 1650 standen wir am Eingang, aus dem Leute in diesem Moment hauptsächlich herauskamen, weil die Messe laut offizieller Angabe um 1700 zu Ende ging. Der Eingangsbereich ist eine längere, helle Räumlichkeit mit einem Informationsstand vorne und einem Durchlass weiter hinten, hinter dem sich zwei Rolltreppen befinden, über die man zu den Ausstellungsflächen gelangt. An dem Durchlass standen zwei Damen mit roten Blazern und im Hintergrund ein ernst dreinschauender, kräftig gebauter Mann in schwarzer Bomberjacke, wahrscheinlich für “Notfälle”.

Als wir hineingehen wollten, wurden wir zunächst abgewiesen – außer dem Älteren der beiden von Elsen hatte nämlich keiner von uns eine Karte, die ihn als Abbauhelfer identifizierte, außerdem dürften wir frühestens in zehn Minuten hinein, wenn die Veranstaltung offiziell beendet sei, hieß es. Wundertolle Sache. Der Mann mit Karte telefonierte mit dem sia-Vorarbeiter. Der versprach, alsbald die sechs fehlenden Karten zu besorgen.
Das allerdings dauerte bis 1710, und ich habe keine Erklärung zu hören bekommen, was da so lange gedauert haben könnte.

Während der Wartezeit, direkt neben dem Durchlass, wurden wir aber auch Zeuge, wie Schindluder getrieben wurde und die Organisation versagte. Eine Gruppe Männer kam herein, die man sofort als Handwerker erkannte. Zumindest machten sie mit all dem Werkzeug einen kompetenten Eindruck. Allerdings hatte nur einer von ihnen eine Karte. Alles Verhandeln half da nichts, keine Beteuerung, dass auch die übrigen Leute zum Unternehmen gehörten, das den Stand Soundso abbauen sollte. Die zuständige Dame hatte ihre Anweisungen. Die Kartenlosen mussten also zu dem Wachmann im Hintergrund gehen und jeder ein Formular ausfüllen, wonach man sie einließ.
Dieser doch Zeit raubende Vorgang entging zwei anderen Arbeitern weiter hinten nicht, von denen auch einer keine Karte hatte. Der erste, mit Karte, ging also zur Kontrolle, zeigte demonstrativ seinen “Passierschein” vor und band die Aufmerksamkeit der jungen Frau mit irgendeiner Bemerkung. Während er sprach, führte er die Karte lässig zur Jackentasche, tat aber nur so, als würde er sie einstecken und ließ sie stattdessen fallen. Sein Hintermann hob die Karte schnell auf, worauf der erste das Gespräch mit einem freundlichen Lächeln beendete und zur Rolltreppe ging. Sein Kollege zeigte also die exakt selbe Karte vor und folgte ihm.

Es war der einzige Mogelvorgang, den wir bemerkten, aber so einige wurden aufgefordert, Formulare auszufüllen oder bis zum Eintreffen ihrer Zugangsberechtigung zu warten. Ein interessanter Fall war noch darunter: Ein junger Mann kam etwa um fünf nach Fünf zur Kontrolle und zeigte seine Eintrittskarte vor, die ihn als Aussteller oder Ausstellermitarbeiter auswies. Trotzdem ließ man ihn nicht herein.
Begründung: “Diese Karte war nur bis um 17 Uhr gültig.”
“Aber ich muss zu meinem Stand!” rief er verzweifelt.
“Tut mir leid, ohne Abbaukarte kann ich sie nicht einlassen.”
Auch er füllte ein Formular aus. Und während all der Zeit ließ sich die Dame am Durchlass doch dazu erweichen, ich weiß nicht, mit welchen Argumenten, auch eine kleine Handvoll Leute ohne Karte durchzulassen.
WTF!?

Um 1710 kam der “Bote” mit unseren Karten. Wir zeigten sie vor, und gleich, nachdem wir einen Schritt hinter die Absperrung gemacht hatten, wurden sie wieder eingesammelt.

Der Stand G10 war nicht gerade um die Ecke. Wir mussten ein paar Hundert Meter weit gehen, unterstützt von ebenerdigen Rollbändern. Dann kamen wir am Arbeitsplatz an. Sah auf den ersten Blick unscheinbar aus. Eine Theke mit Computer und Kühlschrank, ein paar Ausstellungsstücke. Der wahre Stand lag dahinter. Der erste Eindruck hatte getäuscht: Auf dem Weg zu der Kammer, in der wir Rucksäcke und Jacken abladen, versuchte ich, die Ausstellungsfläche abzuschätzen – und schätzte sie auf 20 mal 25 Meter, unterteilt in mehrere “Zimmer”, also Themenbereiche, voll gestopft mit mitunter kleinstem Kram, mit dem man sich die Wohnung verzieren kann. Viel Glasware war dabei, aber auch Ton, und Blumen, die sich erst beim zweiten Hinsehen als Plastik herausstellen.

Bevor es dann richtig losging, mussten erst mal die Paletten, Kisten, Kasten, und Kartons aus den LKWs geholt werden, und natürlich die Polsterfolie, von der einige Kilometer zur Verfügung standen. Diese Rollen sind einen Meter hoch und haben einen Durchmesser von 50 cm, aber sie sind ganz leicht, also nahm sich jeder zwei.
Die Paletten wurden auf dem Parkplatz ausgeladen und mussten so gestapelt werden, dass man sie mit einer “Ameise” bequem aufnehmen und in den Lastenaufzug fahren konnte. Unseren unsicheren Kameraden konnte ich davon überzeugen, dass er die Paletten lieber flach hinlegt, weil es keinen Sinn macht, sie aufrecht aufzustellen. Und wie froh bin ich mit meinen mitgebrachten Arbeitshandschuhen – er dagegen holte sich auf dem Weg zurück zum Stand erst mal einen Splitter aus der Handfläche.

Wir bekamen jeweils paarweise einen Raum zugewiesen, und der Auftrag lautete schlicht, zuerst Kartons zu falten und einmal über Kreuz zu verkleben, mehr sei Verschwendung. Die Kartons gab es in drei Größen, je nachdem, um was für Material es ging, glaube ich, aber ich glaube es nur, weil letztendlich alles so, wie wir es in die Hand bekamen, in die kleinen und mittleren Pappkisten gepackt wurde, die wiederum in die großen Kartons eingeräumt wurden, die ihrerseits genau auf die Europaletten passten. Für Schüttgut, wie Kieselsteine und Quarzsand, gab es Plastiktüten.

Nächster Schritt: Jedes einzelne Objekt wurde in Polsterfolie verpackt. Man kann sie zu diesem Zweck relativ einfach zerreißen – eine Sollbruchstelle befindet sich nach jedem Meter, und senkrecht zu dieser Linie kann man die Folie ebenfalls geradlinig zerreißen, obwohl nicht jeder einzelne Meter sich so gut zerreißen lässt, wie der Packer das gerne hätte, von daher gab es auch etwas Verlustmasse. Die Arbeitsanweisungen hielten sich in einem geringen Rahmen. Schwere und stabile Gegenstände auf den Boden der Kisten, leichte und empfindliche Gegenstände darauf. Wenn was unklar ist, solle man fragen.

Von den sechs Festangestellten sprechen drei die meiste Zeit… nein, das ist kein Türkisch… die sprechen Arabisch, vielleicht aber auch Farsi. Ich bin mir nicht sicher, da mangelt es mir an Hörerfahrung. Später höre ich, dass es sich um Libanesen handelt: Ali, Abjar, Ibrahim, und noch einer, dessen Namen ich nicht gehört habe. Ein weiterer solcher Exote ist dabei, den ich vom Aussehen her ebenfalls dem Nahen oder Mittleren Osten zugeordnet hätte, aber der spricht kein Arabisch, er kommuniziert mit den Libanesen in deutscher Sprache, mit Akzent. Vielleicht ist der ja Iraner.

Um kurz nach Neun, ich war mittlerweile mit dem zweiten Raum beschäftigt, ging der Vorarbeiter durch und sagte, wir seien etwas hinter der Zeit, um Mitternacht müsse alles fertig sein. Das sollte wohl zu schaffen sein, dachte ich, im Hinblick darauf, wie schnell sich die Regale in meinem Bereich leerten.

Mit den Kerzenständern gab es ein kleines Missverständnis. Ich fragte den namenlosen Libanesen, wie damit zu verfahren sei, worauf er sagte, dass sie in Einzelteile zerlegt werden sollten, und natürlich sei jedes Teil einzeln einzupacken. Dass diese Kerzenständer, fast vollständig aus Glas, gesondert verpackt werden sollten, sagt er aber nicht, vermutlich hat er es vergessen, darauf machte uns erst Ali aufmerksam, nachdem alle bis auf einen schon in Pappkisten verschwunden waren.
“Das war scheiße,” sagte er, “die hätten in Hartplastikbehälter gehört. Dann legt die Kerzenständer jeweils ganz oben in die Kisten und passt auf, dass noch ein bisschen Platz in der Kiste ist, damit die Dinger keinen Druck kriegen.”
Es muss an meinem Gesicht liegen. Wenn ich Anweisungen bekomme, höre ich konzentriert zu, aber es wird oft falsch interpretiert, was ich denke. Nachdem er mit seinem Tadel fertig ist, sah er mich an und lachte: “Ja, ich weiß, das geht Dir auf den Sack…”
Ich muss zugeben, ein bisschen erschrocken gewesen zu sein. “Ich hab doch gar nichts gesagt!” fiel mir nur ein. Ich hatte noch nicht einmal was Böses gedacht.

Jedenfalls, wenn er mir gedachte Verwünschungen unterstellte, ließ er sich das nicht mehr anmerken. Er kam noch öfters vorbei, kommentierte meist kritisch die Füllung der Plastikkisten, räumte ein bisschen um, gewann Platz; sparte aber auch nicht mit Lob für die Dinge, die wir intuitiv richtig gemacht hatten. Der Mann versteht was von Menschenführung. Meiner Erfahrung nach nehmen deutsche Vorgesetzte gute Arbeit stillschweigend als den Normalzustand hin, loben nur herausragend gute Leistungen, erwähnen aber jeden kleinen Fehler. Die Kritik mag jeweils angebracht sein, aber man sollte auch zu motivieren verstehen. Dabei sollte jeder wissen, dass man den Mitarbeiter, den man wegen eines Fehlers kritisiert hat, auch wieder aufbauen muss, denn niemand macht nur Fehler. Ali hat das meines Erachtens drauf.

So vergingen weitere Stunden. Als ich um 2310 auf die Uhr sah und die verbliebene Arbeit in den übrigen Räumen betrachtete, wurde mir klar, dass es mit dem Aufbruch um kurz nach Mitternacht nichts wird. Kurz danach ging der Namenlose durch die Reihen und gab bekannt, dass er zu McDonald’s fahre und wissen wolle, was wir zu essen haben wollten. Ich verwies auf die Äpfel, die ich dabei hatte, aber er ermunterte mich und sagte, die Firma zahle alles. “Na dann…” meinte der Anglist und bestellte zwei Big Mac Menüs. Ich hatte keine Ahnung, was McDonald’s zu bieten hat und nehme das gleiche. Unsere Namen und Bestellungen werden in arabischer Schrift auf einem Zettel vermerkt.

Wir waren skeptisch. Macht man eine solche Pause nicht eigentlich in der Halbzeit? Wir waren seit sechs Stunden zugange – die Sache konnte doch nicht noch mal so lange dauern? Aber was half das Grübeln und Rätseln? Wir packten weiter und harrten der Dinge, die da kommen würden.

Als die Uhr auf Mitternacht zuwanderte und ich noch immer an ein Ende zwischen Zwölf und Eins glaubte, verwünschte ich die Sache, denn wenn ich um drei oder vier Uhr in Trier ankäme, würde kein Bus mehr fahren und ich müsste eventuell zu Fuß von fast Feyen bis zum Weidengraben laufen.
Das Essen kam dann um zwei Uhr morgens. Das nächstliegende “Restaurant” hatte wegen Umbauarbeiten geschlossen, ein weiteres musste erst gefunden werden, und das hatte scheinbar eine Weile gedauert. Und zu diesem Zeitpunkt wurde das Ende zwar absehbar, ja, aber fertig waren wir noch nicht. Aber Ali sagte zuversichtlich: “In einer Stunde seid Ihr fertig. Vielleicht ein bisschen mehr.”
Dann musste ich mir um mein Heimkommen ja keine Gedanken machen.
Bis ich zurück war, fuhren WIEDER Busse.

Ich staunte nicht schlecht angesichts der Menge Fastfood, die da angekarrt wurde. Mehrere Leute haben sich doppelte Menüs bestellt, für 14 Leute waren etwa 20 Portionen da. Die Belegschaft des Restaurants wird nicht schlecht gestaunt und geflucht haben. Ich nahm mir meine beiden Big Macs, meine beiden Pommesbehälter, und meine beiden Colabecher. Ich hatte schon ganz vergessen, wie wenig Spaß es macht, den Krempel zu essen, aber ich hatte Hunger, und so gut hat mir schon lange kein Liter Cola mehr geschmeckt, trotz Kohlensäure. Das Zeug ist kühl und nass, darauf kam es in diesem Moment an. Im Stand befand sich zwar eine Küche, aber aus dem Wasserhahn kam kein kühles Wasser, das hatte Raumtemperatur. Dem körperlichen Wasserhaushalt ist das egal, aber erfrischend ist es halt nicht. Die Cola kam ausnahmsweise gut.

Und zu guter letzt aß ich eine dreifache Portion. Ali drückte mir noch einen Cheeseburger und einen McChicken in die Hand, ein anderer versorgte mich mit einem weiteren Big Mac. Den aß ich noch, aber der McChicken landete in meiner rechten Seitentasche, der Cheeseburger in der linken. Vielleicht später. Hätte ich noch mehr gegessen, hätte ich kotzen müssen.

Ali lobte währenddessen das Essen von McDonald’s überschwänglich (das mir noch zwei Tage wie ein Stein im Magen liegen und mir Unwohlsein verpassen würde), weil es einen tollen Geschmack habe. Ich frage mich, wie Allah den Genuss eines Schnitzels von einem tierärztlich geprüften Schwein verbieten, aber den Verzehr von diesem Zeug erlauben kann, nur weil es sich zumindest angeblich um Rindfleisch handelt. Und ob Alis Frau so schlecht kocht, dass der Mann den Mist von McDonald’s gut finden kann.

Und so vollgefressen, wie ich gerade war, fühlte ich mich an Schilderungen des moslemischen Ramadan, des Fastenmonats, erinnert. Da wird nämlich nur tagsüber gefastet, während nach Sonnenuntergang gefeiert wird, mit reichlich Essen und Trinken. Natürlich alles halal, wie der Araber sagt – das ist das, was die Juden “koscher” nennen. Aber scheinbar nehmen viele Anhänger Mohammeds im Ramadan eher zu als ab. Und eben daran musste ich denken, mit vollem Bauch und bevorstehendem Suppenkoma, in Gedenken an das kleine Frühstück, dass ich vor 16 Stunden zu mir genommen hatte. Heilige Suppenschüssel, wie soll ich mich jetzt noch bücken (Böörrrgh!)?

30. September 2008

Von gestellten Weichen

Filed under: My Life — 42317 @ 0:34

Ich sollte auch was Positives berichten. Am vergangenen Samstag war ich zu Gast auf der Hochzeitsfeier eines guten Schulfreundes, mit dem ich einige Wanderungen und Touren hinter mich gebracht habe, deren Erinnerungswert ich keinesfalls missen möchte, und dessen Initialen sich auf einer Tastatur wunderschön direkt nebeneinander befinden: 001.
(Die Namen der Hauptbeteiligten werden aus Gründen der Anonymisierung digital verschlüsselt.)

Wenn ich die Sache richtig sehe, dann ist seine amtliche Heirat bereits einige Monate her. Der Vorgang war so unauffällig, dass ich ihn mir nicht dauerhaft gemerkt habe und erst bei eben jener Gelegenheit wieder daran erinnert wurde, und “jene Gelegenheit” ist die kirchliche Trauung der beiden gewesen, aus gegebenem Anlass in ökumenischer, also gemeinschaftlich katholischer und protestantischer Form abgehalten.

Organisatorische Hinweise gab es bereits frühzeitig, im Frühjahr, und die offizielle Einladung erfolgte im Juli. Ich besitze keinen fahrbaren Untersatz und könnte mir auch keinen leisten, weswegen ich zu Beginn bereits fragte, wie ich denn an den Veranstaltungsort kommen würde, der immerhin im Großraum Heidelberg liegt.  Wegen des Umstands, dass ich über keinerlei Kontakte zu seiner Familie verfüge, überließ ich die Angelegenheit seiner Planung, was aber wegen der Koordinierung von 80 Gästen dann aber erst im letzten Moment, in der Woche zuvor, angeleiert werden konnte.
Seine Eltern hatten die Karre voll, also bot er einen Onkel aus der Saarlouiser Gegend an. Nach einem klärenden Telefonat kam ich mit diesem überein, dass er uns am Völklinger Bahnhof abholen würde. “Uns” heißt – unglaublich, aber wahr – dass Melanie an diesem Event teilnehmen würde. Ich weiß nicht, ob ich etwas besonderes dazu beigetragen habe, ihre sonst zurückhaltende Stimmung, was Kontakte mit meinen Freunden anbelangt, zu ändern. Vielleicht hängt es auch damit zusammen, dass eine Trauung ein einzigartigerer Vorgang ist, als eine jährlich wiederkehrende Geburtstags- oder Silvesterfeier, von denen man wirklich sagen musste, dass sie immer gleich verliefen. Für alte Freunde mag das angenehm sein, aber für neu dazu gestoßene Freundinnen muss eine derartige, unbeabsichtigt geschaffene, Tradition sehr eintönig erscheinen.
Aber zu diesem Anlass war sie dabei, und ich habe mich darüber gefreut.

Am Stichtag lief irgendwie alles eine Stunde zu früh. Es war verabredet, dass wir um kurz nach Zehn morgens mit dem Herrn Onkel am Bahnhof zusammentreffen sollten. Allerdings bin ich bei der Überprüfung der Bahnverbindungen wohl um eine Zeile verrutscht, und so kam es, dass wir um Sechs aufstanden, eine halbe Stunde im Bahnhof rumsaßen, um Acht in den Zug stiegen, um kurz nach Neun in Völklingen ankamen, eine weitere Stunde im Zielbahnhof rumsaßen, und dann den Herrn bemerkten, der sich auffällig in der Halle umsah. Es war der richtige.

Die Fahrt ging technisch und geistig sehr schnell vonstatten. Technisch, weil die Autobahn frei war und es zu keinerlei Verzögerungen kam. Geistig, weil wir die ganze Zeit mit japanologischen Darlegungen beschäftigt waren, außerdem entpuppte sich unser fahrender Gastgeber als Frankreichkenner, der mit meiner Freundin Impressionen aus der Ardeche austauschen konnte. Gelangweilt hat sich also wohl keiner. Belustigt war ich, als er wegen der Beschreibung eines Ausflugs nach Vichy fragte, ob ich mit dieser Stadt irgendetwas assoziieren könne, nachdem sich das kulturelle Angebot der Stadt eher mager darstelle. Ich hätte beinahe gefragt, wieviel Zeit er mir für den Vortrag über das Regime des Marschall Petain geben würde, beließ es aber bei dem Einleitungsabschnitt des improvisierten Vortrags, in dem ich andeutete, dass ich mit diesem Teil der frz. Geschichte sehr wohl vertraut bin. Er hätte mich ebenso fragen können, ob ich das Märchen von Hänsel und Gretel kenne. Ich empfand es als einen lustigen Moment.

Wegen der mit wenigen Abweichungen haltbaren Durchschnittsgeschwindigkeit kam es dann dazu, dass wir eine Stunde früher als geplant in dem gesuchten Heidelberger Vorort ankamen. Wir suchten zwar zuerst einmal die Festhalle, in der die Festivität statfinden sollte, aber auch das ging flott von statten, und da wir, anders als der Onkel und seine Gattin, kein Hotelzimmer hatten, verbrachten wir diese Stunde zu zweit vor der Kirche, die so klein ist, dass wir zweimal daran vorbei fuhren, ohne sie zu entdecken, und unterhielten uns über ausgefallene Kindernamen.

Kann man zum Beispiel seine Tochter “Medea” nennen? Ich behaupte ja, weil ich der Meinung bin, dass die Konnotation des Namens dem Großteil der Leute nicht geläufig ist. Melanie traut der durchschnittlichen Bevölkerung eine höhere Bildung zu, als ich, und behauptet das Gegenteil. Ebenso würde ich meinem hypothetischen Nachwuchs keinen Namen geben, der sich zu sehr nach Kirche und Bibel anhört, also keine Apostel oder Propheten und dergleichen, auch keine bekannteren Päpste. “Johannes Paul” käme mir gar nicht in die Tüte. “Urban” klingt völlig verstaubt, und “Innozenz” erkennt man ja heute nicht mal mehr als Namen. “Romulus” hat theoretisch den gleichen Anklang wie “Medea”, aber wer weiß heute schon, dass Romulus der klassische Brudermörder war, bis die Christen mit ihrem Kain aufwarteten?
Der Ausflug zu den Kaisern bringt auch nicht viel. Würde ein “Augustus” über kurz oder lang “dummer August!” gerufen? Klingt ein “Julius” nicht so elitär und bourgeois, dass man ihm allein dafür ein Bein stellen und ihn auf dem Schulhof herumschubsen müsste? Müsste man beim “Markus Antonius” nicht über den Anton, den aus Tirol, stolpern und vor lauter Schwindelgefühl einen Anfall von Brechreiz erleiden? Ich muss dagegen zugeben, dass mir der oströmische “Basileos” gar nicht schlecht gefallen würde.

Während dieser Gedankengänge füllte sich der kleine Kirchenvorplatz mit anderen Eingeladenen, und wir stellten mit Belustigung fest, dass man dem einen oder anderen die alternative Einstellung durchaus ansah, die Braut, 000, trug ein Kleid, dessen leicht glänzende, weiße Oberfläche den Eindruck vermittelte, es handele sich um einen umgeschneiderten Regenmantel, und der Bräutigam ist immer noch so schmal, dass ich im Stillen bei mir denken musste, dass er bestimmt in jede Parklücke passt.

Um kurz vor Zwei fehlten noch zwei Leute, von denen ich wusste, dass sie eine Einladung erhalten hatten, ebenfalls Schulkameraden. Andreas kam dann auf den letzten Drücker, mit Anzug und Rucksack. Dieser Anzug schien im besser zu passen, als der letzte, in dem ich ihn gesehen habe, und ich erinnere mich nicht, bei welcher Gelegenheit das war. Jedenfalls hatte ich damals den Eindruck, dass ihm das Teil zu groß war. Wie dem auch sei… ich habe mich sehr darüber gefreut, Andreas und 001 mal wieder zu sehen, und meine Freude wäre sicher noch größer gewesen, wäre der Dritte per Sammelmail Eingeladene ebenfalls da gewesen. Der kam aber nicht, und noch heute weiß keiner, warum eigentlich, hat er doch erst in dieser Woche eine feste Anstellung in Koblenz gefunden. Ich bin sicher, dass er gute Gründe hat, aber schade war’s trotzdem.

Wir platzierten uns alle in der Kirche, in einer unauffälligen, hinteren Reihe, und das Brautpaar flanierte etwas steif zum Altar. Zumindest war das mein Eindruck. Der traditionelle Hochzeitsmarsch, bzw. einer der beiden, wurde nicht georgelt, stattdessen etwas Nichtssagendes, was in jeden Sonntagsgottesdienst gepasst hätte.
Obwohl ich sagen muss, dass ökumenische Gottesdienste leichter zu ertragen sind, als die katholischen, die ich aus meiner Kindheit kenne, ist mir nur wenig von dem Gesagten in Erinnerung geblieben. Wenn übermäßig von Gottes Gnade geredet wird, treten semantische Inhalte bei mir zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus, ohne im Zwischenraum auf Widerstand zu stoßen. Allein die Aussagen über “ein Rudel Kinder” und den Hinweis auf die erotischen Inhalte der Bibel fand ich unterhaltsam.
In deutlicher Erinnerung geblieben ist mir das Anstecken der Ringe, was man scheinbar “im Namen des Vaters, des Sohnes, und des Heiligen Geistes” macht: Ich hätte Probleme, diese Formel überhaupt über die Lippen zu bekommen. Ernsthaft. Ein inneres Widerstreben lässt mir diese und solche Worte im Hals stecken bleiben.
Andreas neben mir macht bei solch geballter Heiligkeit auch keinen allzu amüsierten Eindruck, aber ich habe davon abgesehen, ihn nach seinen Eindrücken und Meinungen zu fragen. Don’t ask, don’t tell, nur auf einem anderen Gebiet. (Nein, ich erkläre das jetzt nicht extra.)

Ich weiß nicht mehr, wie lange das religiöse Brimborium gedauert hat, dessen auffälligstes optisches Element für mich wohl die Messdienerin war, wie ich unkeusch zugeben muss, die ich in fünf Jahren gerne wiedersehen würde, um das Ergebnis ihrer zwischenzeitlichen Entwicklung zu begutachten, aber nach dem “Schulsssegen” (Originaltext des Beiblatts) war es dann vorbei und ich konnte endlich mal wieder richtig Luft holen. Ich fühlte mich irgendwie unruhig, und nachdem wir uns noch artig in das große Gruppenfoto eingereiht und dem “neuen” Ehepaar beim Holzsägen zugeschaut hatten, machte ich mich mit Andreas und Melanie zu Fuß auf zur Festhalle, die etwa einen Kilometer entfernt von der Kirche steht.

Als schließlich auch alle anderen dort eingetroffen waren, begann der eher entspannende Teil, und der kam mir sehr japanisch vor. Ich habe in meinem Japantagebuch das eine oder andere über die festgefügte Gestaltung einer japanischen Party geschrieben. Natürlich waren wir hier nicht auf zwei Stunden festgelegt, aber die Art der Spielchen zum Auftakt kam mir verdächtig bekannt vor.
Jeder Tisch war auf acht Personen ausgelegt und war einem bestimmten grafischen Symbol zugeordnet, zum Beispiel “Berg”, “Buch”, “Blume”, usw. Gegenstücke dieser Symbole befanden sich in einer Schale, in Form von Losen, deren Anzahl der der geladenen Gäste entsprach. Jeder sollte eines ziehen und Ziel der Übung war es, dass man an einem zufällig zusammengestellten Tisch landen würde, um die kategorische Aufspaltung der Gesellschaft in Familien und Interessengruppen zu verhindern.

An sich ist das eine gute Idee, aber ich kann Andreas gut verstehen, dass es ihm nicht schmeckte, mit wildfremden Leuten zusammengesteckt zu werden, die er danach nie wieder sehen würde, anstatt mit den Freunden, die zu sehen er eigentlich gekommen war. 001 ließ sich von keinem Argument erweichen, und ich machte Witze, dass ihm das Dasein als höherer Beamter nach seinem Zweiten Staatsexamen scheinbar bereits zu Kopf gestiegen sei. Aber uns kam ein Denkfehler der Organisatoren zu Gute. Die Anzahl der Lose entsprach zwar der der Gäste, aber es war auch festgelegt, dass man Paare nicht auseinanderreißen würde, und so ergab es sich, dass, als wir als letzte noch standen, noch Lose übrig waren. Lapidar ausgedrückt besorgten wir uns auf diese Weise passende Lose und setzten uns dann an den Tisch, an dem noch drei Plätze frei waren.

Es gab keine offizielle Hochzeitstorte. Auch die wurde ausgelost, indem jeder mitgebrachte Kuchen eine Nummer und ein entsprechendes Los in einer anderen Schüssel erhielt. Das Los fiel auf die Nummer 10, und dabei handelte es sich um den wahrscheinlich schlichtesten Kuchen auf der gesamten Anrichte, ein rundes und niedriges braunes Etwas, das dann feierlich von den beiden angeschnitten wurde. Das Überangebot sorgte dann dafür, dass ich mehr Kuchen aß, als im gesamten vergangenen Jahr, und nach fünf Stücken hatte ich auch erst mal wieder genug (abgesehen davon, dass mir mein Vater am Tag darauf noch Stücke eines Sandkuchens anbot, von denen ich auch etwas nahm). Kuchen ist so richtig langweilig geworden seit meiner Kindheit, wo die Oma jeden Sonntag mindestens einen auf den Tisch gestellt hatte. Heutzutage bräuchte es wohl einen echten Rahm- oder Käsekuchen (mit Mürbeteigboden und Rosinen), um mein echtes Interesse zu wecken. Man mag mir das krumm nehmen, aber alles andere esse ich nur aus Höflichkeit, und auch nur dann, falls es sich um ein selbstgemachtes Exemplar handelt.

Zwischen Kuchen und Hauptmenü war etwas Zeit, um die Tischnachbarn kennen zu lernen. Wir hatten da eine Pädagogin, die sich mal an Japanologie versucht hatte und ein Bild von meinem Anzug machen wollte, und auf der anderen Seite einen 19 Jahre alten Bayern, der nach seinem Abitur Medizin studieren möchte und sich nicht ganz sicher zu sein scheint, ob er lieber verweigern oder dienen soll. Natürlich rate ich ihm zum Wehrdienst, und zwar, weil es sich um eine charakterfördernde Erfahrung handelt, aus der man einige positive Lehren ziehen kann, unabhängig davon, was auch immer man von den negativen Seiten halten mag oder zu wissen glaubt. Natürlich lasse ich bei meinen Schilderungen die negativen Seiten nicht aus, und die meisten Zuhörer sind mir in der Regel dankbar für meine Darstellungen, da man Informationen zum Thema Wehrdienst scheinbar nur von extremen Vertretern der Pro- oder Contra-Fraktion erhält. Ich lege ich ihm auch die Möglichkeit dar, sich freistellen zu lassen und nach seinem Studium zur Armee zu gehen. Ich bin sicher, dass Wehrdienst als Titularhauptmann was für sich hat.

Dann gibt’s die Hauptmahlzeit. Ich weiß nicht mehr im Einzelnen, was es war, obwohl ich mit dem Koch des Büffets eine ganze Weile darüber geredet habe. Ich erinnere mich an Karottensalat in einer Zitronenvinaigrette, Maultaschen in gelber Soße (hauptsächlich pürierte Möhren), Bandnudeln mit einer anderen Soße, Schweinefilets in einer hellen Soße, die aus Sahne besteht, in der man Petersilie mit etwas Salz gekocht hat, und gegartes Gemüse. Ich bin sehr zufrieden gewesen, und der Obstschnaps im Anschluss war nötig. Aber wenn ich bedenke, was ich vor zehn Jahren noch alles in mich hineinstopfen konnte, muss ich heute ungläubig den Kopf schütteln. Auch der Wein war nicht schlecht, und ich habe (vor dem Essen bereits) deutlich gespürt, wie zwei Gläser davon die ganze Sache viel lockerer erscheinen ließen.

Nicht gereicht hat das für ein Spielchen am Nachmittag. Unter dem Vorwand, die beiden sollten Blumen pflücken und einen Kranz daraus flechten, wurde das Brautpaar weggeschickt, und die Initiatorin dieser Aktion weihte die verbliebenen Gäste in Ihre Absichten ein. Sie hatte eine CD dabei, von der ein hebräischer Hochzeits- und Segenstanz zu hören war, und die versammelte Runde sollte, wortwörtlich, in zwei sich entgegenlaufenden Kreisen um das Brautpaar herumtanzen, sechs Schritte nach links, sechs Schritte nach rechts, einen Text mitsingen, der sich in “A-ja-ja” erschöpfte, und dabei mit den Füßen auf den Boden stampfen. “Konsterniert” ist ein schöner Ausdruck für meine Begeisterung. Die Pädagogin an unserem Tisch hatte vermutlich gar nicht so unrecht, als sie mich fragte, ob es mir zu peinlich sei, mitzumachen. Ich erklärte ihr, dass ich ungern das mache, was alle machen, vor allem dann, wenn es als was Tolles gepriesen wird, ich bin bis an mein Lebensende tanzgeschädigt, und außerdem wäre ich nicht ich, wenn ich so ohne weiteres an einem solchen Ringelpiez mitmachen würde.

Nach etwas Smalltalk gab es weitere Unterhaltungsprojekte. Nebenbei sei ein Spiel erwähnt, bei dem man vergleichen konnte, wieviele Alltagsdinge das Ehepaar so über den jeweils anderen wusste, und die seltsame Idee, den Bräutigam (Bauingenieur) einen Eimer mit Sand nach Münzen durchsieben zu lassen, während seine Frau (Ärztin) eine Plüschratte sezierte, um irgendwelche Fremdkörper aus den Innereien zu nehmen.
Interessanter fand ich das Wanderpaket, also einen Karton mit einem Geschenk drin, der mit mehreren Lagen Papier umwickelt war, und auf jeder Lage war eine Aufgabe zu finden, die der Öffner lösen musste. Das heißt, der Bräutigam bekam als erster das Geschenk und darauf war zum Beispiel geschrieben, er solle es “dem Herrn mit der größten Nase” überreichen, der musste dann eine Schicht entfernen und bekam die Aufgabe, das Paket der Dame mit der schönsten Frisur zu geben, die es an den ältesten Gast weitergeben sollte und so weiter, bis die Sache dann, wie auf der vorletzten Schicht vermerkt, bei der Braut landete. Das Geschenk stammte wohl von einem argentinischen Freund, der heimische Spezialitäten, Tee und Kochzutaten, glaube ich, hineingepackt hatte. Nette Idee, aber meine zu Geschlechterstudien neigende Ausbildung machte sich darin bemerkbar, dass ich amüsiert darüber war, dass ein Geschenk, das mit dem Dasein einer Hausfrau in Verbindung zu bringen war, ausgerechnet für die junge Ehefrau bestimmt war. Würde es sich hierbei um eine zu analysierende Geschichte handeln, wäre dies wohl ein eigener Abschnitt im Kapitel “Sexismus” geworden. Natürlich war ein solcher hier nicht beabsichtigt, aber vorhanden war er trotzdem.

Aus einem ähnlichen Grund lustig fand ich die Tanzvorführungen des Brautvaters (obwohl ich mir nicht mehr sicher bin, ob er das war, vielleicht war’s auch ein Onkel). Während mein freundlicher Fahrer ganz eindeutig zu den Frankophilen zu zählen ist, hatte der tanzende Herr einen Narren an Griechenland gefressen. In landschaftlichen Dingen muss ich ihm zustimmen, Griechenland hat sehr schöne Orte zu bieten, seien sie nun ästhetisch oder historisch interessant, die ich selbst leider nur aus Büchern und Filmen kenne. Man sollte es wohl gesehen haben, kann ich mir denken.
Aber was die Kultur betrifft… die Griechen folgten spätestens nach dem Fall des Oströmischen Reiches dem Beispiel ihrer italienischen Nachbarn, lebten unter wechselnden Fremherrschern (Serben und Türken) bis zu ihrer Selbständigkeit 1830, und verblieben in einem Zustand völliger politischer und kultureller Bedeutungslosigkeit bis zur Vertreibung der Osmanen im Zuge der Balkankriege zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Wie gelangte die wie auch immer wiederentdeckte (oder neu erfundene?) griechische Kultur in das Bewusstsein der übrigen Welt? Durch Anthony Quinn und “Alexis Sorbas”. Der Film beruht zweifelsfrei auf einer griechischen und teilbiografischen Vorlage (geschrieben von Nikos Kazantzakis), aber das macht keine Aussage darüber, wie alt die derzeit zelebrierte griechische Kultur tatsächlich ist. Ein mir bekannter Rumäne, den ich in Hirosaki getroffen habe, lachte über den Begriff moderner griechischer Kultur, als wir von eben jenem Tanz redeten und sagte: “Alle sagen, dies sei der griechische Tanz. Die Griechen hatten gar keinen Tanz, bevor ihnen dieser Film einen gegeben hat!” Und in Erinnerung an dieses Zitat musste ich auch am Abend der Hochzeit lachen, denn mich beschleicht der Verdacht, dass der immens beliebte Film aus einer lokalen Eigenart ein nationales Merkmal gemacht hat.

Ein bemerkenswertes Highlight waren die Diashows der beiden Väter, die ein paar Bilder aus dem Leben ihrer Sprösslinge kommentierten. Ich bekam ein Bild von 001 zu sehen, das ihn nach der Abiturzeugnisübergabe zeigt. Damals hatte er lange Haare, was ihm einen “Grunge-Look” verpasste, dem er mit seinem Verhalten nicht gerecht wurde. Das war sehr nostalgisch und sah gleichzeitig so abgefahren aus, dass ich laut lachen musste. Der Herr Vater nahm das natürlich zur Kenntnis und sagte: “Der Dominik muss gar nicht so lachen. Wenn ich gewusst hätte, dass der heute kommt, hätte ich noch ein paar andere Bilder mitgebracht, auf denen er ebenfalls zu sehen ist.” Ich muss zugeben, dass ich drei Sekunden gebraucht habe, um darauf zu kommen, was er damit wohl gemeint hat. Dabei hatte ich es damals wegen meiner Erscheinung sogar als “Farbtupfer” in die Saarbrücker Zeitung geschafft. Ich habe jedenfalls großes Interesse an diesen Bildern, von denen er sprach, weil ich von keinen anderen weiß, die von mir am 27. Juni 1997 gemacht wurden.

Der restliche Abend lief vor sich hin, und zwar ohne, dass ich mich gelangweilt hätte. Immerhin brachte 001 noch einen angemessenen Walzer zustande, den man am Nachmittag nochmal geübt hatte. Einen solchen würde ich wohl auch noch hinbekommen, aber nur mit einer kurzen Einübung wie er, und außerdem brauche ich auch jemanden, mit dem ich tanzen könnte. Melanie tanzt nicht, und ich tanze nicht mit irgendjemandem. Ich nutzte das allgemeine Tanzen, um meine Hälfte von der Flasche “Trollinger” Rotwein (2006) und alles andere, was ich so getrunken hatte, wieder rauszulassen.

Ab halb Zwölf war mit mir nichts mehr anzufangen, und Melanie schlief schon fast im Sitzen. Andreas hatte sich schon zu einem Gang um den Block aufgemacht, um der sich einstellenden Müdigkeit und verbrauchten Luft im Saal entgegenzuwirken. Etwa um Mitternacht habe ich aufgegeben, und es lief auch nichts mehr, was zu verfolgen sich lohnte, also packte ich den Schlafsack mit Isomatte, den man mir geliehen hatte, verabschiedete mich von Andreas, der in sein Hotel einkehrte, sagte meinen Gastgebern Gute Nacht und begab mich mit Melanie in den Keller des Gebäudes, wo sich ein Raum befindet, der von den Geräuschen der Halle oben drüber weitgehend abgeschirmt und dunkel ist. Ein Paar aus Schleswig Holstein, Ole und Nina, hatte sich ebenfalls dort eingenistet, aber die kamen erst runter, als ich schon nichts mehr davon merkte.

Beachtlicherweise schlief ich bis um Neun Uhr, und das ist deswegen beachtlich, weil auch eine Isomatte den harten Linoleumboden nicht wirklich abschwächt. Ich bin also immer wieder mal aufgewacht, weil meine Hüfte schmerzte, und musste mich umdrehen, um wieder eine bis zwei Stunden Ruhe zu haben. Melanie scheint komplett durchgeschlafen zu haben, mit der Einschränkung, dass sie wegen Oles Schnarchen wohl Gehörschutz verwendet hat.

Am Morgen danach also ein feudales Frühstück, das aus den Brötchenresten des vergangenen Tags plus einer Anzahl frischer Butterhörnchen bestand. Danach war ich satt für den ganzen Tag und hätte mir noch einen Schnaps gewünscht, aber es ging auch so. Ich habe ein paar Bilder von der Frühstücksversammlung gemacht, an der 001, seine Eltern, sein Bruder, 000, Ole, Nina, Melanie und meine Wenigkeit teilnahmen, aber nur eines ist was geworden, und gerade das wird Nina überhaupt nicht gerecht, die durchaus besser aussieht, als das Foto vermuten lässt. Vielleicht waren auch noch ein oder zwei Leute mehr da, aber ich kann mich nicht erinnern.

Nach dem Frühstück wurde dann der Saal inklusive Küche aufgeräumt und besenrein hinterlassen. Wieder einmal wurde alles zu früh fertig. Ich hatte mit dem Onkel aus Saarlouis ausgemacht, dass er uns um 1430 vor der Halle abholen sollte. Da er noch nie in Heidelberg gewesen war, wollte er die Gelegenheit nutzen, die Stadt auch anzusehen. Nun war es Ein Uhr und die verbliebenen Leute abfahrbereit, 001 und 000 verabschiedeten sich und traten den Heimweg an.

Wir hatten genug zu lesen dabei und außerdem ein paar Sitzkissen, die ich als Stopfmaterial aus Gründen der improvisierten Kopfkissenbequemlichkeit in meinen Rucksack gesteckt hatte, wir hätten also auch auf der Treppe der Gemeinschaftshalle warten können. Stattdessen luden uns die Eltern ein, auf den Heiligenberg zu fahren, wo sich unter anderem eine so genannte Thingstätte befindet. Dabei handelt es sich um einen Veranstaltungsort nach nationalsozialistischem Gepräge, also eine halbrunde Bühne aus wuchtigen Steinquadern, deren Mauer man auch für den Aufmarsch von Fahnen- und Standartenträgern verwenden konnte, und davor mehrere tausend Sitz- und Stehplätze. Stimmungsvoll ist die Atmosphäre dort bei abendlichen Großveranstaltungen bestimmt. Jetzt ist aber grade Mittag und der Berg hat noch was anderes zu bieten.

Wie es scheint, handelt es sich um eine Kultstätte altgermanischer Art, die bereits vor über 2000 Jahren besiedelt war. Die Römer bauten hier ebenfalls einen Tempel, und nach der Christianisierung der Gegend wurde im 9. Jh. der ehemals römische Tempel zu einem Kloster ausgebaut, der Tempelbereich selbst zur Kirche umfunktioniert. Heute sind davon nur noch Ruinen zu besichtigen. Aber immerhin sind es saubere und kommentierte Ruinen, denn an vielen Stellen des Baus kann man Tafeln sehen, auf denen zu lesen ist, in was für einer Art Raum man sich gerade befindet.

Ich stieg mit dem Herrn K auf einen der verbliebenen Türme und wir betrachteten die Rheinebene. Leider sind die Bäume im direkten Umfeld der Anlage zu hoch und verdecken den Ausblick auf etwa drei Viertel der weiteren Umgebung. Sehr schade. Aber mein “Fremdenführer” ist ein eloquenter Gesprächspartner, der so einiges zu erzählen weiß, und ich genieße solche Gelegenheiten immer sehr. Allein seine Gattin überraschte mich mit der Anfrage, ob man denn, da es ja bereits früher Nachmittag sei, nicht eine Brotzeit einlegen sollte. Ah, danke, ich spüre mein Frühstück immer noch.

Pünktlich für die Abfahrzeit machten wir uns auf den Weg zurück zur Halle, wo wir denn in den Wagen des Onkels umsteigen sollten. Auf dem Weg dahin kamen wir nicht umhin, einen Umweg zu fahren, damit ich ein Foto vom Heidelberger Schloss und dem Stadttor machen konnte. Auch für diese Gelegenheit bin ich sehr dankbar. Wie es der Zufall will, mussten wir nicht die gesamte Strecke bis zum Treffpunkt fahren, weil der Onkel eben zu dieser Zeit aus der Stadt zurückkehrte und an einer roten Ampel direkt hinter uns landete. Sein Hupen, mit dem er auf sich aufmerksam machte, hätte den vor uns haltenden Ford beinahe dazu gebracht, bei Rot über die Ampel zu fahren, aber der Fahrer bemerkte es nach fünf Zentimetern (anders als ein anderer PKW, der wenige Minuten später die rote Ampel überfuhr und dabei geblitzt wurde).

Die Wagen wurden also ein paar Meter weiter am Straßenrand geparkt und es wurde noch ein bisschen geplaudert – scheinbar redet die ganze Familie gern – und nach einer weiteren Viertelstunde räumten wir unsere Sachen um und fuhren gen Heimat, wieder ungelangweilt durch Gespräche, und nur kurz durch ein liegen gebliebenes Fahrzeug auf der Autobahn aufgehalten. Weil ich erwähnte, dass mein Vater in Ludweiler wohnt, wurde Melanie in Völklingen am Bahnhof abgesetzt, während ich nach Ludweiler gefahren wurde, weil meine derzeitigen Gastgeber über den Warndt nach Hause fahren wollten, und weil ich morgen eh noch die Großeltern besuchen wollte, was eine Rückfahrt nach Trier überflüssig gemacht hätte. Wir verabschiedeten uns und ich stapfte mit meinem weitgehend vollen Rucksack die Kopfsteinpflasterstraße zu meinem Vater hoch, der zu dem Zeitpunkt noch gar nicht wusste, dass ich kommen würde…

Aber mein Vater ist flexibel. Wir redeten also den Nachmittag über bis in die Nacht auf die uns eigene Art und Weise in fließendem Übergang über verschiedenste Themen, wobei ich etwa zwei Liter Schwarzen Tees trank. Ich schlief trotzdem wie ein Stein, was verwundert zur Kenntnis genommen wurde – aber der Zitronentee, den ich seit 25 Jahren täglich literweise trinke, enthält Schwarzteeextrakt, von daher nehme ich an, dass ich gegenüber dem eigentlich anregenden Wirkstoff gegenüber bereits völlig immun bin.

Alles in allem… ein gelungenes Wochenende, das ich gern in Erinnerung behalten möchte.
Und deswegen steht es hier.
Dabei möchte ich erwähnen, dass dieser Artikel knapp 4200 Wörter beinhaltet, das heißt, es handelt sich vom Umfang her um zwei komplette Proseminarsarbeiten, die ja auf 2000 Wörter (plus Literatrurliste) ausgelegt sind. Ich habe auch nur die letzten sieben Stunden gebraucht, den Text zu verfassen, zu lesen, und zu korrigieren. Wenn ich doch bloß meine Arbeiten mit dieser schlafwandlerischen Sicherheit und Motivation schreiben könnte… mein Leben wär vermutlich richtig toll.

15. Juni 2008

Minami-ke

Filed under: Manga/Anime — 42317 @ 20:54

“Minami-ke” (“Die Familie Minami”) ist ein reiner Slice-of-Life Anime über das mehr oder weniger alltägliche Leben der Minami-Schwestern Haruka (17), Kana (14) und Chiaki (11). Die Serie verfolgt keinerlei durchgehende Geschichte, und von ein paar kleinen Anspielungen und den eingeführten Charakteren abgesehen, kann man sie auch in beliebiger Reihenfolge ansehen, deshalb “reiner Slice-of-Life Anime”. Was man wissen muss, ist, dass die drei Schwestern aus einem ungenannten Grund ohne ihre Eltern in einem Apartment wohnen, und dass die älteste Schwester die Rolle der Mutter für die jüngeren beiden übernimmt. Der einzige ältere Verwandte ist Takeru, ein Cousin der Mädchen, den sie aber nichtsdestotrotz “Onkel” (“Oji-san”) nennen.

Die drei Schwestern sind archetypische Charaktere, also Haruka ist die wohlwollende und warmherzige ältere Schwester, Kana das hyperaktive Spatzenhirn, und Chiaki ist die intelligente und introvertierte Realistin, deren humoristische Momente auf ihrem Mangel an Lebenserfahrung beruhen. Weitere Charaktere sind zum Beispiel besagter Takeru, ständig ohne Freundin aber mit ausgeprägtem Beschützerinstinkt, und eine Reihe von hauptsächlich weiblichen Freunden der Schwestern.

Man kann – muss – ganz eindeutig feststellen, dass die Serie sehr “moe” ist. Da ist eine Reihe niedlicher Mädchen, es gibt Entkleidungsszenen und ausgelebten Unsinn, aber man bekommt nichts Explizites zu sehen, es hält sich alles in einem Rahmen, der die Serie uneingeschränkt für Jugendliche geeignet macht. Hinzu kommt ein sehr gutes Charakterdesign, sehr schönes Artwork und überzeugende SynchronsprecherInnen, dann weiß jeder, von was für einer Art lockerer Unterhaltung wir sprechen.

Die komödischen Elemente sind in erster Linie Slapstick und Humor durch Übertreibung, und auch der gegebene Grad an “häuslicher Gewalt” (vergleiche “Crayon Shin-chan”), wenn Kana zum Beispiel unerlaubt Chiakis Kuchen isst, senkt den Spaßlevel in keiner Weise. Viel Humor kommt allerdings auch aus Parodien auf japanische Fernsehnachrichten und Fernsehdramen, in denen jedes Klischee durch den Kakao gezogen wird.

Sehr auffällig bleibt ein Element von Beginn bis Ende: Geschlechterrollen.
Chiaki hat einen Klassenkameraden namens Makoto, der dazu neigt, aus Ungeschicklichkeit Fehler zu machen und deshalb von Chiaki vom gemeinsamen Hausaufgabenmachen mit Freunden im Minami Haushalt verbannt wird. Makoto allerdings himmelt Haruka an und ist begierig, in die Runde zurückzukehren, also eröffnet Kana ihm den Plan, dass er sich als Mädchen verkleiden soll, und stellt ihn/sie als ihre jüngere Mitschülerin Mako-chan vor. Verwicklungen unterschiedlichster Art und Druck von Kana zwingen ihn, das Doppelleben aufrecht zu erhalten, das heißt, in der Schule ist er Makoto und bei den Minami-Schwestern ist er Mako-chan.

Und dann gibt es da noch Tôma. Tôma ist ein Mädchen, aber auf Grund der Tatsache, dass sie mit drei älteren Brüdern zusammenlebt (das heißt, sie hat kein weibliches Vorbild), ist sie in der Tat einer der klarsten Fälle von Tomboy, die man jemals sehen wird. Sie lässt jedoch keinen Zweifel daran, dass sie ein Mädchen ist, bis Chiaki sich aus irgendeinem Grund dazu entschließt, die ein paar Monate ältere Tôma zu ihrem jüngeren Bruder zu erklären. Daher, wann immer sie die Minamis besucht, schlüpft Tôma in die Rolle eines Jungen.

Natürlich generiert dieser Widerspruch einen eigenen Humor, wo auch sonst als in Strand-, Onsen- und Schwimmbadepisoden, da Mako-chan ihre wahre Identität vor Chiaki und Haruka geheim hält, während Tôma, warum auch immer, ihr wahres Geschlecht vor Kanas Klassenkameraden Fujioka versteckt (der sich in Kana verliebt hat). Es macht Spaß, diese Konflikte zu beobachten und wie sich das Verhalten und die Sprache der Betroffenen ändert, wenn sie in die jeweils andere Rolle schlüpfen. Interessant ist dabei, zu bemerken, dass Tôma eine tiefere Stimme hat als Makoto (die Sprecherinnen sind beide weiblich).

Es gibt eine zweite Staffel zur Serie, die sich “Okawari” nennt, also “Nachschlag”, wie man beim Essen so schön sagt. Leider hat die zweite Staffel nichts Neues zu bieten, außer einem bebrillten neuen Klassenkameraden von Chiaki. Vielleicht wollten die Produzenten das geschlechtliche Ungleichgewicht beheben, oder aber jemand war der Meinung, dass man etwas brauchte, was an ein romantisches Element heran kommt?

Auf den zweiten Blick muss man vielleicht doch sagen, dass es eine ganze Menge neuer Dinge in “Okawari” gibt – aber sie sind dem Publikum nur schwer oder gar unmöglich zu erklären. Es scheint, als habe man die Charaktere in der Show gelassen und alles andere ausgetauscht – die Schulen, die die Schwestern besuchen, sehen völlig anders aus, denn während zum Beispiel Harukas Schule in der ersten Staffel ein Standardgebäude war, nach dessen Muster eine Menge Schulen in Japan gebaut sind, erscheint sie in der zweiten Staffel optisch wie eine Eliteanstalt mit toppmoderner Architektur.

Das Haus, in dem die Mädchen wohnen, sieht ganz anders aus, so war in der ersten Staffel die Treppe/der Fahrstuhl rechts von der Apartmenttür, und neuerdings befindet sich das Apartment ganz rechts im Stockwerk, mit der Treppe zur Linken.
Das Innere des Apartments hat sich völlig verändert – anfangs war die Küchenzeile vom Esszimmer mit einem Plastikvorhang abgetrennt, jetzt gibt es eine relativ große Küche mit einem Esstisch darin. In der ersten Staffel hatte jede der Schwestern ihr eigenes Zimmer, und in der zweiten Staffel müssen sich Chiaki und Kana ein Zimmer teilen, und natürlich sind die Möbel darin inzwischen ganz andere. Diese Unbeständigkeit ist leider sehr bedauerlich.

“Okawari” hat sehr schöne und auch sehr lustige Momente, aber insgesamt kommt die zweite Staffel nicht mehr an die Qualität des Originals heran, was nicht zuletzt daran liegt, dass hier versucht wurde, mit einem Plus an Fanservice noch zu punkten. Es ist auch nicht notwendig, “Okawari” zu sehen, denn auch hier bleibt es beim Slice-of-Life ohne Storyline und ohne echten Klimax, und alles, was man verpasst, ist ein Nachschlag hübscher Mädchen für jeden Geschmack.

Übersehen wir nicht die dritte Staffel: “Okaeri”. Das bedeutet etwa “Willkommen zuhaus”. Auch hier sind die Umgebungselemente anders als in Staffel 1, halten sich aber weitgehend an die Umstände in “Okawari”. Positiv ist zu bemerken, dass man mit dem Humor “back to the roots” gegangen ist, das heißt, der Fanservice wurde wieder zurückgefahren, während man sich auf die Gagelemente der ersten Staffel besonnen hat.

Wie bereits gesagt, hat mir die Arbeit der SynchronsprecherInnen ganz hervorragend gefallen, und ich habe die Serie überhaupt nur angesehen, weil Inoue Marina eine Hauptrolle – als Kana – hat. Sie trägt damit maßgeblich zu meinem Vergnügen und Gefallen an der Serie bei, obwohl ich sagen muss, dass Higuchi Chieko (Tomo in “Azumanga Daiô”) noch einen Tick besser gewesen wäre.
Eine weitere gute Besetzung ist Chihara Minori als Chiaki. Nachdem sie in “Suzumiya Haruhi” die Rolle der stillen Nagato Yuki hatte, zeigt sie in “Minami-ke” viel Talent für die Stimme der selbstbewussten und oft emotionalen jüngsten Schwester.

2. Dezember 2007

Der Kühlschrank war’s

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 21:10

Nein, nicht mein eigener Kühlschrank, ausnahmsweise.
Aber wir haben im Bürobereich der Teppichgalerie einen stehen, um besonderen Kunden ein gekühltes Getränk anbieten zu können. Natürlich könnten wir allen Kunden eine kalte Limo anbieten, aber ich sage deswegen “besondere Kunden”, weil 90 % des Inhalts dieses Kühlschranks aus handverlesenen, hochprozentigen Alkoholika bestehen, und das bietet man nicht jedem an. Normale Kunden kriegen Wasser oder Kaffee.

Aber es geht ja nun um den Kühlschrank und nicht um seinen Inhalt.
Anfang des Jahres war ich mit Aufräumen dort beschäftigt, wie schon das Jahr zuvor, und stellte fest, dass das Eisfach zu einem kopfgroßen Eisklotz mutiert war, und sich damit im Vergleich zum Vorjahr noch weiter ausgedehnt hatte. Ich wiederholte meinen Vorschlag, den Kühlschrank abzutauen, da das Gerät auf diese Art und Weise nur unglaubliche Mengen Strom fresse, und diesmal wurde auch gehandelt und das alte Ding gleich durch ein neues mit Umweltzertifikat ersetzt.
Und weil wir schon dabei waren, schraubten wir die Beleuchtung der Innenräume um 60 % zurück, ließen nur Lampen an gut sichtbaren Objekten brennen, und tauschten die Leuchtmittel im Schaufenster gegen Energiesparlampen aus.

Die Monate gingen also ins Land und vergangene Woche bekam die Galerie ihre Stromrechnung. Ich hatte nur eine Bemerkung darüber gemacht, dass ich dieses Jahr mal nicht an Heiligabend arbeiten müsse, weil es sich um einen Montag handeln würde (während die letzten beiden Heiligen Abende einmal ein Mittwoch und einmal ein Samstag gewesen sind).

“Ich freue mich, wenn Heiligabend mal ein Dienstag ist, dann mache ich die ganze Woche zu. Ich war seit Jahren nicht mehr im Winterurlaub, und dieses Jahr könnte ich mir sogar einen leisten – ich habe 800 Euro Rückzahlung von den Stadtwerken erhalten!”

Für ihre Privatwohnung habe sie zwar 200 Euro draufgezahlt, aber das Geschäft habe durch die Ersetzung von Lampen und vor allem wohl des Kühlschranks ein dickes Plus gemacht.

Jetzt schiele ich so ein bisschen zu meinem Eisschrank vor der Küche hinüber und hoffe, dass dessen Erneuerung Anfang Sommer mir auch mal eine Rückzahlung bringt, egal wie klein, Hauptsache, wir müssen nicht mehr 300 E drauflegen!

3. September 2007

1995, im August…

Filed under: Rollenspiele — 42317 @ 15:36

Ich stolpere ja doch immer wieder mal über Dinge, die außerhalb meines gewöhnlichen Tagesablaufs liegen. Aber ob es sich lohnt, darüber zu schreiben?
Die Taufe der Tochter des Onkels meiner Freundin?
Nette Party, aber nichts Wildes.
Der neuerliche Dreher von Tochter #1 der Chefin, diesmal mit dem Motorrad?
Lackschaden und blaue Flecken, aber auch nichts Wildes.
Den Familienstress wegen der Operation und Kur meines Großvaters lasse ich mal ganz aus. Das wird erstens zu privat für die Öffentlichkeit, zweitens will ich selber gar nicht alle Details wissen, die sich in meiner Abwesenheit abspielen, und drittens hält der Großvater derartige Komplikationen eh von mir fern.

Hey, ich könnte was über YouPorn oder PornoTube schreiben… jaja, das gibt’s tatsächlich. Aber ich will “workplace safe” bleiben und will auch nicht dem Beispiel anderer Blogger folgen, die solche keywords in ihre Artikel aufnehmen, weil dadurch die Anzahl der Besucher steigt (die über Suchmaschinen unterwegs sind), und mit der Anzahl der Besucher steigen die Chancen auf lukrative Werbeverträge mit Sponsoren. Jaja, sowas gibt’s auch – Profiblogger, die davon leben, dass sie interessante Sachen schreiben, die viele Leute lesen, worauf viele Firmen darauf hoffen, dass auch viele Leute ihre Werbebanner anklicken.
Aber mit meinen nicht mal 1800 Hits bräuchte ich wohl noch einen Faktor von 100, um mir über Werbung überhaupt Gedanken zu machen. Außerdem weiß ich nicht, wie begeistert mein Betreiber da wäre. Ist immerhin ein freundlicherweise kostenloser Service, den ich hier genieße und ich gedenke, dass das auch so bleibt.

Nein, ich will dann doch noch was über mein zweites DRAGON MAGAZINE schreiben, über die Ausgabe vom August 1995. Ich habe in einem früheren Beitrag ja erwähnt, dass es sich um einen interessanten Zeitpunkt handelte, der sich in der Ausgabe auch niederschlug. Ich will mal ein paar Punkte nennen, auch und zuerst solche, die ich zeitunabhängig interessant fand.

Es fängt schon bei den Leserbriefen auf Seite 4 an. Ein besorgter Leser, ein selbst rollenspielender Prediger (!) aus Brilliant, Ohio, äußert seine Bedenken zu der scheinbar untrennbaren Verbindung von Rollenspielen und dem (auch übermäßigen) Genuss von Alkohol. Nein, er redet nicht von den Trinkgewohnheiten von Spielern – er meint die Trinkgewohnheiten von (spielergeführten) Charakteren und den Einfluss klassischer Settings (“Ihr sitzt in der örtlichen Kneipe, als Euch jemand anspricht…”) auf das mögliche Trinkverhalten von Spielern, im Hinblick darauf, dass sich Rollenspiele in der Regel nicht an ein Zielpublikum richten, das bereits über 21 Jahre alt ist.
Er räumt ein, dass Lokale ein Dreh- und Angelpunkt des sozialen Lebens sind und waren, zumindest oft, und er verweist auf das alte Rom, wo man sich eher im Theater oder an der Pferderennbahn zu treffen pflegte, er fügt hinzu, dass ja auch Tempel, Büchereien und Spielclubs (für Gesellschaftsspiele) denkbar seien.

Er hat natürlich nicht ganz unrecht. “Alkoholische” Settings könnten Einfluss auf die Spieler haben. Das kann man ohne eine ernstzunehmende Untersuchung nicht ausschließen. Meine persönliche Erfahrung zumindest ist anders. Meine zeitweilig ausufernden Trinkgewohnheiten wurden von der Bundeswehr beeinflusst und nicht von Rollenspielen. Klar, meine Charaktere haben viel getrunken und noch mehr gefressen und viele andere Dinge gemacht, auf die ich im echten Leben nie gekommen wäre.
Rollenspiele sind Realitätsflucht, ganz klar. Und weil es ein Betätigungsfeld ist, das keine echten Konsequenzen nach sich zieht (sofern man eben spielinternes Geschehen nicht auf die Realität überträgt), lässt man in Mittelerde, Night City, Krynn, Aventurien und von mir aus auch in Mos Eisley die Sau raus. Ich habe den Eindruck, dass man in Rollenspielen die vielen Dinge macht, die man sich im echten Leben aus diesen oder jenen Gründen nicht traut – aber was soll’s? Es ist ja nur ein Spiel, und eine gewisse Intelligenz bei der Trennung von Spiel und Wirklichkeit kann man wohl den meisten Menschen zutrauen.

Artverwandt mit dem Jahre später erschienenen Artikel darüber, wie man sich den Spielleiter zum Freund macht, gibt es hier einen Artikel über
“Stratagem and Dirty Tricks – Trickery for and against player characters” (S. 10).
Was dabei ein bisschen seltsam kommt, sind die eingangs genannten Quellen: Sun Tsu, ein Chinese, der über “Die Kunst des Krieges” geschrieben hat, und Machiavelli, der ein entsprechendes Buch unter dem Titel “Der Prinz” geschrieben hat, in der Hoffnung, auf diese Art und Weise einen Job zu bekommen.

Der Artikel beginnt mit militärischen Angelegenheiten. Ich muss allerdings nicht in Details gehen, da alle genannten Szenarien und Hilfen von dem Fall ausgehen, dass die Spielercharaktere in militärische Führungspositionen berufen wurden.
Interessant sind bestenfalls Taktiken der mongolischen Horden: Man soll eine feindliche Truppe z.B. nicht völlig einschließen, sondern, scheinbar durch einen Fehler, einen Ausweg offen lassen. Eine eingeschlossene Truppe, die keine Aussicht auf Gnade sieht, wird bis zum letzten Mann auch mit bloßen Händen kämpfen, aber wenn man ihnen einen Ausweg lässt, werden sie viel eher die Flucht ergreifen, als wirklich notwendig wäre.
Es heißt auch, im Winter hätten sie Rinder an zugefrorenen Flüssen weiden lassen, am Ufer gegenüber einer Siedlung. Sobald die Bauern die Tiere holen und über den Fluss treiben würden, wussten die Mongolen, dass das Eis dick genug für die Überquerung war.
Warum man einen Test allerdings nicht zeitsparend mit ein paar “Freiwilligen” machte, ist mir schleierhaft.

Auch der Abschnitt über Politik und Intrige dreht sich weitgehend um Spielercharaktere, die in Machtpositionen sitzen, z.B. als Führer einer Armee, die gerade ein Stück Land erobert hat, oder als Verwalter desselben. Auch das lasse ich aus, weil es m.E. zu strategisch ist. Ich habe in den vergangenen 18 Jahren nie eine solche Gelegenheit gehabt. Es gab immer übergeordnete NSCs, und auch das Greifenfurther Regiment des Obristen Josua Grauthal war zu klein und immer in einen größeren Verband eingegliedert, um wirklich etwas bewirken zu können, ganz zu schweigen davon, dass es sich um bewaffenete Stadtbürger und Bauern handelte, denen der Oberst gerade mal effektives Stockfechten beizubringen versuchte.
Nur im SHADOWRUN Universum ist es uns – eben vor ca. 17 oder 18 Jahren – einmal gelungen, die “Vereinigten Wohnblocks von New York” zu gründen, indem wir mit einem Haufen anderer Söldner einen Teil von Manhattan besetzten. Unser Spielleiter fand das nicht so witzig und befand die Auflösung unseres selbstherrlichen Staates nicht einmal als spielwürdig – er erklärte uns zwischen den Sitzungen, dass das US Militär bei uns aufgeräumt habe, ließ uns aber sonst ungeschoren davonkommen (worauf wir allerdings nach Berlin umzogen, wo uns der anarchische Status und somit die Abwesenheit staatlicher Ordnungshüter sehr entgegen kam).

Wie dem auch sei. Auf einer niedrigeren Ebene hält der Artikel immerhin einen Tipp für den Umgang mit übermächtigen Charakteren bereit: Die Geschichte hinter dem chinesischen Sprichwort “Ein Pfirsich kann drei Ritter töten”. Es läuft darauf hinaus, dass eine hohe Autorität, der Kaiser zum Beispiel (je nach dem, was ins Spiel passt und wer die übermächtigen Spielercharaktere loswerden will), mehreren Spielern EINEN Preis zukommen lässt, mit dem Hinweis, der Würdigste möge ihn an sich nehmen. Der Autor geht davon aus, dass je nach Art des Preises ein Streit ausbrechen wird, und dass vielleicht einer der Spielercharaktere von einem anderen getötet wird.

Das mag passieren, ausschließen kann man es nicht, aber dennoch spricht dieses Konzept den Spielern ein gewisses Maß an Intelligenz ab. Ich bin jedenfalls ziemlich sicher, dass die meisten Spieler sich irgendwie einig werden, ohne sich (die Charaktere) gegenseitig umzubringen oder einen ernsten (wenn auch spielinternen) Streit entstehen zu lassen. Die einzigen echten (spielinternen) Streitigkeiten, die ich erlebt habe, entstammten jedenfalls realen Animositäten unter den Spielern und deren mangelndem Bewusstsein darüber, wo die Grenze zwischen Streich und Provokation liegt.

… und das alles über einen Bericht, der deshalb interessant ist, weil er uninteressant ist.

Kommen wir also zu Platz 3 der interessanten Artikel: “DANGEROUS GROUNDS” (S. 90).
Es geht um die Einbeziehung der Umgebung in das Spielgeschehen, besonders dann, wenn gekämpft wird. Man kann erfahrenen Charakteren das Leben schwer machen, indem man den Kampfplatz selbst zu einem Gegner macht. Das schließt so ziemlich alle Begleitumstände mit ein.

Zum Beispiel eine Treppe. An einem tiefen, steilen Berghang. Ohne Geländer und andere Sicherungen. So schmal, dass man hintereinander gehen muss. Da muss man beim (fast) unweigerlichen Kämpfen darauf achten, dass man nicht stolpert. Und wenn der Gegner in der Überzahl ist, könnte der (auf Kosten “entbehrlicher” eigener Leute) auf die Idee kommen, dem jeweils vordersten Helden beim Stolpern behilflich zu sein. Ähnlich kann man z.B. mit einer seitlich teilweise eingestürzten Brücke verfahren; von Hängebrücken aus Naturfasern, deren “Boden” aus morschen Brettern besteht (siehe “Indiana Jones and the Temple of Doom”) brauchen wir erst gar nicht zu reden.
(Warum der AD&D orientierte Autor bezüglich der Sturzgefahr allerdings einen Rettungswurf gegen Odemangriffe für angemessen hält, ist für mich nicht ersichtlich.)

Oder wie wäre ein eisiger, glatter Untergrund? Dornenbüsche mit spitzem und scharfkantigem Geröll dazwischen? Oder giftige Ranken – in einem dichten, dunklen Wald, in einer mondlosen Nacht, wo man eine nur zwei Meter entfernte Person gerade mal als Schatten wahrnimmt? Zurück in der Stadt könnte man auf Dächern kämpfen, oder auf dem Gerüst einer Großbaustelle – schließlich müssen auch die großen Tempel und Paläste von Fantasywelten irgendwann mal renoviert werden. Der Asphaltdschungel eines SciFi Rollenspiels wird noch leichter ein solches Szenario herhalten.

Brennende Gebäude halten auch immer einen nicht geringen Dramatikeffekt bereit. Der Held muss vielleicht nur seinen Weg nach draußen finden (und dabei immer schön würfeln, ob Sauerstoffentzug, Rauch und Hitze ihm nicht zu sehr zusetzen), vielleicht muss aber noch jemand gerettet werden – seine Kameraden im Nebenzimmer oder vielleicht ein holder Knecht? Vielleicht wird er auch von einem rachedürstigen Feind an der Flucht gehindert, dem es egal ist, ob er bei der Ausübung seiner Rache selbst mit verbrennt, Hauptsache, das Schwein (der Held) ist nachher tot?

Natürlich muss es kein Hausbrand sein. Wie uns die Nachrichten der vergangenen Wochen beweisen, machen auch Waldbrände einiges her. Das Repertoire der Spieler hält oft genug Gelegenheiten bereit, ein trockenes Stück Land zu entflammen. Sei es ein unbedachter Feuerball oder Leuchtspurmunition, oder das Schlafbedürfnis desjenigen, der auf das Lagerfeuer achten soll.

Sehr cool fand ich den Bericht “THE THOUGHT POLICE” (S. 41.).
Er wurde geschrieben aus der Sicht von einer Gruppe, die im Auftrag einer Diebesgilde unterwegs ist, neue “Jagdgründe” zu erforschen. Da ist also diese Stadt namens “Gundersthall”, berühmt für ihre reichen Kaufleute, und die Gilde will sehen, ob man da Fuß fassen kann. Das angeheuerte Team stellt nach einigen Tagen Beobachtung fest, dass es keine offensichtlichen illegalen Organisationen in dieser Stadt gibt, freies Feld also.

Und nach eben diesen Tagen geht ihnen das Geld aus und sie wollen ein paar Geldbörsen pflücken. Eine von ihnen wird dabei von einem Stadtgardisten erwischt – der ihr eigentlich den Rücken zudrehte. Und auf ein Signal von diesem erscheinen drei weitere Wachleute aus dem Nichts. Man nimmt sie in Gewahrsam. Als die Gefährtin nach zwei Tagen wieder erscheint, kann sie sich nicht erinnern, wie man all das anstellt, was man als Dieb normalerweise so kann. Und als sie beim (Test-) Falschspielen versagt, kommt sie auf den Gedanken, sich selbst anzeigen zu müssen.

Ein anderer von der Gruppe raubt einen Laden aus und tötet dabei den Besitzer. Weil er dabei sein Messer zurückgelassen hat, will er es zurückholen – aber selbst wenn die Wache es findet, woher sollten sie wissen, dass es seines ist? Von wegen. Die Bullen sind schon vor Ort und einer redet mit dem Messer, worauf es dem Ermittler Name, Alter und ethnische Details seines Vorbesitzers nennt. Der wird daraufhin in einer Gasse gestellt, und bevor es zum Kampf kommt, windet er sich auf einen einfachen Blick der Wache vor Furcht auf dem Boden und winselt um Gnade. Die Wache stellt ihm ein paar Fragen zur Tat, der Mörder lügt, aber am Ende weiß die Garde genau: “Schuldig!” – und dann desintegrieren sie ihn.

Die übliche Stadtwache der Fantasywelten ist nicht viel mehr als Kanonenfutter, zumindest für höherstufige Helden. Aber wenn man Psioniker integriert, dann kann das Abenteuer in der betreffenden Stadt eine harte Nuss werden. Rüstet man normale Wachen mit magischen Waffen aus, können die Spieler sie an sich nehmen, was es dem Spielleiter dann wiederum schwerer macht. Magier haben für gewöhnlich nicht genug körperliches Durchhaltevermögen, um zum Gardisten zu taugen, und ihre Zauber brauchen oft Zeit und materielle Komponenten. Psioniker dagegen brauchen keine Vorbereitung. Was sie denken, wirkt sich sofort aus (zumindest im AD&D Rahmen).

Zum Schluss: Was ist jetzt so interessant an dem Veröffentlichungsdatum der Ausgabe #220 vom August 1995?
Es sind die Berichte, die sich mit elektronischen Dingen beschäftigen.
Zum Beispiel ist in diesem Zeitraum gerade das allererste “Warcraft” Spiel (“Orcs and Humans”) erschienen, und es wird niemand abstreiten, dass es sich dabei um ein bahnbrechendes Spiel handelt. Das darauf basierende Onlinespiel “World of Warcraft” zieht unglaubliche Mengen von Menschen in seinen Bann, und die Anfänge liegen bereits 12 Jahre zurück. Ich fand es jedenfalls auffällig.

Dann gibt es einen Bericht zur E3 (Electronic Entertainment Expo), die sich 1995 erst zum dritten Mal jährte, und da gab es zwei interessante Dinge, die dem Autor aufgefallen sind: Zum einen stellte er ganz klar fest, dass um CD-ROM Laufwerke kein Weg mehr herumführt. 1995 war der Wendepunkt, der Untergang der Diskette war besiegelt. Wie sieht es heute aus, 12 Jahre danach? Die CD-ROM erlebt das Fortschreiten ihres Endes, bedingt durch DVD-ROMs und flexible, transportable Speichermedien. Was soll ich mit einer 700 MB Scheibe (oder auch mit einer, auf die 4,4 GB passen), wenn ich einen Multigigabyte großen Speicher bequem in meiner Hosentasche herumtragen kann, den ich beliebig neu beschreiben kann?

Aber das schönste: Die 1995er E3 sah die erste öffentliche Präsentation der Playstation!
Sonys Debüt auf dem Konsolenmarkt, ein Neuling in Konkurrenz zu alten Veteranen wie SEGA und Nintendo. Kaum zu glauben, dass das schon so lange her ist. Spielkonsolen gab es außerdem schon vorher, aber ich wage zu behaupten, dass mit dem Erscheinen der Playstation ein neues Zeitalter begonnen hatte. Es war nicht die Verwendung von CD-ROMs als Speichermedium (so weit ich weiß, hatte sich SEGA bereits Jahre zuvor an einer CD-ROM Konsole versucht), aber nachdem die Playstation da war, und von ihr “angetrieben” die neueren Produkte der Konkurrenz, waren Konsolen auf einmal beliebter und verbreiteter als vorher – zumindest in meiner subjektiven Wahrnehmung.
Ich möchte also schlussfolgern, dass 1995 ein elektronisch entscheidendes Jahr war und ich finde es interessant, eine Zeitung zu finden, in der so gebündelt diese Dinge zu finden sind. Meinen besten Dank an Volker.

2. August 2007

Spirit of the Sun?

Filed under: Manga/Anime — 42317 @ 10:54

So lautet die Übersetzung des Titels

Taiyô no Mokushiroku

Nun heißt “Mokushiroku” meines Wissens nach aber “Apokalypse” (im biblischen Sinne oft verwendet), und wenn man sich zumindest den ersten der beiden jeweils knapp 80 Minuten langen Filme dieses Titels ansieht, versteht man auch, warum das eigentlich passender ist. Vielleicht wollten die Übersetzer die Sonne auf den Protagonisten bezogen wissen? Ich halte die Übersetzung jedenfalls für fragwürdig.

Die Sonne ist das Wahrzeichen Japans, wie dargestellt in den offiziellen japanischen Flaggen (mal mit und mal ohne Sonnenstrahlen), und in dem Film ist einiges los.

Als erstes ein Erdbeben über Stärke 8 in Kantô (wo Tokio liegt)!
Die Stadt versinkt in Schutt und Asche!
Dann rauscht ein Tsunami von unglaublicher Höhe über das Trümmerfeld!
Der Berg Fuji bricht aus, speit Lava, Felsbrocken und Asche!
(Und an seinem Hang verbleibt ein hässlicher Krater, der somit eindeutig den Iwaki bei Hirosaki zum schönsten Berg Japans macht.)
Und als ob das nicht genug wäre, verwüstet ein Erdbeben der Stärke 8,8 die Kansai Region mit Umland, vernichtet Osaka, Kyoto, Kobe und Nagoya, und öffnet eine gigantische Erdspalte, die in Folge Japan ziemlich genau in zwei Hälften spaltet, geteilt durch eine Meerenge!

Japan ist selbst nicht in der Lage, einer solchen Katastrophe Herr zu werden.
Man nimmt also Hilfsangebote der Amerikaner und Chinesen an, und um den Aufbau zu effektivieren (?) übernehmen die Chinesen den neu entstandenen Nordteil und die Amerikaner den Süden. Die beiden Staaten wollen im Gegenzug für Ihre Aufbauhilfe natürlich Zugeständnisse bei der Neugestaltung des Landes.

Japan ist also mal wieder in Nord und Süd geteilt. Es scheint sich dabei um ein historisches Erbe zu handeln, das dieses Inselvolk nicht so leicht vergisst. 1336 bis 1392 hatte es in der japanischen Geschichte auf Grund dynastischer Unstimmigkeiten eine Zeit der Nord-Süd-Trennung gegeben, die bereits in anderen Anime aufgegriffen und in moderneren Zeiten neu inszeniert worden ist (z.B. “Kumo no mukou Yakusoku no Basho”)

Der erste “Taiyô” Film beschäftigt sich hauptsächlich mit diesem ausgedehnten Prolog, denn diese Apokalypse (anno 2002) ist nur der Hintergrund für die sich entspinnende Geschichte.
Viele Japaner sind aus ihrer Heimat geflohen und es gibt in den umliegenden Staaten offenbar Flüchtlingscamps, und das noch 15 Jahre nach der Katastrophe. Der Grund dafür entzieht sich mir noch, da dargestellt wird, dass es 2017 bereits wieder eine funktionierende Infrastruktur gibt. Die Teilung ist ebenfalls noch aktuell, und die Darstellung der Grenze und der Zollaktivitäten erinnert ein bisschen an den Kalten Krieg.

Während der Katastrophenphase hört sich die Botschaft etwas nationalistisch an – “Japan muss leben!”, so in etwa. Aber ethnische Konflikte spielen eine bessere Rolle. Japan ist nun der Bittsteller, japanische Bürger leben aus Not im Ausland, in Lagern, und sind bei der Bevölkerung nicht beliebt. Als eine Japanerin und ihr kleiner Sohn auf Taiwan ermordet werden, drohen Unruhen auszubrechen. Das “Spiel”, das die Yakuza mit Einwanderern im realen Japan mitunter treibt, verkehrt in dieser Fiktion die Rollen, wenn sich zum Beispiel die Gemüsefrau weigert, ihre Waren an Japaner zu verkaufen. Eine halbwegs rationale Begündung für solches Verhalten gibt es natürlich nicht.
Und der Held mittendrin ist ein Japaner, der im Chaos der japanischen Apokalypse von Taiwanesen (Restaurantbetreibern) gerettet und in Taiwan aufgezogen wurde…

Ich war schon drauf und dran, die Filme für den Anime Club vorzuschlagen, durfte dann aber feststellen, dass der zweite Teil nur in einer so genannten “Raw” Fassung verfügbar ist, das heißt ohne Untertitel. Vielleicht kommen noch Untertitel. Ich halte die Filme jedenfalls für geeignet.

20. April 2007

Warum manche Leute Autoverkäufer werden sollten

Filed under: My Life — 42317 @ 19:21

Diese Woche habe ich mein erstes Kolloquium bei Frau Professor Scholz genossen und durfte als erster darlegen, um was es bei mir gehen soll. Eigentlich wollte ich japanische und amerikanische Kriegspropaganda zwischen 1941 und 1945 vergleichen. Natürlich konnte ich sekundäre Quellen nennen, aber bei den primären Quellen komme ich halt immer noch ins Schwitzen.

Die Frau Scholz erkannte also schnell das Problem, und weil sie ja unser aller Bestes will, hatte ich fünf Minuten später ein entfernt verwandtes neues Thema:
Die Verarbeitung der Kriegsverbrechertribunale von Tokyo auf der Bühne.

Deswegen sollte die Frau vielleicht Autos verkaufen.
Da kommt ein Kunde zu ihr, der sicher ist, dass er einen blauen BMW kaufen will und nach wenigen Minuten hat sie ihn davon überzeugt, dass ein gelber Benz viel besser zu ihm passt.

Gut, letztendlich ist es mir gleich. Das Thema fällt ja in “meinen” Bereich, Primärquellen sind ausreichend vorhanden, und ich habe auch das Glück, dass der Autor der neuesten Version des entsprechenden Theaterstücks noch am Leben ist und Frau Scholz die E-Mail Adresse seines Managers parat hat, der sich darüber freuen wird, dass jemand akademische Werbung für seinen Klienten macht.
Hauptsache, ich komme irgendwann bald aus diesem Schuppen raus…

Wozu brauchen wir eigentlich eine online Einschreibung?

Filed under: My Life — 42317 @ 18:36

Ich war heute mal wieder erstaunt über den Nutzen unseres StudIP online Kurseinschreibungsportals. Heute morgen bin ich noch schnell auf Platz 12 der Warteliste des Kurses von Frau Dr. Gerbig hochgerutscht und habe mir, wie geplant, erlaubt, dennoch zur angegebenen Zeit zu erscheinen.

Das nervöse Warten hatte dann um 1420 ein Ende: Die Dozentin stellt die Anwesenheit fest und zählt 29 Anwesende. Fünf Minuten später kommt noch eine Teilnehmerin dazu, die ebenfalls nur einen Warteplatz hatte. Der Kurs hat damit 30 Teilnehmer, so viele, wie irgendwann einmal geplant – und das bedeutet, dass von allen Leuten, die sich eingetragen haben und bis heute morgen eingetragen geblieben sind, ganze 18 nicht einmal aufgetaucht sind.
Und ganz nebenbei stellte uns die Frau Doktor eine E-MailAdresse für Fragen zur Verfügung, die mit der in StudIP angegebenen nicht übereinstimmte. Tolle Wurst. Denn Sprechstunden hat sie keine – sie ist nur in diesem Semester wieder in Trier, und das auch nur an Freitagen, und arbeitet hauptsächlich in Leipzig.

Auf der Anwesenheitsliste streichen Leute von der Warteliste solche aus, die auf der Hauptliste standen und setzen ihre eigenen Namen auf das Papier. Etwa ein Drittel der Hauptliste ist nicht erschienen, was knapp der Hälfte der Warteliste erlaubte, ganz problemlos in den Kurs zu kommen, und genau diese acht Leute waren auch da und freuten sich.

Grund zur Freude hatten sie offenbar. Von den dreißig Anwesenden brauchen nur vier keinen benoteten Schein. Und den kriegt man, indem man mit einem oder zwei Partnern eine Präsentation schmeißt (= ein Referat hält) und seine fundierte Meinung über die angegebene Literatur, die für jede Veranstaltung zwei Seiten lang zu sein hat, zu einer Hausarbeit erklärt.

Ganz allgemein bleibt festzustellen, dass das Einschreibungsprocedere völlig überflüssig war. Wenn man nicht völlig blöde (aber ein bisschen asozial) ist, schreibt man sich in alle möglichen Kurse ein, sobald es möglich ist, und entscheidet dann zu Vorlesungsbeginn ganz entspannt, welche einem denn nun auch tatsächlich in den Gesamtplan passen, und wenn welche nicht passen, dann kommt man halt einfach nicht. Und gibt damit Leuten wie mir Gelegenheit, in melancholischen Farben über den Sinn des Lebens zu spekulieren.
Man kann die Einschreibung per Computer also ebenso gut wieder komplett abschaffen und durch das Erscheinen in der ersten Seminarsitzung zu ersetzen. Im Falle einer Überbelegung sollte dann das Senioritätsprinzip über ein Verbleiben entscheiden – höhere Semester haben aus naheliegenden finanziellen Gründen weniger Zeit und wollen baldigst fertig werden und nicht semesterlang warten, bis sie das Glück haben, von einer unpersönlichen Maschine einen Teilnehmerplatz zugewiesen zu bekommen.

Ich habe mein Seminar also. Der Kampf geht weiter.

15. April 2007

Amerikanische Probleme und deutsche Lösungen

Filed under: Militaria — 42317 @ 12:23

… bei der militärischen Hardware.

Wie es scheint, beschweren sich die US GIs derzeit hauptsächlich über zwei Dinge:

1. Der neue Feldanzug
(Siehe Military.com: Feldanzug USA)

Ich überspringe die zwei guten Punkte (u.a. sind die Taschen bedienerfreundlicher), weil die negativen auffälliger sind:

a) Die neueingeführten Klettverschlüsse reißen ab und was auch immer da dran hängen bleiben soll, geht schnell verloren, wenn der Soldat im “bodennahen Einsatz” ist. Außerdem gehen die Seitentaschen auf und man verliert Zeug, dass man dringend brauchen könnte.

b) Das Material ist halb-halb Baumwolle und Nylon. Und das brennt scheinbar schnell. Der Autor des Berichts schlägt vor, entweder bei reiner Baumwolle zu bleiben oder Nomex zu verwenden, dessen Anschaffung teurer ist, aber Behandlungskosten angebrutzelter Soldaten einspart.

c) Das Tarnmuster erfüllt seinen Zweck nicht. Die “Urban” Tarnung sei zwar in einem Betonumfeld ganz toll, aber sonst zu nichts zu gebrauchen.

2. Der M4 Carbine
(Siehe Military.com: M4 Kritik)
Wie es scheint, wartet man auf der anderen Seite des Atlantik auf die nächste (selbstgebaute) Generation der Infanteriewaffe, anstatt eine Lizenz zu erwerben.
Zu Bundeswehrzeiten anno 1998 haben mir Ausbilder angesichts des G36 bereits lächelnd mitgeteilt, dass die M16 statistisch alle 600 Schuss eine Ladehemmung hat, während unser G36 da mit einer niedrigen fünfstelligen Zahl in der selben Statistik erscheine. Ob die Zahlen stimmen, kann ich nicht sagen, aber ich hatte nie eine Ladehemmung mit dem G36.

Wie dem auch sei, es scheint immer mehr durchzusickern, dass die M4 (die kurze Version der M16) den Bedingungen eines irakischen oder afghanischen Schauplatzes nicht gewachsen ist – da gesellen sich viel Hitze und viel Staub zu dem eh anfallenden Ruß, der wohl die Gasrückführung, die bei der M4 den Nachlademechanismus in Gang hält, sehr oft verstopft und den Benutzer in kritischen Momenten in arge Probleme bringen kann.
Die Lösung von Heckler & Koch (HK) besitzt einen Gaszylinder, der den Verschluss mechanisch in Bewegung versetzt und keine Gaskanüle hat, die verstopfen könnte.

Und wenn ich schon mal dabei bin:
HK bringt die MP7 an die Truppe, und wenn man sich das typisch erscheinende Design anschaut, wird wieder klar, warum Filmbösewichte so gerne auf die Firma aus Oberndorf zurückgreifen:

HK MP7A1

(Siehe dazu: MP7A1 Beschreibung und MP7A1 PDF)

Neu ist auch das MG4:
Außer mir haben sich wohl noch mehr Leute darüber beschwert, dass das MG8 (ein Umbau des alten G3) seine Hülsen drei Meter hoch und fünf Meter weit auswirft – das MG4 wirft seine Hülsen wieder (wie das alte MG3) nach unten aus. Hat ja nur etwa 10 Jahre gedauert, diese Idee wieder zu entdecken…
(Siehe dazu: MG4 Beschreibung)