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Aus dem noch unerforschten Inneren meines Schädels

17. April 2024

Samstag, 17.04.2004 – GTD II / Great Teacher Dominik, die Zweite

Filed under: Arbeitswelt,Japan,My Life,Zeitgeschehen — 42317 @ 7:00

Ich stehe um 09:00 auf. Der Tag ist sonnig, aber kühl. Ich setze mich in die Bibliothek und beginne mit meiner Post. Da kommt auch was Interessantes geflogen: Mein alter Kamerad Ritter wird demnächst mit seiner Ausbildung für den gehobenen Polizeidienst im Lande Rheinland-Pfalz beginnen. Das ist doch was!

Ah, und ich bin wieder mal spät dran… ich gratuliere Kai und Frank drei, bzw. zwei Tage verspätet zum Geburtstag. Und ich kann endlich den dritten Zug des Stadtkampfes beenden. Allerdings schreibt Frank auch, dass er bis Donnerstag keine Zeit haben wird. Dann warte ich eben. Ich habe ja auch genug zu tun, um mich nicht zu langweilen. Aber wahrscheinlich wird er dafür besser bezahlt.

Und auch Ritter bekommt Appetit auf Combat Mission… sehr schön. Eine Vergrößerung der Gemeinde ist mir immer Recht. Allerdings mache ich mir angesichts seines Ausbildungsbeginns keine Hoffnungen auf ein Spiel in absehbarer Zeit, auch wenn mir die Idee gefallen würde, gegen einen Feldwebel zu spielen. Außerdem liegt mein Hauptinteresse derzeit bei Kampfberichten, und außer Frank kommt derzeit nur Misi in Frage. Ich bin mir nicht ganz sicher, wie begeistert Karl von der Idee wäre, einen Bericht in englischer Sprache zu schreiben. Ausführliche Berichte liegen ihm im Blut, habe ich das Gefühl, aber ob er sich die Mühe auf Englisch machen will, ist eine andere Frage. Ich klammere ihn vorerst aus. Die beiden Michaels (Harz und Ritter) sind des Englischen zwar ebenfalls mächtig, aber alles andere als passionierte Schreiber. Die halten sich beide am liebsten kurz. Ich erinnere mich, dass der Herr Harz auf eine Anfrage von mir hin mal einen Bericht über ein Gefecht von dreißig Spielzügen gegen Karl in fünf Zeilen untergebracht hat… das war etwa so befriedigend wie Nudeln ohne Salz und Käse.

Um 11:48 kommt Misi zu mir und fragt mich, ob ich bereit wäre, den Englischunterricht im „York Culture Center“ noch einmal zu übernehmen. Ihm sei heute nicht danach, er hasse den Job sowieso, und Alex sei nicht da. Wie, heute? Ja, heute, um 13 Uhr. Also… jetzt!? In etwas mehr als einer Stunde, und ohne Lehrbuch, weil sie damit fertig seien. Aus dem Stegreif… ja, aber sicher doch! Ich kann die 2000 Yen gebrauchen, außerdem gefällt mir diese Art von Arbeit. Ich suche mir zwei Berichte aus der „Japan Times“ aus und lege mir damit mein wenn auch mageres Konzept zurecht. Ich sehe also zu, dass ich mit meinem Schreibkram fertig werde und fahre um 12:35 ins Ito Yôkadô.
Die Übernahme ist kein Problem und „meine“ Kursteilnehmer sind recht überrascht, mich noch einmal hier anzutreffen. Nachdem alle eingetroffen sind (vier Leute wie beim letzten Mal), erläutere ich, warum ich hier bin und warum die heutigen Inhalte etwas provisorisch erscheinen könnten. Natürlich habe ich mich bei der Auswahl von meinen persönlichen Interessen leiten lassen, aber ich musste ja auch Themen verwenden, von denen ich Ahnung habe. Ich kündige also eine freie Diskussion an.

Erstes Thema: Die umstrittenen Sahalin Inseln.
Sahalin interessiert hier im Raum niemanden, keiner braucht diese Inseln nördlich von Hokkaidô, wo es außer Fisch nichts zu geben scheint; außer konservativen Politikern scheint es niemanden zu geben, den Sahalin interessiert. Bis auf Ozaki-san, den Herrn um die sechzig. Er sagt, dass Sahalin sehr wohl an Japan zurückgegeben werden sollte und er nennt auch einen pragmatischen Grund, der mit Patriotismus, mit japanischem „Blut und Boden“, direkt nichts zu tun hat: Da oben gibt es nicht nur Fisch, sondern, wie er sagt, auch Erdgasvorkommen in einem bisher nicht näher bekannten Ausmaß. Aha, so läuft der Hase! Natürlich gibt es Leute, die eben wegen der Erdgasvorkommen auch auf Erdöl hoffen, das Japan unabhängiger von Importen machen würde.

Zweites Thema: Mülltrennungsvorschriften im Vergleich
Im Großen und Ganzen halte ich an dieser Stelle einen Monolog über die Unterschiede des japanischen Recyclingsystems zum deutschen, aber ich komme zu keinem Ergebnis, welches ich für besser halten würde, da ich die Hintergedanken der jeweiligen Entwickler nicht kenne. Außerdem nutze ich die Gelegenheit, mich über die Schrottkarren im Naturschutzgebiet auszulassen.

Drittes Thema: Die japanischen Jieitai[1] im Irak
Natürlich sind sich alle einig, dass der Irak ein gefährliches Pflaster ist und dass die Familien zuhause mit Recht um das Leben ihrer Angehörigen in Uniform bangen, aber ebenso herrscht darüber Einigkeit, dass der Einsatz auf lange Sicht einen positiven Effekt haben wird. Neben wirtschaftlichen Vorteilen, die sich aus dem Aufbau des Irak ergeben, wird auch das Prestige Japans steigen, dass mit seiner Bautruppe die Lebensverhältnisse im Irak verbessern hilft und keine Besatzungs- oder Sicherungstruppe ist. Allerdings habe ich auch den Eindruck, dass die Tatsache, dass man japanische Leben für irakische Leben riskiert, eine bittere Pille ist, die man aber in die Backentasche schiebt, um sie nicht schlucken zu müssen. Natürlich ist derlei Denken nur menschlich.
Danach kehre ich mit trockener Kehle in die Bibliothek zurück und schreibe den Bericht zum 10. April.

Im Animetric Forum erhalten wir derzeit „Liveberichte“ aus Litauen, wo wohl eine Art Bandenkrieg tobt. Da hat wohl eine Gruppe ethnischer Russen (klassisch in Trainingsanzügen) einen litauischen Metalfan (lange Haare, Nietenleder-Outfit) ins Krankenhaus geprügelt, worauf sich die langhaarigen Metalfans mit kahlköpfigen Skinheads verbündet haben (!), um sich bei den Russen „Respekt“ zu verschaffen. Die Skinheads (40 Mann) haben daraufhin (angeblich ohne Beteiligung der Metalfans) acht von den Russen in die Mangel genommen, und auf der Straße geht das Gerücht, dass einer davon tot sei. „Wir kämpfen hier ums Überleben!“ sagt Cabala, der Autor, „Wenn wir ihnen nicht die Faust zeigen, werden uns die Russen weiter angreifen!“
Ich frage mich, ob wir auf der Linie Königsberg, Brest-Litowsk und weiter nach Süden nicht vielleicht eine Mauer hochziehen sollten…

Um 17:00 gehe ich mit Melanie in den Park, weil heute das Kirschblütenfest beginnt. Mit dabei sind außerdem SangSu, Jû und Mélanie. Die Lufttemperatur beträgt acht Grad und fallend, weil die Sonne in wenigen Stunden untergehen wird, und wenn man normale Kleidung ohne Jacke trägt, ist das ziemlich kühl. SangSu überlässt Mélanie daher seine Jacke. Er scheint härter im Nehmen als er aussieht. Wir fahren auch am Tempel vorbei, der auf dem Weg liegt, weil Jû noch nie dort war und es da auch ein paar schöne Motive für die Kamera gibt. Die Kirschblüten sind noch nicht alle aufgesprungen, das könnte noch ein oder zwei Tage dauern, aber die meisten strahlen uns bereits von den Bäumen entgegen.

SangSu, Melanie, Mélanie, Dominik, Jû hinter der Kamera

Wir treffen im Park auch Masako, eigentlich genau richtig, weil ich ihre Mailadresse überprüfen will. Da sie mit der Uni fertig ist, hat ihre Uni-Mail-Adresse ihre Gültigkeit wohl verloren und ich brauche eine neue, um Kontakt halten zu können.
Der Park ist gut besucht und einige Leute sind schon schwer am Feiern. Ein paar junge Leute sprechen dem Sake kräftig zu und spielen Jan-Ken-Pon; der Verlierer muss ein Kleidungsstück ablegen. Vielleicht sollte ich statt „Leute“ besser „Männer“ sagen, da sich ihre Freundinnen (leider) nicht beteiligen und nur amüsiert zusehen, wie sich ihre Begleiter öffentlich zum Affen machen und sich in Gefahr begeben, sich edle Körperteile abzufrieren. Einer steht schon in Shorts da.

Als wir wieder gehen, schlage ich vor, ins „SkattLand“ was essen zu gehen, aber mein Vorschlag scheitert an finanziellen Bedenken. Jû sagt, er sei diesen Monat bereits ziemlich pleite, und Mélanie hat keine Jacke dabei, da sie die geliehene ja eher früher als später zurückgeben muss. Auf dem Weg nach Hause verliere ich die anderen vier kurzzeitig aus den Augen, weil ich über eine Ampel fahre, die hinter mir rot wird und mich von der Truppe abschneidet. Ich finde mich allein und fahre schnellstens zu der roten Brücke, wo sie vorbeikommen müssen, wie ich vermute. Nach fünf Minuten allerdings kommt noch niemand, also muss ich annehmen, dass sie einen anderen Weg gefahren sind (was eigentlich eher unwahrscheinlich ist) oder dass sie bereits vor mir hier waren und bereits an der Hauptstraße sind. Ich fahre also dorthin und treffe dort sofort wieder auf meine „Reisegruppe“. Ich versuche nicht weiter, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen.

Wir verabreden, uns um acht Uhr bei SangSu zu treffen, um einen Film anzusehen, allerdings ohne Mélanie, die lieber nach Hause möchte. Und wenn wir schon mal da sind, werden wir von SangSu auch mit den Fotos beglückt, die er Anfang April in Korea auf Heimaturlaub gemacht hat. Außerdem zeigt er uns ein Video, dass ihn gewissermaßen als Moderator auf einer Werbeveranstaltung für Oberschüler seiner Universität zeigt. Das sei vor drei Jahren gewesen, sagt er. Er scheint über eine gewisse Prominenz zu verfügen… aber es ist ohne Zweifel festzustellen, dass er schon damals ein Clown war.


[1] Selbstverteidigungskräfte

13. März 2024

Samstag, 13.03.2004 – GTD?

Filed under: Arbeitswelt,Bücher,Japan,My Life,Spiele — 42317 @ 7:00

Ich stehe um 08:00 auf, um Vokabeln für den heute geplanten Unterricht durchzugehen und zu übersetzen, damit ich die Beispielsätze auch erklären kann. Ich höre auch die Lehrkassette an. Ich finde kein großes Problem dabei und mache mich um 12:00 auf den Weg, um viel Zeit für Eventualitäten zu haben.

Um 12:30 bin ich im Ito Yôkadô. Ich habe noch dreißig Minuten Zeit und die verbringe ich in der CD Abteilung. Wenn ich schon mal da bin, kaufe ich die „Ace wo nerae!“ Single und den „Doraemon“ Soundtrack „Yumebiyori“ von Shimatani Hitomi. Ich finde auch zwei CDs, die mich interessieren könnten, und frage, ob man sie zur Probe anhören könne. Daraufhin fummelt der Angestellte an dem Computer an der Kasse herum und eröffnet mir knapp eine Minute später, dass von diesen Künstlern keine Samples gespeichert seien. Ich bin jetzt nicht ganz sicher, was für Rückschlüsse das auf das hier verwendete System zulässt, aber unpraktisch ist es auf jeden Fall. In Tokyo stand ein Terminal herum, in dem man aus Hunderten von CDs wählen konnte. Aber… wir sind hier ja auf dem Land. Vielleicht bringe ich das nächste Mal den Diskman mit und frage, ob es auf diese Weise möglich wäre, CDs zu hören, bevor man sich blind zum Kauf entschließt. Die Soundtracks bekannter Anime kann ich per E-Bay losschlagen, aber wenn es sich um Musik außerhalb des Mainstreams handelt, kann ich das vergessen.

Ich gehe um 12:55 zum Unterricht. Meine Teilnehmer sind zwei Damen Mitte 40 (Namuri und Sasaki) und zwei Herren. Yamagata ist etwa dreißig und Ozaki um die sechzig – und nicht arm, wie man aus dem Anzug schließen könnte. Es stellt sich außerdem heraus, dass Yamagata nicht auf der Anwesenheitsliste steht, weil er zum ersten Mal hier ist und dass Namuri ausgebildete Englischlehrerin ist. Aha… ich kehre meine Frage unter den Tisch, bleibe stumm und demonstriere angenehme Überraschung.
Und es läuft auch alles ganz wunderbar. Natürlich sind auch diese Japaner wenig einfallsreich, was ihre Beispielsätze betrifft (sie lesen ab, was im Buch steht und tauschen ein oder zwei Worte aus), und Rückfragen werden auch nicht gestellt, obwohl ich spüre, dass es notwendig wäre. Ich versuche also, eventuellen Fragen durch Anmerkungen im Vorfeld bereits zu begegnen. Yamagata-san fragt immerhin, warum ich zwei Uhren trage. Des Weiteren waren meine Bemühungen umsonst, mir die Erklärungen der grammatikalischen Umstände der indirekten Rede auf Japanisch zurecht zu legen. Man bittet mich kurzerhand, ausschließlich Englisch zu reden. Nun gut, das ist eigentlich auch am sinnvollsten.

Um 14:20 ist der Unterricht vorbei und ich hoffe, dem Thema auch gerecht geworden zu sein. Natürlich hat es wenig Sinn, die Kursteilnehmer nach ihrer Meinung zu fragen… die würden darin aufgehen, meinen Unterricht und mein Japanisch zu loben, selbst wenn ihnen etwas missfallen hätte. Japan ist halt Japan.
Yamagata-san fährt mit mir im Aufzug nach unten und wir unterhalten uns kurz über die Notwendigkeit von Englischkursen und ich komme nicht umhin, anzumerken, dass mir das weitgehend auf Auswendiglernen von Grammatik beruhende japanische Lehrsystem nicht gefalle, weil es den Schülern jeden Spaß an einer Fremdsprache nimmt. Er bedankt sich zuletzt für den Unterricht und meint, dass er weiterhin kommen werde.

Ich bleibe aber noch ein wenig im Kaufhaus und komme über kurz oder lang auch wieder an dem „Ashita no Joe“ Boxautomaten vorbei, den ich vor einiger Zeit einmal beschrieben habe. Im Moment steht ein Japaner davor, noch ein Stück davon entfernt, Zwanzig zu sein, knapp 170 cm groß, mit recht normalem Körperbau – also eher mager. Er wirft 100 Yen in den Automaten und landet seinen ersten Schlag – 170 kg. Ja, das kann ich auch, aber entgegen seinem Äußeren scheint er recht kräftig zu sein. Der zweite Schlag: 180 kg. Was denn? Er steigert sich um 10 kg und schlägt meinen eigenen Rekord um drei Kilogramm? Dass man sich beim zweiten Schlag steigert, ist allerdings nichts Ungewöhnliches. Dennoch bin ich geplättet. Der dritte Schlag: 205 kg. Der packt beim dritten Schlag noch mal einen halben Zentner drauf? Schafft dreißig Kilo mehr als ich? Wie geht denn das? Zum Glück hat er nicht gesehen, wie mir die Kinnlade auf den Boden gefallen ist. Ich glaube immer noch nicht so ganz, was ich da gesehen habe, als ich das Kaufhaus wieder verlasse.

Am Abend beginne ich, die „Erdsee“ Quatrologie von Ursula Le Guin zu lesen. Die Werbung verspricht „ein Epos vom Weltrang eines Herrn der Ringe“, deshalb habe ich zu lesen begonnen. Nicht, weil ich geneigt wäre, dieser Aussage Glauben zu schenken, eher aus gegenteiligen Gründen. Ich merke schon bald, dass „Erdsee“ in diese Liga so schnell nicht aufsteigen wird – dafür fehlt eine gehörige Portion Handlung und auch „die große Aufgabe“, wie ich es mal nennen will. „Erdsee“ schildert das Leben des Magiers Ged, wie er vom magisch begabten, halbwüchsigen Ziegenhüter zum Erzmagier wird. In dieser Welt gibt es zwar Drachen, ansonsten aber nur zwei Sorten von Menschen: Schwarze und Weiße. Die Schwarzen sind Gelehrte, Kaufleute und allgemein potentielle Magier, die Weißen sind tendenziell ein Kriegervolk, in dem Lesen und Schreiben als Schwarze Kunst betrachtet wird und das in hübscher Regelmäßigkeit fremde Küsten auf der Suche nach Schätzen und Sklaven heimsucht.
Das heißt allerdings nicht, dass es unter den Schwarzen nur fromme Lämmer gäbe, auch unter denen gibt es Piraten, und auch unter den Weißen gibt es magisch begabte Personen. Eine Gut-Böse Polarisation hätte ich nicht gutheißen können. Die beiden Rassen teilen sich zwar in mehrere kleine Völker untereinander auf, aber im Großen und Ganzen gibt es eben nur zwei Machtblöcke. Wenn man sich erst einmal an den etwas antiquierten Schreibstil gewöhnt hat, ist die Geschichte gar nicht uninteressant zu lesen. Nicht der ultimative Bringer, aber auch nicht schlecht.

12. März 2024

Freitag, 12.03.2004 – Signorina, isch ’abe gar keine Telefon mehr

Filed under: Arbeitswelt,Japan,Manga/Anime,Musik,My Life — 42317 @ 7:00

Morgens fahre ich ins Book Off, um mich nach bestellten CDs umzusehen. Der Wind ist zeitweise recht kräftig und an vielen Abstellplätzen sieht man reihenweise umgewehte Fahrräder. Ich stelle mein Fahrrad entsprechend sicher auf, aber die Tüte, die die Trockenheit meines Sattels garantieren soll, fliegt während meines Aufenthaltes auf und davon. Ich sollte in Zukunft einen Knoten machen, um zu vermeiden, dass ich die Gegend so mit Müll verunstalte. Immerhin regnet es heute nicht, von daher komme ich ohne Tüte aus, bis ich im Supermarkt die nächste erhalte.

Ich kaufe den „Trigun“ OST „The first Donuts“, „Kenka Banchô“ von Miyamura Yûko und ein „Final Fantasy VII“ Lösungsheft für mich. Zum Verkaufen nehme ich mir ein „Weisskreuz“ Artbook und etwas, das ich zuerst für eine Anthologie von (no hentai) EVA Dôjinshi halte – es wird sich jedoch (nach dem Kauf) herausstellen, dass dieses katalogförmige Buch das Original ist – bis zum Kapitel Nummer 29, heißt das. Der „Shin Seiki Evangelion“ Manga ist nicht abgeschlossen, glaube ich. Warum also bringt jemand eine Anthologie heraus??? Ich bezweifle außerdem, dass ich das Buch je wieder loswerde… aber immerhin habe ich jetzt Gelegenheit, den Manga als Vergleich zum Anime zu lesen. Die Unterschiede fallen ja bereits im ersten Kapitel auf…
Für alle anderen bestellten Artikel mache ich erst einmal Notizen darüber, was überhaupt verfügbar ist und werde nachfragen, ob das so genehm sei. Oha, ich sehe da auch einen „Final Fantasy Tactics“ OST herumstehen… aber er kostet 3880 Yen. Nee, lieber nicht. Wenn ich mir je eine Gakuran leisten können will, muss ich eisern sparen.

Ich kehre zur Universität zurück und bleibe bis um Acht. Um etwa 17:00 kommt Misi, setzt sich auf einen Stuhl neben mir, und wird just in diesem Moment vom „York Cultural Center“ angerufen. Man bittet um meine Telefonnummer. Misi drückt mir das Telefon in die Hand und ich versuche, der Dame klar zu machen, dass mein Telefon seit neuestem gar nicht mehr funktioniert und sie mit der Nummer daher überhaupt nichts anfangen könne. Nein, ich kenne die Telefonnummer leider nicht auswendig. Wozu auch? Meine Argumentation stößt auf taube Ohren, oder aber meine Telefon-losigkeit ist derart außerhalb jeder japanischen Vorstellungskraft, dass man meine Aussage darüber schlicht nicht ernst nimmt. Aber gut, ich will nicht so sein. Morgen findet der Unterricht statt, dann bringe ich die Telefonnummer gerne mit. „Hm… in Ordnung. Aber kommen Sie auf jeden Fall und rufen Sie an, wenn irgendwas dazwischenkommen sollte!“ Aber eine Nummer, die ich anrufen kann, für den unwahrscheinlichen Fall, dass mir etwas dazwischenkommt, erhalte ich nicht. Macht nichts, ich könnte Misi danach fragen, aber ich sehe die Notwendigkeit nicht und lasse es sein.
Zuhause sehe ich mir die Lektion für morgen an und lese die vorherige und die nachfolgende gleich mit, nur für den Fall, dass es nötig sein sollte. Es könnte ja sein, dass ausnahmsweise einmal jemand Fragen zur letzten Lektion stellt, und es kann auch nicht schaden, wenn ich ansage, um was es in der nachfolgenden geht.
Das „York Cultural Center“ liegt übrigens im siebten Stock des Gebäudes, in dem sich auch das Kaufhaus Ito Yôkadô befindet. Man hat von da oben einen netten Ausblick auf die Stadt.

Abends höre ich mir die „Trigun“ CD an… die einzig brauchbaren Lieder sind „H.T.“ und „Kaze wa Mirai ni fuku“, die übrigen sind unbedeutende Hintergrundmusik. Die werde ich nicht behalten. Go, go, Power E-Bay… Die CD von Miyamura Yûko werde ich allerdings behalten. Denn wie ich bereits sagte: Die Frau kann nicht wirklich gut singen, aber ich mag ihre Stimme. Eigentlich paradox.

26. Dezember 2018

Op da schäl Seit (Teil 8)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 14:08

Das Jahr 2015 kann man mehr oder minder in Form von Kurzmeldungen zusammenfassen.

Am 8. April erfuhren wir, dass die europäischen Kartellbehörden dem Zusammenschluss von FedEx und TNT zugestimmt hatten. UPS war die Fusion zuvor verweigert worden, weil die Marktstellung von UPS in Europa bereits bedeutend war und ist. FedEx dagegen war zwar in den Vereinigten Staaten nahezu unschlagbar, aber in Europa eher unterentwickelt. Die fuhren mit kleinen Autos in der Gegend rum und lieferten kleine Paketchen und Umschläge aus, Paletten wurden bereits in vergangenen Jahren von Drittanbietern wie Transoflex zugestellt. FedEx würde in diese Ehe also das Kapital einbringen und TNT die Infrastruktur.

Ein bisschen unglaublich, wenn ich bedenke, dass ich und auch sonst kaum jemand eine Art Markenbewusstsein zum Thema TNT besaß. Die meisten Leute sind sich der TNT-Zusteller nicht bewusst. Die anderen Unternehmen mit den drei Buchstaben oder den Götterboten kennt fast jeder, aber TNT? Das hängt wohl damit zusammen, dass TNT immer eine Geschäftskundenstrategie verfolgte und sich aus dem Privatkundengeschäft heraushielt. Aber nun war TNT pleite und es war anzunehmen, dass FedEx den Laden entsprechend umkrempeln würde. Wir konnten gespannt sein, denn die Fusion würde sich nicht von einem Tag auf den anderen vollziehen. Die Verschmelzung sollte beginnend ab 2016 quasi von oben nach unten ablaufen und in vier Jahren mit dem Verschwinden des TNT-Logos auf den Zustellfahrzeugen abgeschlossen sein.

Wie es der Zufall wollte, schaffte es der UPS am 15. April wieder in die Schlagzeilen, und zwar mit der Meldung, dass auch der UPS in Zukunft mit Subunternehmern arbeiten wolle, anstatt ausschließlich auf eigene Fahrer zu setzen. War das bereits die erste Reaktion auf die zu erwartende Verschärfung der Konkurrenzsituation durch das Urteil der vergangenen Woche? Sollte sich das bewahrheiten, dann wäre es in absehbarer Zeit vorbei mit den geradezu traumhaften Gehältern bei UPS.

Am 19. April teilte mir Felix mit, dass er “wahrscheinlich” bald bei ToF raus sei. Da konnte man ihn nur beglückwünschen. Da er die täglichen Arbeitszeiten von 12 Stunden und mehr nicht mehr ertrug, war er in den letzten Tagen dazu übergegangen, nachmittags um Fünf Schluss zu machen und nach Hause zu fahren – was dazu führte, dass der “Rest”, der täglich im Auto verblieb, immer mehr wurde.
Das blieb dem Chefoberboss natürlich nicht verborgen und lud Felix zum Mitarbeitergespräch. Bei der Gelegenheit legte er ihm einen Wisch vor, den Felix unterschreiben solle und der sagte, dass er in Zukunft seine Tour ordentlich und vollständig fahren werde. Der Chefoberboss fügte mündlich hinzu, dass er an Möglichkeiten der Entlastung arbeite, und dass die Tour sehr wohl zu schaffen sei, Felix arbeite lediglich nicht optimal. Wenn man meinen Eintrag zu meiner ersten Fahrt mit Felix vergleicht, könnte man da glatt zustimmen, was die Effizienz seiner Arbeit betraf, aber es war ja auch de facto so, dass die Arbeitsbelastung spätestens seit 2013 deutlich zugelegt hatte. Felix unterschrieb das Papier natürlich nicht und wurde fristlos entlassen. Wie er nach Hause kommen würde, war dem Chefoberboss egal, und ich habe im Laufe der Zeit vergessen, wie er es geschafft hat.

Felix war jedenfalls nicht todtraurig über das, was geschehen war, und schlau genug, zu wissen, dass eine Kündigung auf schriftlichem Wege erfolgen musste, war er auch. Felix berichtete mir also, dass er nach dem Gespräch in Plaidt am kommenden Morgen sehr wohl in Metternich erschien, um seine Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen, auch wenn der Chefoberboss nicht amüsiert war, sein unerwünschtes Gesicht zu sehen und mit ihm diskutierte. Felix erhielt also schnell seine Kündigung in Schriftform und außerdem auch noch das ihm zustehende Gehalt. Es war scheinbar allen klar, dass er das Zurückhalten desselben nicht unangefochten hinnehmen würde.

Am 26. April jedenfalls schrieb er mir eine Nachricht, in der er mir mitteilte, dass er ab sofort bei der Post arbeiten würde. Nicht bei DHL, nicht bei irgendeinem windigen Subunternehmer, nein: Bei der Post selbst. Das sei gar nicht so einfach, erzählte er, und fügte hinzu, dass er seine Ausbildung vor knapp 20 Jahren bei der Post gemacht habe und auf diese Art und Weise hineingelangt sei. Felix genoss also ab sofort Tariflohn, Überstundenausgleich, Weihnachtsgeld, et cetera. Immer noch Pakete, aber, hey, die Post achtete darauf, dass ihre Angestellten in ordentlichen Verhältnissen beschäftigt waren. Ganz im Unterschied zu den “Servicepartnern” der Deutschen Post (die wir anderen auch hin und wieder “die Servicegefickten der Deutschen Post” nennen), die unter den gleichen, widerlichen Sub-Sub-Subunternehmerbedingungen arbeiten müssen, wie vermutlich 75 % aller Paketsklaven, um mal den Begriff Reinhard Schädlers zu verwenden. Na gut, Felix arbeitete auch einen Monat darauf noch 12 Stunden am Tag, aber das lag an der Gewöhnung an das neue Tourgebiet. Danach gingen die Arbeitszeiten zurück und er konnte sich gewissermaßen zurücklehnen.

Übrigens genießen Zusteller der Post einen bedeutend besseren Ruf als ihre Kollegen in anderen Unternehmen. Felix erzählte, dass es kaum zu glauben sei, wie oft man ihm neuerdings Trinkgeld gebe oder Snacks und Getränke anbiete, seit sein Hemd andere Farben hatte. Aber vielleicht sollte man auch anmerken, dass er auf Grund der geringeren Stressbelastung auch entspannter wurde und ein bedeutend ausgeglicheneres Wesen an den Tag legte, als das bis dato der Fall gewesen war. Ich gehe davon aus, dass auch dieser Umstand zu seinem Image bei Kunden beigetragen hat, denn er fuhr ja weiter an der Mosel, also quasi beim gleichen Menschenschlag wie zuvor, während ich die “Spendabilität” meiner neuen (TNT-) Kundschaft mutmaßend auf die angenehmere Umgänglichkeit der Rheinländer zurückgeführt hatte.

Am 8. Mai, einem Tag, der in der Geschichte Deutschlands mehrfach auftaucht, kam es – ohne meine Beteiligung – zu einem Unfall an der B42-Ausfahrt Rhöndorf (wo übrigens Konrad Adenauer und Peter Scholl-Latour bis zu ihrem Tod gelebt hatten). Die Fahrtrichtung Königwinter war komplett gesperrt und der Verkehr bahnte sich seinen langsamen Weg durch Königswinter. Das hat sicherlich niemandem Spaß bereitet.

Am 1. Juli traf sich der Tourenfürst mit seinen Fahrern im Konferenzraum der Niederlassung, um Möglichkeiten zur Verkürzung der Arbeitszeit zu erörtern, ein freies Brainstorming, das natürlich niemand außer mir im Raum so nennen würde. Burrito hatte ein paar interessante Ideen, die das stärkere Ineinandergreifen von Touren beinhaltete, auf der Grundlage, dass die einen sich auf Zusteller konzentrierten und die anderen auf Abholer, sodass erstere früher nach Hause fahren und letztere später anfangen konnten. Ein interessanter Plan, der noch etwas Ausarbeitung brauchte, denn man sollte nichts unversucht lassen.

Zwei Tage später schaffte ich es tatsächlich erstmals (!) meine gesetzlichen Lenkzeiten einzuhalten… na ja, fast. Ich konnte nach neun Stunden Feierabend machen, aber das Konzept der Pause nach 4,5 Stunden sollte immer noch (und weiterhin) ein schönes, aber unerreichbares Ideal bleiben. Ob der schöne Tag an einer organisatorischen Umstellung oder an anderen Umständen lag, konnte und kann ich nicht sagen, was man aber klar festhalten kann, ist, dass diese ganze Diskussion um legale Arbeitszeiten an der Stelle angefangen hatte, wo der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland eingeführt worden war. Aus Angst vorm Zoll, der vielleicht gerade in der Zeit nach der Umstellung sicherlich mal genauer hinsehen würde, wurden bedeutende Teile des ausbeuterischen Systems über den Haufen geworfen – auch, wenn es aus der Sicht des 3. Juli 2015 noch ein paar Monate dauern würde, bis es wirklich angenehm wurde. Aber: Auf einmal war es möglich – ohne besonderen Aufwand, ohne Geburtswehen, ohne plötzlichen Konkurs. Man hatte uns jahrelang belogen und Scheiße erzählt.

Am 4. August schieden zwei unserer Fahrer aus, was die Personalsituation deutlich verschärfte und wir fuhren weitgehend wieder im Rahmen der “alten” Arbeitszeiten, bis sich Ersatz fand. Es war auch der Tag, an dem meine Frau eine Stufe der Hierarchieleiter aufstieg und in deutscher Manier gleich ihr Bedauern wegen der gestiegenen Verantwortung gegenüber eigensinnigen und unwilligen Untergebenen zum Ausdruck brachte. Dass Ihr Gehalt spürbar steigen würde, wurde in ihrem Redefluss nur Nebensächlichkeit.

Am 7. August stellten wir fest, dass jemand die Schranke an der Einfahrt zum Depotgelände festgebunden und damit den Motor des Hebemechanismus gehimmelt hatte. Niemand gab die Tat zu. Hätte mich auch gewundert. Das eher paranoide Management glaubte an Sabotage, ich hegte im Stillen den Verdacht, dass der 25 Jahre alte Motor ohne Fremdeinwirkung mal wieder einen Durchhänger gehabt hatte und “auf Halbmast” hängen geblieben war, worauf ein Mitarbeiter der Frühschicht den Mast vermutlich aufgerichtet und fixiert hatte, um den LKWs die problemlose Durchfahrt zu ermöglichen. Der Mast wurde wieder entbunden, der Motor geflickt – und im Monat darauf war er wieder hin.

Am 10. August erreichten uns Neuigkeiten von Transoflex. Der Chefoberboss würde bei ToF aussteigen und in einer Übergangsphase seine rollenden Rostwannen an den Nachfolgeunternehmer vermieten, damit dessen Fahrer sich einarbeiten konnten. Das Angebot, die JP-Fahrer als Instruktoren noch ein paar Tage mit auf Tour zu nehmen, wurde abgelehnt; das neue Unternehmen hatte bereits alle notwendigen Stellen verplant und vertraute darauf, dass die eigenen Fahrer die Sache allein hinbekommen würden. Dass die JP-Fahrer daher ohne lange Vorwarnung erst mal ohne Beschäftigung waren, war natürlich schade, aber, ganz ehrlich: Als Paketfahrer ist man nicht lange arbeitslos.

Zwei Tage später war dann zu hören, dass ToF dem Chefoberboss gekündigt hatte, weil der seine quasi marktbeherrschende Stellung (als Arbeitgeber fast aller ToF-Touren) dazu hatte ausnutzen wollen, einen neuen Vertrag mit mehr Gewinnmarge herauszuholen. Scheinbar hatte er sich dabei verkalkuliert, dass der Schnelllieferdienst davor zurückschrecken würde, einen solchen derart gewagten Schritt zu gehen. JP als Monopolist und Erpresser ließen sie sich aber nicht gefallen und ließen den Vertrag auslaufen. Aus die Maus.
Da sich so etwas herumsprach, waren natürlich andere Fuhrunternehmen sofort darum bemüht, die nun freien Arbeitnehmer abzugreifen. Der Tourenfürst bat mich, bei zweien meiner Exkollegen anzufragen, aber Holterdipolter weigerte sich strikt: Für DEN werde er niemals arbeiten (Hibbel führte gegen den Tourenfürsten gerade einen Prozess vorm Arbeitsgericht wegen ausstehender Lohnzahlungen), und der König, herzensgut und treudoof, wie er nun mal ist, wollte lieber bei JP bleiben und in diesem Rahmen zu GLS wechseln. Schade.

Erstmal. Denn im Laufe der kommenden zwölf Monate fiel das Transportimperium komplett auseinander, bis der Chefoberboss, der mal allein mit ToF jeden Monat eine Viertelmillion Euro Umsatz gemacht hatte, mit seiner Tochter zu zweit in einer kleinen Wohnung über der Plaidter Werkstatt lebte, die nun seine alleinige Einkommensquelle war. Ich hörte etwa ein Jahr später, dass er sich darauf spezialisiert hatte, alte Autos vom Schrottplatz, also solche mit Oldtimer-Status, wieder aufzumöbeln und zu verhökern. Dass seine Familie auseinanderbrechen würde, hätte ich ihm nicht gewünscht, aber ich konnte ob seines Schicksals auch nicht sonderlich traurig sein. Auf den “König” komme ich dann nächstes Jahr wieder zu sprechen.

Am 13. August vergaß ich zwei Leisten der Firma Item im Depot. Langteile stellte ich innen neben das Rolltor, weil sie dort in der Nische nicht umfallen können. Prompt vergaß ich sie. Sie wurden dann bei der Lagerkontrolle natürlich gefunden und mussten noch vor 12 zugestellt werden, das heißt, ich musste am späten Vormittag mit Bleifuß zurück nach Urmitz fahren, die Leisten aufnehmen und zum Kunden bringen. Das kostete mich etwas mehr als eine Stunde Zeit, aber bemerkenswert war halt, dass ich dennoch um kurz vor Sechs zuhause war. Denn die Umstellungen zeigten langsam Wirkung.

Manche Fahrer wurden zu “Spättouren”. Deren Arbeitszeit begann erst um Acht und die Idee war, dass sie keine Expresse mitnehmen mussten, sofern nicht eine Zustellung für den frühen Fahrer, der wie üblich um Sechs anfing, völlig ungünstig lag. Und das funktionierte.
Der Tourenfürst hatte die Idee, dass auch ich spät fahren sollte, aber die Idee trieb ich ihm bald wieder aus, weil meine früh anwesenden Kollegen entweder lernunwillig oder egoistisch waren, man kennt das ja. Erstere kannten die Feinheiten des Gebiets nicht (wie die bereits erwähnte Trennung in Bad Honnef “oben” versus “unten”, deren jeweilige Straßen man schlicht auswendig kennen oder zeitaufwändig nachschlagen musste) und letztere machten sich keine große Mühe, die ihnen zugeteilten Pakete länger als fünf Minuten zu suchen. Beiderlei Verhalten sorgte dafür, dass Spättouren jeden Tag Zustellungen zu leisten hatten, die nicht in ihr Tourgebiet gehörten – und wegen eines Päckchens vom Rhein hoch zur Vogelsbitze und wieder runter zu fahren kostete mal eben eine Dreiviertelstunde. So blieben irgendwelche Pausen weiterhin eher dem Zufall überlassen. Ich protestierte und fuhr bald wieder früh, wo ich exakt unter Kontrolle hatte, welche Pakete ich einladen würde und welche nicht.

16. August 2018

Op da schäl Seit (Teil 7)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 18:52

Vom 28. Februar 2015 bis zum 9. März hatte ich Urlaub. Das ist an sich nichts bemerkenswertes, weil ich während meines Urlaubs in der Regel nichts bemerkenswertes mache. Aber der Urlaub, an den ich mich übrigens in keiner Weise erinnere und ich kann nur raten, dass ich mit meiner Frau D&D gespielt habe, war in einem Punkt ungewöhnlich: Aus irgendeinem Grund, dessen ich mich nicht entsinnen kann, hatte ich den Montag, also den 9. März, absichtlich mit eingeplant – und der Tourenfürst hatte es prompt vergessen. In aller Frühe klingelte also mein Telefon und er wollte wissen, wo ich denn bleibe. “Guck mal meinen Urlaubsantrag genau an, da steht der Montag mit drauf!” Es ist natürlich nicht so, dass diese kleine Peinlichkeit die einzige Unbequemlichkeit für ihn war, denn immerhin musste er spontan dafür sorgen, dass die Tour von irgendjemandem gefahren wurde. Ich habe die Umstände nie hinterfragt, aber falls am gleichen Tag der nächste Fahrer seinen Urlaub antrat, war möglicherweise einer zu wenig verfügbar. Aber irgendwie wurde das Kind schon geschaukelt, und meine Kunden sind auch immer dankbar gewesen, wenn mein Urlaub wieder vorbei war.

“Keshan” nenne ich einen Fahrer, der bereits seit einer Weile bei TNT und für den Tourenfürsten fuhr. Er wurde an anderer Stelle bereits kurz erwähnt: Ein sehr von sich selbst überzeugter junger Mann aus Pakistan, der einerseits sehr vernünftig sein, der einem andererseits aber auch sehr auf den Keks gehen konnte. So bezeichnete er sich selbst hin und wieder als “Nigger” und “Schwarzen”, bis ich in Anbetracht seiner tatsächlichen Hautfarbe mal die Bemerkung machte, dass er etwa so schwarz sei wie ein anatolischer Bauer. Sind braungebrannte anatolische Bauern in seinen Augen etwa ebenfalls “Nigger”? Ich meine, was soll der Quatsch? Ich hab keinen Bock auf solche pseudo-coolen Gespräche. Na ja, der musste am 13. März gehen – wegen Unterschriftenfälschung und wiederholter Beschwerden von Kunden wegen unhöflichen Verhaltens.

Eine Begebenheit will ich hier einstreuen, weil ich glaube, dass sie sich im Februar 2015 zugetragen hat. Seit einigen Wochen war ein neuer Fahrer da, ich glaube, seit Anfang Januar. Aufgeweckter Junge, aber aus irgendeinem Grund dennoch ein Versagertyp. Man verstehe mich nicht falsch, ich fand ihn nicht unsympathisch und sprach gern mit ihm. Er hatte nicht den verbreiteten vulgären Humor und verfügte über ein solides Allgemeinwissen und eine gute Auffassungsgabe. Lange danach hörte ich, dass er latent drogenabhängig sei und in einer stromlosen Holzhütte im Wald lebe, oder auch mal auf einer Matratze auf der Ladefläche schlafe, weil sein Geld durch Drogen und Glücksspiel nicht für eine Mietwohnung reiche. Das mit dem Wald und der Ladefläche kann wegen Augenzeugen als gesichert gelten, alles weitere ist bis auf weiteres als Gerücht zu betrachten.

Eines Morgens jedenfalls sprach er mich an und fragte mich nach meiner Meinung zu den herrschenden Umständen, vor allem im Hinblick auf die langen Arbeitszeiten, die scheinbar keinen kratzten und die von den meisten Fahrern auch noch mit vertuscht wurden, indem sie falsche Angaben im Fahrtenbuch machten, sie halfen also dem Arbeitgeber dabei, gesetzliche Regelungen zu umgehen, die dazu gemacht wurden, um sie vor dem Arbeitgeber zu schützen. Ich brachte meine Ablehnung zum Ausdruck, machte aber auch deutlich, dass ich nicht wüsste, wie man die Lage kurzfristig verbessern könnte.
“Warum gründen wir nicht einen Betriebsrat?” fragte er mich. “Wir sind genügend Leute in der Firma. So’n hellen Kopf wie Dich könnte man da gebrauchen. Und als Betriebsrat bist Du unkündbar.”
“Da hast Du Recht,” antwortete ich, “aber wenn Du solche Anstalten machst, hast Du den Job nicht mehr lange. Gegen derartige Mätzchen haben Arbeitgeber einen mächtigen Zauberspruch. Ich kann ihn auswendig: DER ARBEITSVERTRAG IST ZUNÄCHST BEFRISTET AUF EIN JAHR AB BEGINN SEINES INKRAFTTRETENS UND ENDET MIT ABLAUF DIESES DATUMS, OHNE DASS ES EINER GESONDERTEN KÜNDIGUNG BEDARF. Das heißt, wenn Du vor Erreichen Deiner Entfristung in 21 Monaten einen auf Rebell machst und Dich zum Betriebsrat wählen lässt, dann wirst Du in der Tat nicht entlassen – Dein Vertrag wird in neun Monaten einfach auslaufen und der Chef ist Dich und den Betriebsrat völlig legal los.”

Natürlich wurde aus der Idee mit dem Betriebsrat nichts, nicht zuletzt auch deshalb, weil sich der notwendige Dritte im Bunde nicht fand. Der Junge, der die Idee hatte, verschwand aus nicht näher bekannten Gründen ebenfalls im Laufe des Sommers wieder, am 4. August, um genau zu sein. Zwei Jahre später tauchte er kurz für ein paar Wochen wieder auf, mit einer Geschäftsidee im Kopf: Angesichts der Wohnungsknappheit wollte er in Schiffscontainer investieren und diese so herrichten, dass sie als Wohncontainer für Studenten vermietbar waren. Eine interessante Idee, aber sie scheiterte angeblich daran, das er sein Geld nicht zusammenhalten konnte und somit das Startkapital nicht zusammen kam.

Dann kam der 17. März. Ein bedeutender Tag, in gewissen Sinne. Da war was los auf dem Hof! “Der Kurze” war ein sehr hochgewachsener, schlanker Fahrer, und genau die Art Mensch, die ich nicht ausstehen konnte: Ein Großmaul mit “markant männlichem” Vulgärhumor, und er hielt sich für den besten und schönsten weit und breit. Eines Tages neckte er die Auszubildende, als diese in der Halle nach einem Paket suchte, worauf es zu einer nicht ernst gemeinten Rangelei kam, während der er sie von vorn mit beiden Armen um die Hüfte fasste und in die Höhe hob, was sie mit einem amüsierten Quieken kommentierte. Dann drehte er sich (und sie) ein paar mal im Kreis, bis ihm wohl schwindelig wurde, und er sagte: “Scheiße, ich kann nichts sehen, ich hab Deine Möpse im Gesicht!” Ja, so war er… Witzischkeit kennt keine Grenzen.

Ich hätte ihm seinen kecken Roger-Cicero-Hut regelmäßig in die Fresse stopfen können, gerade dann, wenn er damit prahlte, dass er während der Kneipentour am Wochenende mal wieder einen umgebügelt hatte, der ihm scheinbar auf die Füße getreten hatte, mit einer Beschreibung, wie genau er’s gemacht hatte. Ein echter Kotzbrocken, und unsere Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit. Was ich ihm getan hatte, ist mir allerdings nie klar geworden. Allerdings bin ich der Meinung, dass kein Mensch ganz schlecht ist. Er machte sein Ding, ja, aber er machte seine Arbeit gewissenhaft und gründlich, ließ sich von niemandem beirren. Irgendwo fand ich das schon auch cool. Homer und Marge pflegten ein gutes Verhältnis zu ihm und erzählten mir, dass er mehrere Instrumente spiele. Er hatte einen Youtube Kanal, wo er Videos hochlud, in denen der im Transporter während seiner Pausen Karaoke oder Acapella sang. Und wenige Jahre zuvor war ein beliebter Hallenmitarbeiter ums Leben gekommen und der Kurze hatte auf der gut besuchten Beerdigung ein Stück auf seiner Trompete gespielt.

Diese wenn auch zwiespältige Meinung hielt sich bis zu besagtem 17. März 2015.
Die Situation an der Rampe war zum fraglichen Zeitpunkt folgende: Mein Auto stand ziemlich am Ende der Laderampe, dann waren fünf Plätze frei, dann stand das Auto des Kurzen da. Er war eigentlich vor zehn Minuten bereits rausgefahren, hatte aber eine Sendung vergessen, war zurückgekehrt und stand der Einfachheit halber falsch herum an der Rampe, mit der Frontseite zur Halle hin also, sodass er erst ein Stück rückwärts fahren musste, um seinen aktuellen Parkplatz wieder zu verlassen. Wir stiegen etwa gleichzeitig in unsere Autos, ich fuhr zuerst los. Vielleicht suchte er noch Feuerzeug und Zigaretten, bevor er den Wagen anließ.
Ich fuhr über den frei einsehbaren Hof auf die Ausfahrt zu, der Weg führte an ihm vorbei, zwischen uns kein Hindernis, das seine Sicht erschwert hätte. Kurz, bevor ich ihn erreichte, sah ich seine Rückfahrleuchte aufblenden und ich dachte mir noch: “Der wird ja wohl jetzt nicht einfach losfahren?” Aber er tat’s trotzdem, als ich mit der Vorderachse gerade genau hinter ihm war. Ich drückte auf’s Gas und versuchte, mich auf die freien Stellflächen gegenüber der Rampe zu flüchten, aber er erwischte meinen Transporter dennoch auf Höhe des rechten Hinterrads.

Mein Radkasten hatte eine Beule nach außen, weil sein linkes, unteres Türscharnier sich darin verhakt hatte. Abgesehen davon war sein linkes Rücklicht kaputt. Der einzige Fehler, den ich in der Situation machte, war, das Auto nicht stehen zu lassen und Fotos zu machen. Aber hinter mir fuhr einer unserer LKWs heran, der raus wollte, also stellte ich den Sprinter erst mal beiseite und stieg aus, um mir den Schaden genauer zu besehen. Der Kurze schimpfte wie ein Rohrspatz, seine linke Hintertür war aufgegangen und schloss nicht mehr, weil das Scharnier verbogen war (er nahm später einen Hammer und schlug es wieder in Stellung, damit er endlich los konnte), und er überzog mich mit allerlei unhöflicher Rede, und behauptete, ich hätte noch schnell an ihm vorbeifahren wollen, obwohl ich doch hätte sehen müssen, dass er im Begriff war, loszufahren. Nachdem ich ihm eine Weile zugehört hatte, wollte ich gern wieder auf den Boden der Sachlichkeit zurück und sagte zu ihm ganz ruhig: “Mensch, Junge, beruhig Dich doch mal wieder…”
Da brüllt der mich an: “NENN MICH NICHT JUNGE!”

Hatte der einen Schuss weg? Das ist doch nur eine Redewendung, die nicht wörtlich zu nehmen ist. Ich habe einen kurzen Moment geglaubt, er würde auf mich losgehen… ich muss gestehen, dass ich ihm nach Monaten herablassender Behandlung gern beide Arme gebrochen hätte. Aber es kam ja nicht so weit. Diagnose des Laien: Minderwertigkeitskomplex auf Grund seiner herausragenden Körperlänge. Klingt paradox, kommt aber oft vor. Auch lange, dünne Kinder müssen sich dumme Sprüche und Spitznamen anhören. Der Befund würde jedenfalls seine zwanghafte Anwendung von Vulgärhumor erklären – es wäre der Versuch, sich selbst und andere auf diese Art und Weise davon zu überzeugen, dass er ein ganzer, ernst zu nehmender Kerl ist. Als ich später darüber nachdachte, hätte ich in mich hineinlachen können, denn ich habe es in keiner Weise nötig, irgendjemandendavon zu überzeugen, dass ich groß und stark und cool sei. Nein, der Kurze ist nicht cool. Alles nur Maske. Das war mir ab dem Tag klar.
Jeder schrieb einen Bericht und Zeugenaussagen wurden verglichen, die eindeutig zu meinen Gunsten ausfielen: Ich war im Schrittempo den Hof Richtung Torausfahrt hinunter gerollt und der Kurze war dagegen recht zackig aus seinem Parkplatz rückwärts heraus gefahren. Immerhin: Ein paar Wochen später war er wegen des Wechsels der Fuhrunternehmer nicht mehr da und mein Leben wurde wieder ein Stück entspannter. Im Herbst 2016 kam er zurück, was mich kurz beunruhigte, aber er machte nur Vertretung für jemanden, und das nur für eine Woche oder so.

Vielleicht fasse ich im Abschluss des heutigen Artikels kurz zusammen, was ich über den verstorbenen Hallenmitarbeiter gehört habe. Es handelte sich wohl um einen jungen Mann namens Ferhan. Darin mag ich mich irren, weil meine Kenntnis türkischer Vornamen nur rudimentär ist, aber lassen wir es mal so stehen. An den Rolltoren der Halle befinden sich Markierungen, die anzeigen, wie weit man die Tore hochfahren muss, damit der Stapler noch darunter hindurch passt – die Markierungen stammen von ihm. Ferhan wurde nicht alt, ich glaube 23 Jahre oder so in dem Dreh. Er war scheinbar ein intelligenter und charismatischer Typ, der großen Wert auf gutes Deutsch legte. So verbesserte er wohl immer wieder kolloquiale, sprich: grammatisch falsche Aussagen auch der biodeutschen Kollegen und Fahrer. Aber er war ohne Zweifel viel mehr als ein Klugscheißer, denn wenn ich heute, in der Zeit, wo ich diese Zeilen schreibe, von ihm höre – und man redet in der Tat noch hin und wieder von ihm – dann sprechen die Leute mit Respekt oder mit einem Lächeln im Gesicht von ihm. Anders wäre nicht zu erklären, warum der Friedhof die Zahl der Gäste, die ihm die letzte Ehre erwiesen, kaum fassen konnte, wo live Musik gemacht wurde und jemand 23 weiße Luftballons in den Himmel steigen ließ. Sowas macht man nicht für irgendeinen Typen aus der Lagerhalle.

Doch wie war es so weit gekommen? Die Geschichte ist schnell erzählt: Ferhan fuhr einen Smart Cabrio, und nach Darstellung derer, die ihn gekannt hatten, fuhr er bevorzugt ohne Sicherheitsgurt. Nach Feierabend war er vom Depot aus Richtung Mülheim gefahren, wo sich damals noch kein Kreisel, sondern eine Einmündung befand. Beim Linksabbiegen kam es irgendwie zu einem Unfall, Ferhan wurde aus dem Wagen geschleudert und zog sich schwerste Verletzungen zu. Er lag ein paar Tage lang auf der Intensivstation im Koma, schaffte es aber nicht. Ein Zeitzeuge meinte zu mir, das sei auch irgendwie besser für ihn gewesen, weil zu bezweifeln war, dass die Krankenkasse die Kosten seiner Behandlung übernehmen würde, weil er unangeschnallt unterwegs gewesen war. In einem solchen Fall können angeblich schnell hohe fünfstellige Beträge anfallen.

Man kann jedenfalls nur bewundernd festhalten, dass er seinen Mitmenschen positiv in Erinnerung geblieben ist, auch solchen, die gern nur schlechtes über andere Menschen reden, und ich muss sagen, dass ich ihn gern einmal selbst getroffen hätte.

15. Juli 2018

Op da schäl Seit (Teil 6)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 15:47

Es wurde November – der 17. November 2014, um genau zu sein. Verwunderlicherweise erschien die Firma Bluhm nicht in meiner Abholliste. Was war geschehen? Hatten die etwa so viel Zeug, dass stattdessen ein LKW die Sachen abholte? Nein, keineswegs. Stattdessen erfuhr ich auf Anfrage, dass Planungen im Gange seien, den dortigen Abholer ganz aus meiner Tour zu nehmen. Ja, und da dieser Abholer mich heute nicht aufhielt, war ich um 18 Uhr zuhause, also nach nur etwas mehr als 12 Stunden. Ich sagte ja bereits an früherer Stelle, dass man als Paketfahrer bescheiden in seinen Wünschen wird.
Am Folgetag machte die Dispo mir die offizielle Mitteilung, dass ich Bluhm nur noch eine Woche lang abholen müsse – na, dann mal ran. Am 25. November hieß es dann: “Noch drei Tage.” Und es wurde wahr. Diesen Abholer machte ab sofort der TNT Special Service. Das verkürzte meine Arbeitszeit gleich um ein gutes Stück. Ich will aber schon an dieser Stelle offenbaren, dass dies nicht mein Ende bei Bluhm war. Andere Dinge spielten da mit rein, die die Situation noch weiter verbessern würden.

Vorerst geschahen wenig auffällige Dinge. Der Tourenfürst veranstaltete am 29. November unsere Weihnachtsfeier – in einer Shishabar in ich sage mal nicht, wo. Gehört wohl seiner Mutter. Wir hatten das Hinterzimmer für uns und es war gerade so nicht zu klein für die Anzahl der Fahrer. Ich will den Nachteil, der mir meine Anwesenheit ziemlich anstrengend gemacht hat, als erstes nennen: Eine Shishabar ist ein Ort, dessen Zweck daraus besteht, dass dort geraucht wird. Kleiner Vorteil: Rauch aus Wasserpfeifen verursacht mir nur leichtes Unwohlsein, anders als trockener Tabakrauch, der dafür sorgt, dass ich mich wie ein Asthmapatient fühle und sich mein Magen bald entleeren möchte.
Das Gewinnspiel war… mittelmäßig. Ich glaube, am Ende gewann ich für irgendwas einen LED-Weihnachtsbaum für das Armaturenbrett. Den ich prompt an Ort und Stelle “vergaß”, und zum Glück hatte der Tourenfürst keine Erinnerung daran, wer ihn gewonnen hatte.
“Khan” war mit Frau und Sohn gekommen, interessanter Einfall. Meine Frau würde im Leben nicht freiwillig zu einer solchen Veranstaltung mitkommen. Khans statistisches Übergewicht beim Gewinnspiel machte sich auch gleich darin bemerkbar, dass er zwei Preise abstaubte, einen durch eigene Arbeit und einen durch eine gut geratene Schätzung seines Sohnes, von dem ich nicht sicher war, ob er sich an einem solchen Ort überhaupt aufhalten durfte; der war wohl 10 oder so.

Khan… ist ein an sich netter, aber durch niedrige Stressresistenz auch schwieriger Tournachbar. Ich fahre unten am Rhein, er fährt oben auf der Höhe, Windhagen, die Honnefer Dörfer, und so weiter bis rüber nach Asbach und Buchholz (Landkreis Neuwied), und damals waren die Tourgebiete ineinander greifender als ein Jahr später. Es wurde erwartet, dass wir bei Abholern, die uns zeitliche Schwierigkeiten bereiten würden, den entsprechenden Tournachbarn anrufen würden, ob der vielleicht effizienter zu dem fraglichen Kunden kommen würde. Idealerweise ein faires Geben und Nehmen, aber wir waren alle beide relativ neu (und Fairness war nicht in jedermanns Sinn verankert). Okay, ich machte meine Tour seit einem knappen halben Jahr und begann, irgendwie klarzukommen, er machte es erst seit vielleicht einem Vierteljahr und hatte Schwierigkeiten. Dennoch war es hin und wieder notwendig, dass ich ihn um die Übernahme eines Abholers bitten musste. Die Gemeinde Königswinter hat 20 km Durchmesser, und gerade in den Grenzregionen des Gebiets konnte es sich anbieten, dass der Nachbar sich um einen Kunden kümmerte. Ich habe mir auch immer Mühe gegeben, nur dann um solche Hilfe zu bitten, wenn sie wirklich notwendig war.

Soweit zum Ideal. Khan konnte die Entfernungen nicht abschätzen, also wie lange er brauchen würde, um von einem Punkt seines Gebiets an einen anderen zu gelangen. Das sind Erfahrungswerte, die sich nach einem halben Jahr oder so erst einstellen. Aber er war auch ein besonderer Fall von Stressanfälligkeit. Wenn ich ihn anrief und nach der Möglichkeit fragte, an meiner statt einen Kunden in zum Beispiel Rostingen zu bedienen, dann sagte er nicht “ja” oder “nein” – er erzählte mir quasi seine gesamte Lebensgeschichte diesen Tages, was schon alles mies gelaufen war und wieviel zu tun er noch hatte. Es war zum aus der Haut fahren; manchmal legte ich nach 30 Sekunden informationsfreier Darlegungen einfach auf. Er hatte nicht das Rückgrat, nein zu sagen, hatte aber auch nicht den Nerv, ja zu sagen und die zusätzliche Fahrzeit auf sich zu nehmen. Das hätte mir schon sagen sollen, was er für einer war, aber ich sah erst einmal nur die niedrige Stressschwelle.

Auf der Weihnachtsfeier unterhielt ich mich eine Weile mit ihm, denn wenn er nicht gerade von A nach B rasen musste, sprach er ruhig und langsam. Er hatte wohl Stress mit seinem Schwiegervater, der wohl damals Schnappatmung bekommen hatte, als ihm seine Tochter offenbart hatte, dass sie einen knapp zehn Jahre jüngeren Ausländer heiraten würde, den sie im Urlaub kennen gelernt hatte. Wenn ich die beiden so ansah, konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die zwei unterbewusst einen Deal zum gegenseitigen Vorteil geschlossen hatten. Sie schien nicht der Typ Frau, nach dem sich Männer auf der Straße umdrehen, und sie hatte die Mitte 30 schon hinter sich, als sie ihr Kind bekam. Er dagegen hätte nie eine bessere Chance bekommen, aus seinem Provinznest ins gelobte Deutschland zu kommen. Ich betone, dies ist meine subjektive Interpretation im Rahmen einer nur dreistündigen Beobachtung, man möge dies also bitte nicht für bare Münze nehmen.

Nun ja, die beiden lebten aus finanziellen Gründen in einer Wohnung im Haus des Schwiegervaters und Khan sagte, der Mann mache ihm das Leben zur Hölle, unter anderem, indem er seine Tochter, Khans Frau, unter dem Vorwand der Bedürftigkeit an sich fesselte und ihnen fast jede Privatheit unmöglich machte. Sein Stressfaktor war also auch zuhause schon beachtlich, wie mir schien, dabei ist es bei stressiger Arbeit notwendig, einen Ruhe- und Erholungspunkt zu haben.
Anyways, diese und noch einige Details mehr raunte er mir quasi am Rande der Feier zu und bat gleichzeitig darum, dies nicht weiterzuerzählen, was ich versprach. Ich spielte sogar mit dem Gedanken, ihn mal mit Familie an einem Wochenende einzuladen, für eine kleine Auszeit sozusagen.
Vermutlich hätte ich dies auch getan, wenn ich nicht im Laufe der darauf folgenden zwei Wochen oder so herausbekommen hätte, dass er die Geschichte so ziemlich jedem erzählt hatte, der ihm mitfühlend sein Ohr geliehen hatte, und diese Personen haben sich nicht darum geschert, trotz Khans Bitte, wie ich vermuten möchte, die Geschichte niemandem sonst anzuvertrauen.
Also nicht einfach Stress, sondern tief verwurzeltes Selbstmitleid. Na gut, was soll’s, Khan blieb eh nicht mehr lang.

Zum Glück erhielt ich Gelegenheit, noch mit anderen Leuten zu plaudern. Nennen wir sie mal Homer und Marge, ohne wirklichen Zusammenhang mit den Simpsons. Die beiden waren vor nicht allzu langer Zeit zum Tourenfürsten gekommen, waren aber alte Veteranen im Depot und schon Jahre für einen im Herbst abgesprungenen Unternehmer gefahren. Die beiden waren Fans des Kölner FC und verbrachten Wochenendjobs auf dem Nürburgring, als Parkeinweiser, Platzwarte, und was es da sonst noch gab. Abseits von der geforderten Arbeitsleistung könne man den Rummel dort sehen und bekam auch noch Geld dafür. Lustig fand ich die Geschichte, wie die beiden sich kennen lernten: Er war damals frisch ausgelernter Straßenbauer, sie noch Schülerin. Während eines Ausbesserungsauftrags am Gehweg, just vor ihrer Haustür, hatte er sie wohl entdeckt und beschlossen, sie auf sich aufmerksam zu machen. Also rückte er mit einer motorisierten Asphaltsäge an, am frühen Samstagmorgen, und begann, am Gehweg zu sägen. Die so aus dem Schlaf gerissene erschien am Fenster, bedachte ihn mit allerlei vulgären Schmähungen und warf schließlich mit einem Eimer Wasser nach ihm. Irgendwie vollbrachte sein gewinnendes Wesen den Rest, bis sie ihn ein paar Jahre später heiratete.

Am 1. Dezember stellte ich ein teures Nachnahmepaket bei einem Privathaushalt zu, um bei der Rückkehr zu bemerken, dass der Kunde mir einen 50-Euro-Schein zu viel gegeben hatte. Wäre natürlich ein schönes Trinkgeld, aber… man soll nicht fies sein. Ich brachte das überzählige Geld am Folgetag zurück und erhielt ein kleines Weihnachtsgeschenk; ich weiß nur schon nicht mehr, was es war.
Ebenso am diesem 2. Dezember entdeckte ich ein Handy auf der Straße in Bad Hönningen. Ich hielt kurz am Straßenrand bei der Bahnüberführung an und sammelte das Ding ein, ein unbeschädigtes Smartphone mit Gebrauchsspuren, genauer ein iPhone mit 16 GB Speicherplatz. Interessanterweise war es nicht durch ein Passwort oder ähnliches geschützt und ich konnte auf alle Daten zugreifen. Das heißt, ich hätte können, wenn mir klar gewesen wäre, wie man so ein Ding bedient. Mein erster Gedanke war, im Adressbuch nachzusehen, ob da sowas wie eine “Zuhause” Nummer gespeichert war, oder irgendjemanden in der Liste anzurufen, um über diese Ecke den Besitzer benachrichtigen zu können. Aber – ich hatte keine Ahnung und die vielen Symbole verwirrten mich, was mich selbst unangenehm überraschte. Ich legte das Ding auf den Beifahrersitz und dachte über das Problem nach, während ich meiner Arbeit nachging. Der Besitzer allerdings löste das Problem, indem er mich (oder eigentlich: sich selbst) anrief. Ich musste ein paar Sekunden darüber nachdenken, wie man mit einem solchen Gerät ein Gespräch annahm, erinnerte mich aber schnell genug daran, wie ich das Verfahren bei meiner Frau beobachtet hatte. Ich wischte den blinkenden Knopf beiseite und sprach daraufhin mit einem sehr erleichterten Herrn, den ich kurz darauf in der Nähe seines Wohnhauses traf. Er sagte, er habe sich die vergangenen zwei Stunden nach dem Bemerken des Verlusts große Sorgen gemacht, weil alle seine Geschäftsdaten auf dem Telefon gespeichert seien, und gab mir 30 Euro Finderlohn. ich würde das einen interessanten Tag nennen.

Den nächsten “interessanten” Tag hatte ich dann am 3. Februar 2015. Ich stand wie üblich um Viertel nach Vier auf, wankte erst ins Bad, zog mich an und schlurfte schließlich in die Küche. Ich hatte vergessen, Brot aufzutauen. Also kein Frühstück, stattdessen nur etwas Tee.
Um Fünf setzte ich mich dann in den Sprinter und rollte rückwärts von meinem Parkplatz über die Straße, um zu wenden, aber irgendwas war an der Rollbewegung seltsam. Ich stieg wieder aus und musste feststellen, dass der linke Vorderreifen platt war. Gut, ich hatte einen Ersatzreifen… aber nicht ausreichend Werkzeug. Ich hatte einen kleinen Wagenheber und einen Radschraubenschlüssel von der Länge meines Unterarms, dessen Hebelwirkung nicht ausreichte, um die Schrauben zu öffnen. Ich rollte also langsam und vorsichtig zur Tankstelle – aber die öffnete erst um Sechs, vorher hatte der Kompressor keinen Druck.
Der Tourenfürst schickte jemanden hoch, der Werkzeug brachte und mir beim Reifenwechsel half, aber es dauerte immer noch bis um Sieben, bis ich im Depot ankam. Bis dahin hatten andere Leute meine Pakete in eine Box geräumt, und ich musste erst mal die rausnehmen, die gar nicht in mein Tourgebiet gehörten.

Die Zuteilung der so genannten Cluster Codes ist älter als die gegenwärtigen Umstände. Im Laufe der Zeit hatte die zunehmende Frachtauslastung dazu geführt, dass sich die Gebietsgrenzen verschoben. Bad Hönningen hatte ursprünglich zu (Tourgebiet 101) Neuwied gehört, während die Dörfer parallel zur A3 oben einmal zu meinem Tourgebiet Honnef/Köniswinter gehört hatten. Es war für Anfänger sehr verwirrend, denn man musste gerade in Bad Honnef die Straßen quasi auswendig kennen, um zu wissen, welche Straßen oben in den Dörfern waren (Tourgebiet 103) und welche sich unten in der Stadt befanden (Tourgebiet 102).

Und weil das alles noch nicht reichte, um jenen 3. Februar zu was besonderem zu machen, fiel auch noch am Nachmittag das Datennetz von TNT aus. Dies führte zu einem Abholstopp, weil eingehende Aufträge nicht bearbeitet werden konnten, was den 3. Februar zu einem kurzen Arbeitstag machte – aber die Ware war ja nicht aus der Welt: Morgen würde es dafür um so mehr sein.

4. Mai 2018

Op da schäl Seit (Teil 5)

Filed under: Arbeitswelt,My Life — 42317 @ 18:11

Wir kommen zum Oktober 2014, und um zu sagen, was mittlerweile ja jeder, den es was angeht, weiß: Ich habe geheiratet. Bis dahin war es allerdings ein steiniger Weg. Weniger, was die Beziehung betrifft, deren steinigster Teil war der gemeinsame Japanaufenthalt. Und das ist ja nun eine Weile her. Nein, um eine Heirat beim Standesamt durchführen zu können, braucht man eine Reihe von Unterlagen, Auszüge aus dem Familienstammbuch, die in unserem Falle aus dem Saarland geschickt werden mussten, natürlich braucht man einen freien Termin, und all das muss von der Verwaltung länderübergreifend erfolgreich bearbeitet werden.

Die Sache haperte und stolperte vor sich hin. Wir begannen mit der Planung Ende Frühjahr oder Anfang Sommer. Ein halbes Jahr Vorbereitungszeit schien ausreichend. Zuerst einen Termin ins Auge fassen, den man als Verhandlungsbasis dem Standesamt nennen konnte: Warum nicht der 3. Oktober? Tag der deutschen Einheit, Feiertag, leicht zu merken. Hm, der war schon ausgebucht. Scheinbar waren eine Menge schnellere Paare auf die gleiche Idee gekommen. Blick in den Kalender: 3. Oktober 2014 war ein Freitag. Samstag, der 4. Oktober war doch auch nicht schlecht – Vier:Zehn:Vierzehn. Auch gut zu merken. Allerdings war das Standesamt unseres Doppeldorfs hier oben ebenfalls ausgebucht. Vallendar unten am Rhein hatte noch was frei, morgens um Zehn. Eine gute Zeit, genügend Zeit für letzte Vorbereitungen am Morgen. Wenn da nicht… na ja, später.

Erst einmal die verwaltungstechnischen Aspekte. Die Zusendung der Akten von den Ämtern zuhause verzögerte sich dermaßen, dass man uns in Vallendar wohlwollend einen Aufschub über die eigentliche Einreichungsfrist hinaus gewährte. Dann musste einer von uns persönlich erscheinen, um Unterschriften zu leisten und die Trauung selbst als finalen Verwaltungsakt in Gang zu setzen, was meine baldige Frau an einem ihrer freien Mittwoche erledigte. Das wäre auch ganz einfach gewesen, wenn nicht just an dem Tag ein Software Update in der Gemeindeverwaltung fällig gewesen wäre. In Folge waren Computer als Mittel der Datenverarbeitung nicht verfügbar. Es entspann sich ein fast vorzeitlich anmutender Gang durch verschiedene Büros, der das gewünschte Ergebnis eben in Papierform erreichte.

Als dies erreicht war, bekamen wir Post vom Vallendarer Standesamt, in der der Termin bestätigt wurde und man uns zu unseren Wünschen und Vorstellungen bezüglich der Zeremonie befragte. Dazu gab es einen kleinen Fragebogen, der auch die konkrete Frage enthielt, warum wir uns für den jeweils anderen entschieden hatten. Ansonsten von formaler Bedeutung war für uns die Feststellung, dass wir beide Atheisten sind und dass wir daher keine religiösen Formeln benötigten. Der Weg war geebnet, der Termin konnte kommen.

Ja, nun war Glück ja noch nie Teil meiner Biografie, wenn es um bedeutende Dinge geht, mal abgesehen von einem Tag im Herbst 1989, als ich feststellte, dass das Mädchen, in das ich verschossen war, sich auch für mich interessierte, und dem Tag ein halbes Jahr später, der zufällig auch der Tag war, an dem sie sich wieder von mir trennte, an dem ich einen Hundertmarkschein auf der Straße fand. Und binnen Wochen komplett verfraß. Egal, ancient history. Im Juni hatte ich angefangen, Pakete im Auftrag von TNT rumzufahren, und da die Reihe der Touren immer schön regelmäßig durchgegangen wurde, hatte ich immer am dritten Samstag im Monat Dienst. Also: Kein Problem. Bis am Morgen des 4. Oktober mein Telefon klingelte und Jim mich fragte, wo ich denn bleibe? Ich teilte ihm mit, dass ich um 10 einen Termin beim Standesamt und deshalb keine Zeit hätte. In dem halbschlafenen Zustand dachte ich noch, man fordere mich auf, als Ersatz einzuspringen. Zehn Minuten später klingelte das Telefon erneut. Der Tourenfürst. Ich stehe für heute auf dem Plan, ob ich denn nicht mal einen Blick darauf geworfen habe? Mein Einwand, dass ich doch sonst auch am dritten Samstag dran sei, brachte mir nichts, ich stand auf dem Plan, weil der Malchik ausgerechnet ab Oktober Änderungen vorgenommen hatte. Der Tourenfürst versprach, mir angesichts meines Termins nur Ziele in der näheren Umgebung zuzuteilen, damit ich spätestens um neun Uhr durch sein könne.

Ich kam also eher schlecht gelaunt etwa um sieben Uhr in die Halle und fand als erstes einen Pfandflaschenzerquetscher für einen Discounter in Bad Honnef vor – auf der Rottbitze. Erstens würde ich allein für die Fahrt hin und zurück etwas mehr als eine Stunde brauchen; zusammen mit den anderen Zustellungen im Bereich Neuwied, Bendorf, Vallendar und Urbar müsste ich dann schon Glück haben, wenn ich bis halb Zehn fertig werden würde. Habe ich gerade eben tatsächlich “Glück” in Erwägung gezogen? Zweitens handelt es sich bei diesen Flaschenquetschern um kompakte Maschinen aus Stahl in der Größe eines professionellen Werkzeugkastens, die einer allein nicht mal eben aus dem Auto auf die Rampe hebt, die diese Discounter in der Regel haben. Deswegen klebt ja auch ein Schildchen drauf, “Bitte mit Hebebühne zustellen”. Die werden aber grundsätzlich in die Kleintransporter geladen, denn wenn man nur drei LKWs zu je 7,5 t in einem Dreieck zwischen Wittlich, Limburg und Königswinter fahren hat, dann ist Stellplatz wertvoll und wird für Ware, die nicht in die Ballungszentren geliefert wird, vorzugsweise für übergroße Sachen vergeben, oder für solche ab 300 kg aufwärts. Die Kleintransporter fahren ihren Teil an Paletten und schwerem Zeug, oft in der Hoffnung, dass der Empfänger ein Hilfsmittel zum Abladen hat.
Ich beschwerte mich beim Tourenfürsten über diese Zuteilung.
“Dann ruf bei der Dispo an und sag denen, dass Ihr das Teil nicht abgeladen bekommen habt.”
Genau das tat ich, aber natürlich war es hinfällig, zu behaupten, ich sei überhaupt dort gewesen, in der kurzen Zeit, die vergangen war. War mir aber egal, ich würde dort nicht hinfahren, die könnten ihren Crusher auch noch am Montag einbauen. Ich musste auch so schon auf die Tube drücken, um mit der Zeit hinzukommen. Der letzte Stopp war ein kleines Restaurant in Urbar, das eine Lieferung eisgekühlter Ware erhielt. Allerdings war wohl jemand unachtsam damit umgegangen, ich würde annehmen: Styroporkiste ohne Sinn und Verstand unter etwas schweres in der Transportgitterbox gelagert. Der Kunde beschwerte sich bei mir über den Zustand, aber ich hatte überhaupt keinen Nerv, Dinge zu diskutieren, für die ich nichts konnte, und eine schnelle Untersuchung des Inhalts ergab, dass nichts angetaut war, das Problem war de facto also ein rein ästhetisches.

Als ich dann endlich zuhause war, reichte die Zeit noch zum Waschen und Rasieren, aber mit Haareschneiden war nichts mehr. Ich warf mich in meinen einzigen und Lieblingsanzug, dann konnte es endlich losgehen. Unsere Trauzeugen zum Ort des Geschehens zu lotsen machte überraschenderweise keine Probleme, mal abgesehen von meinem Trauzeugen und dessen Frau, die bei der Berechnung von Zeitfenstern regelmäßig daneben liegen und sich dann gegenseitig die Schuld zuweisen. In dieser Hinsicht ein wahres Duo Infernale. Aber es klappte ja.

Die Zeremonie war wohltuend simpel, dabei in einem Maße feierlich, das mir gefiel, und unfreiwilliger Humor wurde von der Gattin meines Trauzeugen beigesteuert, die, in ein bayrisches Dirndl gekleidet, die Eventfotografin mimte, und das mit einer solchen Hingabe, das die Standesbeamtin irgendwann einhakte, ob sie jetzt nicht so langsam genügend Bilder gemacht habe. Ich glaube, das einzige, was sie nicht versucht hatte, war, sich an den Deckenleuchter zu hängen, um ein paar Aufnahmen aus der Vogelflugperspektive zu machen. Ich fand das witzig.

Das Wetter war so gut, wie man es sich für einen Hochzeitstag nur wünschen konnte. Strahlend blauer Himmel, kein Wölkchen in Sicht. Nachdem wir unsere Unterschriften geleistet hatten, gingen wir auf den Vorhof raus und machten noch ein paar Fotos mehr. Leider überzog ihre Kamera alle Bilder mit so einer Art Blaustich, und der Profi würde sagen: Da hat der Skylightfilter gefehlt. Ein solcher zart rötlicher Filter verhindert Blaustich bei hochstehender Sonne an strahlend blauem Himmel. Na ja, hinterher ist man immer schlauer und ich kann mir schlimmeres vorstellen als Bilder mit Blaustich.

Wir hatten im Vorhinein ein Restaurant mit guter Küche ausgewählt und das war eigentlich durch reinen Zufall geschehen. Als Zugezogene haben wir nicht die über Generationen angesammelte Ortskenntnis, die man braucht, um zu wissen, wo man gut aufgehoben ist und wo nur so getan wird, um es überspitzt auszudrücken. Ich fragte meine Vermieterin, deren Familie alteingesessen ist, per E-Mail und erhielt auch eine Antwort. Allerdings verschrieb sie sich in der Angabe des Namens, wodurch ich auf “Mein Koblenz” kam, ein Restaurant in der Altstadt (das leider zwei Jahre später wieder zumachte, was mich zur Suche nach einem würdigen Ersatz für unser Weihnachts- und Hochzeitstagsessen zwang). Somit bestand unsere Hochzeitsfeier aus einem gemütlichen Essen zu sechst, und im Anschluss besuchten wir noch die Reiterstatue Wilhelms I. am Deutschen Eck und machten noch mehr blaustichige Fotos.

Was denn – keine große Runde, um alle an dem freudigen Ereignis teilhaben zu lassen? Nein, uns war nicht danach. Das mag so manchem geradezu ketzerisch vorkommen, aber sowohl meine Frau als auch ich sind Leute, die in erster Linie ihre Ruhe haben wollen und jederlei Trubel vermeiden möchten, auch, wenn die Gelegenheit so fröhlich zu sein scheint, wie eine Hochzeitsfeier mit allen Freunden und Verwandten. Letztendlich handelt es sich bei solchen Feiern um einen anstrengenden Kraftakt, der eine Menge Vorbereitungszeit und Nerven kostet, von den Kosten ganz zu schweigen.

Um Unruhen gleich im Keim zu ersticken und Überraschungen vorzubeugen, erzählten wir im Vorfeld niemandem von unseren Plänen. Nur unsere Trauzeugen und deren Partner erfuhren davon. Nach dem Termin verbrachte ich Wochen damit, schriftlich “Bescheid” zu sagen und ließ mir zum Teil viel zu viel Zeit. Aber immerhin machte ich mir die Mühe – anders als ein Jemand, der ein paar Jahre zuvor nicht das Rückgrat gehabt hatte, für seine Entscheidung einzustehen, und von dessen Hochzeit ich eher zufälig von einem gemeinsamen Freund erfuhr, der es auf die kurz gehaltene Gästeliste geschafft hatte. Dabei wurde ich mir einer Hierarchie meiner persönlichen Kontakte bewusst, die ich vorher nie so wahrgenommen hatte. Ein enger Kreis von Personen – Familie und beste Freunde – erhielten ein handschriftliches Schreiben in Briefform, in dem ich meine Gründe darlegte, heimlich zu heiraten und warum ich den und nicht sie als Trauzeugen ausgewählt hatte. Ein zweiter Kreis von Personen, die mir am Herzen lagen, erhielt eine Postkarte. Ein dritter Kreis erhielt eine E-Mail. Das schloss leider auch Personen ein, deren Postanschrift ich nicht kannte, also Leute, die eigentlich eine Postkarte hätten bekommen müssen, aber das war nicht zu ändern. Bis auf eine oder zwei Personen im Umfeld meiner Frau murrte niemand ob dieser Vernachlässigung und zeigte Verständnis. Das erleichterte mich natürlich ungemein, aber ich weiß auch nicht, ob ich dieses soziale Risiko eingegangen wäre, wenn nicht einer meiner Freunde der DSA-Runde bereits denselben Stunt gezogen hätte. Wir hatten damals ein offenes Gespräch darüber geführt, das mich sehr ermutigte.

Zu guter Letzt sei noch ein Punkt erwähnt. Als es darum ging, mich bei Tof abzuziehen und für TNT anzuheuern, sagte der Tourenfürst in Bezug auf das zu erwartende Einkommen, wenn ich heirate, würde ich noch mehr bekommen. Er meinte damit natürlich nicht, dass er mir in dem Fall einen Bonus zahlen würde, ich bekam von ihm keinen Cent mehr deswegen; was er meinte, war, dass ich in eine günstigere Steuerklasse rutschen würde. Ha-Ha.

1. Januar 2018

Op da schäl Seit (Teil 4)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 20:53

Ich präsentiere an dieser Stelle ein paar Fotos, die ich im Sommer 2014 gemacht habe. Streng genommen habe ich die ersten beiden noch als Transofahrer gemacht.

Wie man sieht, ist es von Bitburg nicht weit bis nach Gondor.

Da wundert es einen wenig, dass auch ein berühmter Zwerg in der Nähe lebt: Das Grab in Khazad-dûm ist offenbar eine Fälschung, denn Durin hat sich lediglich in Neidenbach aufs Altenteil zurückgezogen.

In Königswinter fand ich den folgenden Handwerksbetrieb, und ich muss sagen, dass ich den Namen etwas unvorteilhaft finde; wer will schon “Ochsenfurz” heißen?

Im Juli traf ich im Industriegebiet auf eine Angestellte, die ich sofort bitten musste, ihr Auto fotografieren zu dürfen:

Und von hinten:

Und wenn ich schon bei Anime-Referenzen bin, musste mir dieses Fahrzeug doch ebenfalls auffallen:

Hier ein Blick ins Rheintal oberhalb von Linz, in der Nähe des Krankenhauses. Auf den Höhen war das schönste Wetter, aber der Rhein kochte eine dicke Suppe aus, die einem auf Uferhöhe eine Sichtweite von weniger als 100 m bescherte.

Mein altes Navi, das ich vom Großvater übernommen hatte, starb in dem Jahr einen langsamen Tod. Die Antenne, die Verbindung zum GPS-Satelliten hielt, versagte immer mehr den Dienst. Da kamen dann solche Kuriositäten raus:

1193046 Stunden sind übrigens 136 Jahre, zwei Monate, neun Tage und sechs Stunden.
Das überträfe sogar die ollen Israeliten, die damals, beim Exodus aus Ägypten, für die 420 km (Luftlinie) vom Nil bis nach Jerusalem knapp 40 Jahre gebraucht haben.

Zuletzt eine kulinarische Angelehenheit:

Dieses konkrete Schild steht jedes Jahr vor einem Restaurant in Bad Honnef, aber eine Anzahl weitere in der ganzen Gegend verheißen einfach nur frische Pfifferlinge. Irgendwann konnte ich mich des Gedankens an eine schmackhafte Soße nicht mehr erwehren und betrat ein kleines Lokal mit einem entsprechenden Werbeschild. Ich ging zur Bedienung fragte nach den Pilzen. Die verstand erst gar nicht, was ich von ihr wollte und rief den Chef herbei. Nach ein paar weiteren Sätzen klärte sich das Missverständnis: Lokale mit der Werbung “Frische Pfifferlinge” (und deren Abarten) verkaufen keineswegs frische Pfifferlinge, sondern zum Beispiel Schnitzel mit Pommes, die man mit einer Soße übergießt, in der eben jene Pilze zu finden sind. Zum Hinsetzen und Schnitzel essen hatte ich in jenem Jahr allerdings noch keine Zeit.

Am 15. September 2014 kam es zu einem tödlichen Unfall auf der Bundesstraße bei Bad Hönningen, direkt auf der Brücke, die das Dorf überspannt. Die Situation ließ es zu, die Bundesstraße einspurig um den Unfall herum zu leiten und die Polizei winkte den Verkehr hin und her. Als ich vorbeifuhr, es könnte kurz nach acht Uhr morgens gewesen sein, waren die beteiligten Fahrer bereits vom Rettungsdienst abtransportiert, die Spurensicherung war beendet und die Fahrzeuge warteten noch darauf, abgeschleppt zu werden. Als die Fahrzeuge am Nachmittag weg waren, konnte sich auch ein Laie ein genaueres Bild vom Unfallhergang machen.

Wie es der Zufall will, existieren noch Fotos einer Lokalzeitung im Internet:

Wie man sehen kann, handelt es sich wohl um einen getunten Polo. Schlussfolgerung: Der Fahrer verließ sich auf dem Weg zur Arbeit blind auf die Beschleunigungsfähigkeit seines Fahrzeugs und rechnete mit einem kurzen Überholvorgang. Auf dieser Brücke herrscht allerdings Überholverbot, und das aus gutem Grund: Wie man hier sehen kann, verläuft die Brücke in einer Rechtskurve:

Und als ob das noch nicht genug wäre, befindet sich am rechten Fahrbahnrand eine Lärmschutzwand:

Anhand der Linien, die von der Polizei auf die Straße gesprüht wurden, und der Bremsspuren, anhand deren Breite man feststellen konnte, zu welchem der beteiligten Fahrzeuge sie gehörten, stellt sich mir die Angelegenheit folgendermaßen dar:

Der Fahrer des Polo fuhr in Richtung Linz und wurde im Vorfeld der Brücke möglicherweise von einem in gleicher Richtung fahrenden LKW aufgehalten. Über die Häufigkeit solcher Fahrzeuge habe ich ja bereits früher ein paar Worte verloren. Im Vertrauen auf den kurzen Überholweg, den sein Polo wohl üblicherweise nur brauchte, setzte er zum Überholen an, obwohl er unmöglich sehen konnte, ob ihm ein Fahrzeug entgegen kommt. Einen Pkw hätte er allein wegen der Lärmschutzwand nicht sehen können, aber einen Scania hat vermutlich das Fahrzeug verdeckt, das er überholte, deswegen schließe ich auf einen LKW. Erst mitten in der Kurve und längst ohne Ausweichmöglichkeit bemerkte er den Scania und trat voll auf die Bremse – zu spät. Die Bremsspur des Polo war ungefähr einen Meter lang und befand sich in seiner Fahrtrichtung HINTER der noch kürzeren Bremsspur des Scania. Der Fahrer des Lastwagens hatte also später reagiert, hatte erst die Bremse durchgetreten, als der Polo bereits mit ihm kollidiert war und das kleine Auto im Aufprall zwei Meter weit zurückgeschoben.
Wenn man bedenkt, dass die kombinierte Geschwindigkeit der beiden Fahrzeuge bei schätzungsweise 200 km/h lag, muss man den gering anmutenden Schaden am Scania fast bewundern.

Am 29. September veranstaltete der Tourenfürst ein so genanntes Geschäftsessen mit seinen Fahrern, dessen Anlass einem nicht sofort klar wurde. Das betraf etwa 15 Personen (drei oder vier Leute von Transoflex waren mit dabei) und er kam noch am selben Tag auf die Idee, zu fragen, wo man denn hingehen könnte. Erster Vorschlag: Ein italienisches Restaurant am Rand des Industriegebiets Mülheim-Kärlich. Der Italiener hatte aber weder die Parkplätze noch die notwendigen Tische für den unangemeldeten Andrang. Ich verwies auf das “China Town” mit seinem chinesischen Büffet 500 m weiter, ein großes Lokal mit vielen Sitzplätzen, wo auch das Essen ganz gut war.
Wir aßen also erst einmal in aller Ruhe.
“Warum schmecken die Frühlingsrollen so komisch?”
“Weil da Schweinefleisch drin ist.”
“Dein Gott verzeiht Dir bestimmt, Du hast es ja nicht gewusst.”

Wenn man den Geschmack aus kulturellen Gründen nicht gewohnt ist, kann er einem sicherlich unangenehm auffallen. Für mich ist Schweinehack das Normalste, was ich mir als Zutat denken kann, mir wäre “verstecktes” Schweinefleisch im Leben nicht aufgefallen.

Der Tourenfürst erkundigte sich nach den Meinungen, was gut laufe und was schlecht laufe, und wie man die schlechten Dinge verbessern könne, um zu einem effizienteren Betrieb zu finden. Mir wollte nichts einfallen, worauf er einen Einfluss haben könnte, denn die Abholzeiten in Rheinbreitbach mussten vorverlegt werden und der tägliche Verbrauch von etwa 10 Seiten Papier mitsamt dem Ausfüllen der Tagesberichte schmeckte mir auch nicht wirklich. Er könnte bestenfalls darauf achten, nicht zwei unerfahrene Fahrer gleichzeitig in Nachbargebieten einzusetzen. Ansonsten das gleiche Lied: Eine Tour mehr würde unsere überspannte Wochenarbeitszeit bedeutend entlasten, aber: Ein Fuhrunternehmer setzt nicht mehr Fahrzeuge ein, als ihm der Auftraggeber auch bezahlt – koste es, was es wolle, so paradox das klingen mag.

Zu guter Letzt versprach er Prämien: 50 E für jeden Fahrer, der im Laufe eines Monats keine Terminzustellungen platzen ließ. Und er würde auch Wort halten, wenngleich der Zeitraum, von dem er sprach, bis zum Ende der Weihnachtssaison begrenzt sein würde. Es spornte die Leute an, besser zu planen. Der Tourenfürst sparte dadurch hunderte Euro Vertragsstrafen, die für Terminverletzungen fällig gewesen wären, und ich konnte nur darüber schmunzeln, wieviel mehr Motivation allein die Aussicht auf knapp 2,30 Euro mehr am Tag auslöste.

Um was es wirklich ging, kam erst später heraus: Wie es schien, hatte sich der Tourenfürst mit seinem Mentor – JP Transporte – überworfen. In Folge dessen hatte er eine Menge Geld verloren, worauf er sich von JP löste und seine Firma neu gründete (wenige Wochen später ließ er uns gleichlautende Verträge mit neuer Firmenanschrift unterzeichnen), ein Umstand, der auf mich bezogen noch von Bedeutung sein und wiederum mich eine Menge Geld kosten würde.

24. Oktober 2017

Op da schäl Seit (Teil 3)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 16:39

3. Juli 2014
Ich lernte durch Schmerz – zum Thema Arbeitsteilung. Auch nach Wochen mit dem Hübschen wusste ich noch nicht auswendig, welche Kunden in Königswinter zu meinem Tourgebiet 102 und welche zu meinem Nachbarn 103 gehören. Ich erlag meinem Hang zu einem gewissen Übereifer.
Auf meinem Scanner sammelten sich mehr und mehr Abholer, bis mir gegen 15 Uhr klar wurde, dass die gesammelten Aufträge physisch nicht mehr zu machen waren. Ich fuhr bereits seit über einer Stunde nur noch den Abholzeiten hinterher. Ich rief die Dispo an und bat wörtlich um Hilfe. Jim teilte mir lapidar mit, dass es dafür bereits etwas spät sei. Der Kollege, der zu meiner Entlastung in der Gegend dieser Tage herumfahre (ich nenne ihn mal Keshan, obwohl er von Teppichen vermutlich keine Ahnung hat), sei bereits ins Depot zurückgekehrt und habe Feierabend gemacht, die 103 habe ihre eigenen Probleme (weil: ebenfalls neuer Fahrer), ich müsse da allein durch. Jim sah sich meine Liste an und gab mir Anweisungen, in welcher Reihenfolge ich vorgehen sollte, und er war nicht begeistert davon, dass ich nicht mehr Abholer an die 103 delegiert hätte.

Nu ja, ich wusste es halt noch nicht besser. Die Abholaufträge werden – anders, als ich bislang annahm – nicht von einem Disponenten bewusst auf Touren gelegt, sondern von der EDV gemäß der Postleitzahlen automatisch zugeordnet. Die Fahrer müssen im Zweifelsfall wissen, was in ihr Tourgebiet fällt und was nicht und Aufträge an die Nachbarn weiterleiten. Das klingt einfach, aber die Realität ist leider nicht so einfach. Denn die Gebiete sind nicht in Stein gemeißelt – das kannte ich ja bereits von Transoflex – und darüber hinaus sind die Grenzen auch nicht genau definiert. Die Idee ist, dass die Fahrer durch telefonische Kommunikation flexibel die Aufträge in den “Grenzregionen” aufteilen. Klingt gut, ist es aber nicht, weil dieses Kooperationsprinzip nur dann funktioniert, wenn die Nachbarn den Zeitaufwand für die jeweils noch vorhandenen Aufträge einschätzen können, und das läuft nicht, wenn man, wie in unserem Fall, die Touren mit jeweils neuen Fahrern mit ungenügender Erfahrung besetzt hat.

Mein Nachbar auf der 103 – Khan – war nicht nur unerfahren und ebenso ortsunkundig wie ich, sondern neigte unter Stress auch zu Pessimismus und Panik. Er war kein Egoist, der jeden Auftrag, der nicht eindeutig in sein Gebiet fiel, sofort von sich wies, aber er verlor schnell die Nerven, und (das ärgerte mich am meisten) er konnte Anfragen nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten. Wenn ich ihn anrief und fragte, ob er diesen oder jenen Abholer übernehmen könne, weil ich sonst mit den Abholzeiten für etwas anderes nicht hinkäme, sagte er nicht einfach “Ja, das geht” oder “Nein, schaffe ich auch nicht”, sondern gab mir erst einmal einen Überblick darüber, wie sein Tag bisher gelaufen war, und was aktuell noch auf seinem Scanner abzuarbeiten war. Diese Darlegungen zogen sich mitunter mehrere Minuten hin, was mich oft veranlasste, ihn abzuwürgen und einfach aufzulegen, da mir klar war, dass er lediglich nicht so direkt sein wollte, kurz und bündig abzulehnen. Obwohl er sonst ein netter Typ war, war die Zusammenarbeit unter diesen Bedingungen sehr schwierig.

4. Juli 2014
Ich delegierte gewissenhaft Aufträge, nachdem ich die Karten studiert hatte, welche Firma wo zu finden war. Was eindeutig im Gebiet des Nachbarn lag, bekam er auch auf den Scanner. Der Tag lief bedeutend entspannter als der zuvor.

Am 8. Juli fuhr ein weiteres Fahrzeug auf unserer rechten Rheinseite, weil so viel Fracht da war. TNT kauft Touren je nach Bedarf und natürlich reizt man jedes Auto und jeden Fahrer auch über die gesetzlichen Grenzen hinaus aus, sofern die Konzernstatistik nachher schön aussieht. Dieses zusätzliche Fahrzeug jedenfalls bewirkte das kleine Wunder, dass ich tatsächlich eine halbe Stunde Pause machen konnte. Wir schlussfolgern: Mit relativ geringem finanziellem Einsatz wäre es möglich, den überlasteten Fahrern das Leben einfacher zu machen und dafür zu sorgen, dass dem Gesetz zur Arbeitszeit abhängig beschäftigter Arbeitnehmer Rechnung getragen wird. Aber die Gewinnmaximierung ist wichtiger.

Ich komme an dieser Stelle nochmal auf das Versprechen des Tourenfürsten zurück: “Ich geb Dir ne kleine, nahe Tour.” Ich sagte ja bereits, dass diese Aussage in Bezug auf die Frachtzahlen tatsächlich stimmte, dass aber die geforderte Flexibilität bei den zumeist willkürlich reinkommenden Abholaufträgen den zeitlichen Bogen völlig überspannte. Ich sage an dieser Stelle „zumeist“, weil es auch Aufträge gab, die fest im Programm standen. Im Konzernjargon nennt man diese Aufträge “Dailies”, also “Tägliche”. Ich hatte nur drei solcher Kunden, aber gerade der in der Mitte, in Rheinbreitbach, vernichtete jede Chance auf frühen, gesetzmäßigen Feierabend.

Sehen wir uns die Zeiten einmal an. Mein Arbeitstag begann um 05:45 Uhr, wenn die Gitterboxen geöffnet werden und das Paketband anläuft. TNT verlangte jedoch von den Fahrern, dass auf dem so genannten Tagesbericht, der jeden Tag mit zwei Durchschlägen eingereicht werden muss, eine Anfangszeit von 06:30 angegeben wird. Begründung: Um diese Uhrzeit beginnen die Fahrer nach dem Bandlauf mit dem Beladen der Fahrzeuge. Das Abnehmen der Pakete vom Band und das Zusammenstellen der Fracht allgemein wurde also nicht als Arbeit betrachtet. Meine Rückfrage in der Richtung wurde nicht beantwortet. Als freiwilligen Frühsport würde ich das alles jedenfalls nicht bezeichnen. Auf diese Art und Weise verschwanden klammheimlich 45 Minuten Arbeitszeit aus der Konzernstatistik.
Selbst wenn wir diesen Umstand nun akzeptieren: Addieren wir auf halb Sieben morgens neun Stunden gesetzliche Arbeitszeit und eine dreiviertel Stunde gesetzlich vorgeschriebene Pause (die eigentlich nicht zustande kam), kommen wir auf 16:15 Uhr. Um viertel nach Vier am Nachmittag hätten wir Feierabend machen müssen, um im gesetzlichen Rahmen zu bleiben, also: Zurück im Depot, Abholer ausgeladen, Papiere fertig und aus dem Tor raus. Mit den Dailies war das nicht zu machen.

Der Daily in Rheinbreitbach konnte frühestens um 17 Uhr abgeholt werden. Die Firma versprach schlicht ihren eigenen Kunden, dass eine Ware, die bis 16:59 geordert wurde, auch am selben Tag noch rausgehen und am Folgetag zugestellt werden würde. Für die Arbeitsweise des Logistikers konnte man die Leute ja nicht verantwortlich machen. Das heißt, wenn ich früh genug da war, hing ich ein bisschen rum, bekam Kaffee und Plätzchen angeboten, und um Schlag 17 Uhr gab mir der Warenausgang der Firma das Startzeichen. Gezählt und überprüft hatte ich die Ware schon (bei den Paketen für TNT Express fand sich auch schon mal Sendungen für Konkurrenzunternehmen, die da nicht hingehörten), dann musste ich noch Papiere unterschreiben und die Sachen verkehrssicher einladen. Im günstigsten Fall kam ich um 17:20 weg.
Und da hatte ich noch einen Daily vor mir, in Dattenberg. Selbst wenn ich die Zeit gehabt hätte, ihn früher abzuholen, lag der Kunde doch bedeutend näher bei der Heimat, ich müsste von Rheinbreitbach aus etwa 15 Minuten hin und 15 Minuten wieder zurück nach Rheinbreitbach fahren, um dann auf dem Heimweg erneut an Dattenberg vorbeizufahren. So sehr es mich ärgerte, war es an gut laufenden Tagen besser, eine Zwangspause zu machen, als die zusätzliche Strecke zu fahren.
War ich also um etwa 20 Minuten vor Sechs in Dattenberg fertig, waren es immer noch ungefähr 25 Minuten Fahrt bis ins Depot, und für Papiere und Ausladen gingen weitere, mehr als 30 Minuten Zeit drauf. Feierabend um kurz vor Sieben war die Norm, das bedeutete jeden Tag eine Arbeitszeitüberschreitung von etwa zweieinhalb Stunden – und da sind die 45 Minuten, die uns am Morgen verweigert wurden, noch nicht einmal eingerechnet. Ich diskutierte in Rheinbreitbach, aber die konnten ihre Bestellzeiten ja nicht einfach ändern, ich diskutierte in Urmitz, aber es interessierte keinen. Alles, was ich machen konnte, war, mein Fahrtenbuch, meinen Nachweis über Fahrt- und Ruhezeiten wahrheitsgemäß auszufüllen. Sollten mir die Bullen mal Daumenschrauben anlegen, würde ich von denen welche mitnehmen.

Das System war also von Grund auf illegal und auf Ausbeutung angelegt, und so unglaublich es klingt: Mehr als bei Transoflex. Dort musste man vielleicht zwei oder drei Abholer im Monat machen, und man erfuhr von denen gleich am Morgen, konnte sie also in die lineare Tour einplanen. Der Transoflexer fährt seine Runde und dann nach Hause. Ist der Fahrer gut organisiert und die Begleitumstände halbwegs günstig, kann er die Arbeitszeiten weitgehend einhalten. Bei TNT war das 2014 noch unmöglich. Die Lösung des Problems kam auf einem Weg, den niemand so erwartet hätte. Dazu später mehr.

Am 10. Juli hatte ich meine erste Lieferung der Firma Köser im Auto. Es handelt sich dabei um Tiefkühlkost gehobener Art. Die Kunden, ein nettes älteres Ehepaar in einem der Königswinterer Dörfer, versicherten mir, dass es sich um exquisite Ware handele und, entgegen der Meinung der Leute in meinem Arbeitsfeld, keineswegs nur um Fisch. Die Lebensmittel werden mitsamt Trockeneis in Styroporkisten geliefert, das die äußerlich ungekühlte Aufbewahrung über zwei oder drei Tage unbedenklich macht.
Ich habe später den Onlineshop des Versands besucht, um mir ein Bild zu machen, und was sich mir da bot, war in der Tat nicht unbedingt für jeden Geldbeutel geeignet, aber das Angebot klingt appetitlich – Lammkotelett, Hirschfilet aus Neuseeland, Lammlachse in Lavendelkruste… Fisch, Fleisch, Desserts, und so weiter. Vielleicht bestelle ich irgendwann aus reiner Neugier einmal etwas.
Das Ehepaar bestellt scheinbar regelmäßig an Ostern, Weihnachten und zu Geburtstagen, um mit den Kindern und deren Kindern ein unkompliziertes Essen zu genießen. Da die beiden nicht mehr gut zu Fuß sind, biete ich natürlich gern an, die Ware in den Keller zu tragen (dabei bitte nicht auf den lebhaften, kleinen Hund treten) und bekomme einen Zehner dafür in die Hand gedrückt. In der Folgezeit wiederholte sich das bei jedem meiner Besuche.

Leider blieb der 10. Juli nicht so golden, denn als ich eine Zustellung in Rheinbreitbach machte, verhob ich mir in Eile nicht nur den Rücken an einer kleinen Palette von 40 kg (die übliche Muskelzerrung, die nach drei unangenehmen Tagen wieder verschwindet), sondern blieb beim Zupacken mit dem rechten Mittelfinger an der Kante eines anderen Pakets hängen, was den Finger unangenehm weit in die falsche Richtung bog. Die Hand schwoll am Fingeransatz leicht an und ich litt an einem dumpfen Schmerz, aber die Hand funktionierte ausreichend.
Zwei Tage später war die Stelle allerdings noch immer angeschwollen und an dem Schmerz hatte sich auch nichts geändert. Hatte ich nicht die Sehne überlastet, sondern möglicherweise das Gelenk verrenkt? Ich umfasste den rechten Mittelfinger mit vier Fingern meiner linken Hand, drückte mit dem Daumen sanft von oben auf das Gelenk, und zog die Fingerspitze nach oben hin weg. Ich spürte ein Knacken, die Greifbewegungen wurden sofort eine Spur angenehmer. Das Gelenk saß also wieder in seiner Pfanne. Ich hatte danach zwar noch über zwei oder drei Wochen lang Schmerzen in der Gegend, aber sie ließen auch immer mehr nach und verließen mich schließlich ganz.

Zum Ausgleich für das verbogene Gelenk erhielt ich an dem Tag Süßigkeiten von einem Tierarzt, den ich in der Folgezeit als “Dr. Knabber” in meinem Kopf abspeicherte. Wenn ich etwas brachte, hielt mir seine Frau eine Dose mit irgendwelchen Süßigkeiten aus dem Discounter hin. Ich mochte die Sorten nicht besonders, aber je nach dem, was an einem Tag sonst so los war, war ich doch ganz dankbar für die Kohlenhydrate.

Es gab auf meiner Tour keinen bequem erreichbaren NORMA Discounter, es wurde also schwierig, meinen Lieblingssaft zu besorgen und ich füllte die Flasche einfach immer wieder mit gewöhnlichem Leitungswasser auf. Allerdings musste ich feststellen, dass auch Wasser schmierig-widerliche Ablagerungen hinterließ, die auch unter abendlichem Ausspülen ein regelmäßiges Durchtauschen von Flaschen erforderliche machten. Neue Flaschen wurden dann eben beim “richtigen” Einkaufen am Wochenende besorgt.
Ich kam auf die Idee, dass Kohlensäure im Wasser diese Ablagerungen verhindern könnte, schließlich ist es die Aufgabe der Kohlensäure, Wasser besser haltbar zu machen. Aber wo bekam ich die Kohlensäure her? Ich kaufte Brausetabletten mit etwas Geschmack und Vitaminen drin, aber das Problem wurde nicht gelöst. Die Ablagerungen rochen halt anders. Unangenhem anders. Vielleicht war der Zucker in den Brausetabletten dafür verantwortlich, dass der leichte Desinfektionseffekt der Kohlensäure wieder ausgeglichen wurde. Also: Weiter Flaschen durchtauschen, sobald sie unangenehm rochen.

Ich machte dafür andere Snackexperimente. Wenn Norma den besten Orangensaft hat, dann hat PENNY die beste Schokolade. Die Hausmarke von Penny ist von einer geschmacklichen Qualität, die weit über ihre Preisklasse hinausreicht. Man kann das richtig schön feststellen, wenn man die gleiche Art dreier verschiedener Marken kauft, zum Beispiel Trauben-Nuss-Schokolade, und parallel probiert. Da muss man schon ein teures Markenprodukt auffahren, um die Billigmarke von PENNY zu schlagen. Wirklich beachtenswert.
Zum Glück für mein Körpergewicht hielt das Verlangen nach Schokolade nicht lange an, schließlich arbeitete ich weitaus weniger körperlich hart als noch vor wenigen Monaten. Ich finde es noch immer unglaublich, dass ich anno 2012 im Sommer fast jeden Tag eine Prinzenrolle in mich hineingestopft habe, ohne meine Körperform nach außen hin auszudehnen…

13. August 2017

Op da schäl Seit (Teil 2)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 18:00

Also merke: Zweidimensional denken. Gebiete, nicht Linien. Die geistige Umstellung nahm einige Tage in Anspruch, sparte aber langfristig natürlich Zeit. Zunächst machte diesem Ideal jedoch noch die schiere Größe des Tourgebiets und das Gebaren mancher Kunden einen Strich durch die Rechnung. Die Industriegebiete oben im Siebengebirge sind erstaunlich aktiv, und allein vom Rhein aus hoch bis zur Autobahn (wo das Tourgebiet ja keinesfalls bereits seine östliche Grenze erreicht hat) und wieder runter zu fahren kostet eine gute Dreiviertelstunde Zeit, und da habe ich noch keinen Kunden gesehen, deren Abfertigung ja auch Zeit kostet.
Und dann gibt es Kunden wie einen in Bad Hönningen, der in der Regel erst anmeldete, nachdem ich mit Solvay fertig und längst woanders war, und gleichzeitig die Abholung erledigt haben will, bevor ich auf dem Weg nach Hause wieder durch den Ort fahren würde. Das führte dazu, dass ich von Linz aus nach Bad Hönningen zurück musste, was insgesamt eine halbe Stunde meines Feierabends verschlang.
Oder solche im Siebengebirge, die gern das Zeitlimit zur Anmeldung von Abholaufträgen ausnutzten und mich so immer wieder dort oben festhielten, weil es natürlich mehr Zeit kostet, wieder hoch zu fahren, als untätig auf einem Parkplatz rumzusitzen. Ins Büro zu gehen und zu fragen, ob was abzuholen sei, erwies sich schnell als hinfällig, da meine Kunden ja nicht vorhersehen können, ob nicht einem ihrer eigenen Kunden kurz vor Schluss noch einfallen würde, dass er ja noch was braucht. Nach Wochen und Monaten hatte ich aber den einen oder anderen, der es konnte, soweit, dass sie früher anmeldeten.

„Ich geb Dir ne kleine, nahe Tour“, hatte mir der Tourenfürst bei meinem Wechsel zu TNT angekündigt. Aber das einzige, was an der Tour klein war, waren die Frachtzahlen. Wie ich bereits sagte, waren 40 bis 60 Colli weit unter dem Pensum, das ich von Transoflex gewohnt war. Die Gemeinde Königswinter hat einen Durchmesser von gut 20 Kilometern. Von einem Ende zum anderen fahren zu müssen, macht bereits was aus. Aber bis ich nach der morgendlichen Abfahrt mein Tourgebiet überhaupt erreichte, verging bereits etwa eine halbe Stunde, wobei diese Zeit in einem bedeutenden Maße dem Innenstadtverkehr von Neuwied geschuldet war. Wenn Ferien sind, ist dieser Stau wie weggeblasen, weil die Mamis und Papis ihren Nachwuchs scheinbar gern direkt ins Klassenzimmer fahren, anstatt sie den Bus nehmen zu lassen. Irgendwann gab ich entnervt auf und nahm die Bundesstraße um Neuwied herum. Auch die führte zum Teil durch Stadtgebiet, wo es zu Ampelstaus kam, aber nicht in dem Maße wie in der Innenstadt. Trotz der zusätzlichen Kilometer sparte ich dadurch fünf bis zehn Minuten.

Bis nach Königswinter waren es etwa 70 km, die sich auf der B42 hinziehen wie Kaugummi. Dass sich die Straße als Bundesstraße bezeichnen darf, ist eigentlich in weiten Strecken ein Hohn. Erst in Nordrheinwestfalen bekommt sie vier Spuren mit baulicher Trennung in der Mitte. Bis dorthin handelt es sich um eine bessere Landstraße, die nur eine einzige Stelle bietet, wo man genug freie Sicht hat, um mit einem Kleintransporter auch mal einen LKW zu überholen. Verpasst man diese eine Gerade wegen Gegenverkehrs, verliert man wieder eine Menge Zeit. Und es rollt eine Menge LKW-Verkehr über die B42. Ich würde mal schätzen, dass es sich bei mindestens jedem zehnten Fahrzeug um einen LKW handelt. In Leutesdorf (und nicht nur dort) gibt es eine Bürgerinitiative gegen Verkehrslärm, und man muss sich das mal vorstellen: Die B42 ist die rechtsrheinische Hauptverbindung in Richtung Bonn. Eigentlich dürfen Laster nur bis Rheinbreitbach fahren, und das auch nur, falls sie eine Zustellung in einem der Orte auf der Strecke haben. Die Fahrer und Unternehmer werden dazu angehalten, bei weiter entfernten Zielen die Autobahn zu nehmen und Bad Honnef zum Beispiel über Aegidienberg/Landstraße anzufahren. Das interessiert aber die wenigsten, weil es zusätzliche Kilometer und zusätzliche Fahrzeit mit sich bringt. DHL zum Beispiel fährt mit einem Zwölftonner plus Anhänger grundsätzlich über die B42 nach Bonn. Das Verbot wird in keiner Weise durchgesetzt. Das Problem im Mittelrheintal ist aber nicht nur der LKW-Verkehr, denn parallel zur Bundesstraße verläuft auch eine für den Frachtverkehr immens wichtige doppelgleisige Bahnlinie. Da fährt nicht ab und zu mal ein Zug, nein, da fährt alle paar Minuten ein Zug.

Einmal, als ich die Erfahrung noch nicht gemacht hatte, stand ich in einer Schlange von Autos vor einem Bahnübergang in Königswinter. Ein Zug fuhr durch. Aber die Schranke öffnete sich nicht. Fünf Minuten darauf fuhr ein weiterer Zug durch, für den die Schranke erst gar nicht geöffnet worden war. Dann wurde die Straße wieder freigegeben, die sechs Autos vor mir rollten über den Übergang – und als ich an der Reihe war, schaltete die Ampel wieder auf Rot und die Schranke senkte sich erneut, um einen weiteren, wenige Minuten später passierenden Frachtzug passieren zu lassen. So geht das die ganze Zeit, jeden Tag. Insgesamt stand ich eine Viertelstunde so rum und beschloss daher, lieber vier Kilometer Umweg zu fahren, die es aber erlauben, dass ich die Gleise mittels einer Brücke überquere.

Zuletzt darf man nicht unterschätzen, wie laut diese Züge sind. Oft genug bin ich bei schönem Wetter neben einem Zug hergefahren. Die Züge fahren auf gerader Strecke ebenfalls um die 100 km/h und der Abstand zur Straße beträgt abschnittsweise nur wenige Meter. Diese Dinger sind so laut, dass ich bei offenem Fenster die Musik aus der Stereoanlage nicht mehr hören konnte, und ich höre nicht leise Musik. Die Anwohner der Dörfer am Rhein sind also eingeklemmt zwischen hunderten LKWs und tausenden PKWs auf der einen Seite, und rauschendem Schienenverkehr auf der anderen. Das kann kein Vergnügen sein.

Doch zunächst: Bevor ich am 01. Juli 2014 die Stelle als Fahrer offiziell antreten würde, war ich neugierig, ob es nicht möglich wäre, die zwei Wochen, die ich de facto arbeitslos gewesen war, durch eine Art Übergangsgeld vom Jobcenter ein wenig auszugleichen. Ich nutze etwas freie Zeit, um mich an entsprechender Stelle einzufinden und erkannte sofort, warum ich in der Vergangenheit immer wieder froh gewesen war, aus dem Gebäude wieder heraus zu kommen; es ist diese hoffnungslose Melancholie mit einem Schuss Aggressivität. Jetzt musste natürlich genau vor mir ein arg frustrierter junger Mann dran sein, der seinem Unmut Luft machte, wobei es in dem Büro zu einer lautstarken Diskussion kam. Es bestand kein Zweifel, mit welcher Art von Laune ich da drinnen empfangen werden würde. Die Sachbearbeiterin wischte mein Anliegen in einem forschen Tonfall vom Tisch.

Dann kam der erste Arbeitstag, an dem ich allein fahren würde. Wegen fälliger Reparaturen war ich die ersten Tage in einem Leihwagen unterwegs. Es war heiß und es kam, wie es kommen musste. Ich brauchte eingangs bereits bedeutend mehr Zeit, um aus dem Depot zu kommen, als die erfahreneren Kollegen, weil es auch in einem kleinen Depot genug Raum gibt, in dem man noch ungefundene Pakete suchen kann. Die Dispo macht dabei leider oft nur die halbe Arbeit, weil sie einfach im Bildschirmfenster der jeweiligen Tournummer nachsieht, ob ein Paket noch nicht in Beladung gescannt wurde und schickt den Fahrer dann suchen. Durch eine Nachlässigkeit bei der Programmierung der Benutzeroberfläche kann der Disponent aber nur sehen, DASS eine Paketnummer im Wareneingang gescannt wurde – er kann aber nicht auf den ersten Blick sehen, WO das geschehen ist. Deswegen kann es passieren, dass man eine halbe Stunde zunächst ohne, dann mit Hilfe durch das kleine Lager irrt, nur um dann beim zweiten Nachfragen zu hören, dass das gesuchte Paket gar nicht in Koblenz, sondern ganz woanders als „eingegangen“ gescannt worden war, also gar nicht gefunden werden konnte.
Oder man bekommt zu hören: „Das hat der und der Fahrer in Beladung gescannt.“ Auch das wird nicht auf den ersten Blick erkennbar gemacht. Man erkennt einen Vorteil der Transoflex-Software: Scannt jemand eines meiner Pakete, erhalte ich sofort Meldung auf meinem Handgerät, von wem ich es abholen muss; dabei werden die Sendungen bei TNT ebenso morgens auf die Touren verteilt, die Implementierung einer solchen automatisch generierten Mitteilung kann eigentlich keine so große Herausforderung sein. Wenn einem das jeweils einmal passiert ist, legt man sich also gleich schon mal zwei oder drei Rückfragen zurecht, BEVOR man Ware sucht, die man nicht finden kann.

An dieser Stelle muss ich hinzufügen, dass die Dispo die Fahrer bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag suchen lässt, wenn das Paket eindeutig da sein muss, obwohl die Fahrer doch Expresspakete geladen haben, die pünktlich zugestellt werden müssen. Da den Fahrer natürlich niemand festbindet, kann der natürlich dennoch sagen: „Ich lass das jetzt mit dem Suchen, sonst komme ich nicht mehr rechtzeitig an“, aber wenn das Paket dann doch noch gefunden wird, muss es auch irgendwie zugestellt werden, und das heißt in der Regel, dass der betroffene Fahrer de facto seine Mittagspause dafür aufwendet, die Ware im Depot abzuholen. Warum ist es nun wichtiger, die komplette Ladung dabei zu haben, als die Expresse zeitig zuzustellen? Dafür gibt einem niemand eine Erklärung. Aber irgendwann versteht man irgendwann, dass beide Umstände – “Paket nicht zugestellt” und “Paket nicht rechtzeitig zugestellt” – gleichwertig negativ in die Leistungsstatistik des Depots eingehen, dass aber der Fuhrunternehmer allein finanziell dafür haftet, wenn einer seiner Fahrer nicht rechtzeitig vor Ort ist.

Bei solchen Dialogen mit der Dispo wiederum stößt man auf das Phänomen der „Tageslaune“ – die Disponenten stehen nicht alle und jeden Tag solchen Rückfragen offen gegenüber. Immerhin kann man den zweien, die das betrifft, nennen wir sie mal „Jim“ und „Knopf“, weil mir nichts besseres einfällt, am Gesicht ablesen, was für eine Laune sie gerade haben. Jim ist an guten Tagen ein Quell guter Ideen (und sparte mir durch kreative Eingriffe in die Aufgabenverteilung zwischen mir und meinen Nachbarn im Laufe der kommenden Monate eine Menge Zeit), aber an schlechten Tagen kann man mit dem nicht reden, weil er gleich pampig wird. Und wenn Knopf seine Kinder ebenso erzieht, wie er das mit den Fahrern versucht, wenn er nicht gut drauf ist, dann müsste ich die beiden Jungs bedauern. Das wichtigste, was man sich für ihn merken muss, ist: Er hat keinen Humor. Klar, auch der macht mal Witze, und ich sage nicht, dass die grundsätzlich schlecht sind, aber wehe, man antwortet mit einer (wenn auch ebenso wenig ernst gemeinten) Bemerkung in seine Richtung, dann ist es mit dem Sonnenschein vorbei.
Rein oberflächlich betrachtet hilft es auch nicht, dass Knopf aussieht wie… wie soll ich sagen? Wenn man in der Brockhaus-Ausgabe von 1938 nachschlägt, findet man im Eintrag „Arier“ vermutlich ein Bild von ihm. Wenn ich jemals einen Film mit Handlung im Zweiten Weltkrieg mache, besetze ich die Rolle des bösen SS-Offiziers mit ihm. Nicht, dass er von der Einstellung her ein Nazi wäre, aber das forsche Wesen und das rein Äußere sind schlagende Argumente für ein solches Casting.

Ich schweife ab. Ich wollte was über meinen Mangel an Effizienz sagen, der mich als erstes eher gegen acht Uhr als gegen sieben Uhr aus dem Depot lässt, und mir dann auf der Tour Schwierigkeiten macht, weil ich natürlich immer noch fast jede Adresse im Navi eingeben muss und mich weniger gut organisieren kann, weil ich die räumlichen Verhältnisse und die Abfolge verschiedener Orte und Adressen noch nicht auswendig kenne. Die ersten Tage waren dem entsprechend extrem stressig, und das bei starker Sommerhitze.

In jenen Tagen wurde in Ittenbach ein neues Einkaufszentrum gebaut und gleichzeitig die davor verlaufende Hauptstraße ausgebessert, inklusive neuem Kreisverkehr an der Abzweigung zur Baustelle. Ich hatte eine Zustellung für das Einkaufszentrum und sah mich vor ein Problem gestellt: Der entstehende Kreisel war, mit einer Ampel versehen, für den Durchgangsverkehr offen, aber die Abzweigung war gesperrt. Ich fuhr vor der Ampel an der Tankstelle raus und ging die 200 m zu Fuß zum Kreisel, ging hinter die Absperrung zu den Bauwagen und traf dort sofort einen Verantwortlichen, der die Ware annehmen würde. Ich fragte, ob ich die Absperrung beiseite schieben dürfe, damit ich nicht jedes Paket einzeln – leichter, aber sperriger Dämmstoff – von der Tankstelle aus hertragen müsste. Er sagte, das sei kein Problem. Gesagt, getan: Ich fuhr in den Kreisel, schob geschwind die Absperrung beiseite, fuhr zu den Containern und stellte meine Ware zu.

Zu meiner Überraschung stellte ich beim Rausfahren fest, dass die Absperrung wieder an Ort und Stelle stand. Ich wollte aussteigen, um sie erneut zu bewegen, da schnauzte mich der Polier vom Kreisel an, dass die Sperre gefälligst stehen bleibe und ich gefälligst so und so und so zu fahren habe, um sie zu umgehen. Wie gesagt: Meine Ortskenntnis auf Stufe 1, meine nervliche Ausdauer fast auf Null. Wo sollte das Problem sein, dass ich den günstigen Moment abwarte, wo beide Ampeln auf Rot stehen, um mich wieder auf die Hauptstraße einzufädeln?
Ich machte an der Stelle einen entscheidenden Fehler: Ich begann, mit dem Polier in einem beiderseits gereizten Tonfall zu diskutieren, während ich mich gleichzeitig daran machte, zur Baustelle zurück zu rollen, um zu wenden, damit ich die in knappen Worten beschriebene Umleitung fahren konnte. Da rumste es plötzlich von hinten. Ich sah in den Spiegel: Ich war gegen einen Materialcontainer gefahren. Der Polier war in dem kurzen Moment vergessen, ich rastete völlig aus und hämmerte aus Wut über meine eigene Dummheit mit der Faust so heftig auf das Armaturenbrett, dass der Deckel der Lüftung raussprang.
Der Polier musste das gesehen haben. Denn es stellte sich zunächst heraus, dass diese Container nicht das Arbeitsgerät des Einkaufszentrums beinhalteten, sondern das für den Kreisel, das heißt, ich musste mich mit jemandem einigen, mit dem ich gerade noch heftig gestritten hatte. Zu meiner Überraschung lief das kurze Gespräch aber sehr sachlich ab, als habe der Streit nicht stattgefunden. Dafür war ich wiederum dankbar.

Der Tourenfürst teilte mir eine Woche darauf mit, dass die Schadensbehebung an dem Mietwagen 1500 Euro gekostet habe, dass er aber nicht auf meiner Eigenbeteiligung in Höhe von 500 Euro bestehe. Zur Erinnerung: Der Chefoberboss von JP hatte eine Eigenbeteiligung in der unsittlichen Höhe von 1500 Euro in den Verträgen seiner Fahrer stehen. Dafür war ich ebenfalls dankbar und fühlte mich in meiner Meinung bestärkt, dass ich im Umgang mit den Leuten meiner Umgebung scheinbar etwas richtig machte, denn ich bin sicher, dass die meisten anderen seiner Angestellten sehr wohl hätten zahlen müssen.

6. August 2017

Op da schäl Seit (Teil 1)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 11:33

Wir kommen nun endlich zu einem völlig neuen Kapitel meiner zweifelhaften beruflichen Laufbahn. Um den Titel zu erklären: Im Rheinland bezeichnet man die rechte Rheinseite als die “schäl Seit” (weiter nördlich von Koblenz auch “schäl Sick”). Die Deutungsversuche verlieren sich im Dunkel der Geschichte; es könnte mit den linksrheinisch treidelnden Gäulen zusammenhängen, denen man zum Wasser hin Scheuklappen anlegte, damit die Sonnenreflexion sie nicht dauerhaft blendete, andere Interpretationen ziehen den Gegensatz zwischen der spätrömisch-christlichen Seite einerseits und der bis ins neunte Jahrhundert germanisch-heidnischen Seite andererseits heran. Ich jedenfalls wohne auf der schäl Seit und würde ab Sommer 2014, wie es aussah, auch rechtsrheinisch arbeiten, auf der Strecke zwischen Rheinbrohl und Königswinter.

Übrigens wurde ich zu der Zeit zum letzten Mal – bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich hier sitze und schreibe – wegen zu hoher Geschwindigkeit geblitzt, als ich samstags nach einer Besorgung im Baumarkt auf dem Nachhauseweg unaufmerksam war und 12 km/h zu schnell hinter einem 80er Schild unterwegs war. Da ich im Rahmen der Kündigungsfrist noch über den Tourenfürsten bei JP arbeitete, bekam ich die Forderung über die Zahlung von 25 E auch über dessen Büro, in dem die Frau C. arbeitete.
Das Foto war völlig verschwommen und konturlos, ein heller Blob vor dunklem Hintergrund. Wenn man mich kennt, kann man mich wohl an der Form des Unterkiefers und an der groben Form des Kopfes erkennen, aber objektiv hielt ich das für anfechtbar. Ich schrieb also zurück, dass die Person auf dem Foto nicht zu erkennen sei und dass ich das nicht sein könne, weil ich samstags nicht arbeite. Worauf die zuständige Polizeistelle wiederum die Frau C. kontaktierte, die ihrerseits gern bestätigte, dass es sich um mich handele.
Ich rief die Frau C. an und fragte, wie es denn mit etwas kollegialer Solidarität stünde, worauf sie mir im Brustton der Überzeugung mitteilte, dass man doch für Fehler, die man gemacht habe, gerade stehen müsse. Natürlich hatte sie da Recht, aber ich war ja kein notorischer Raser und in diesem Fall fand ich die Argumentation heuchlerisch.
“Frau C., mit solchen Ratschlägen sollten gerade Sie sich lieber zurückhalten.”
“Warum das denn?”
“Na, haben Sie oder haben Sie nicht mich und andere Fahrer dazu aufgefordert, nur vom Unternehmen gewünschte Zeiten in die täglichen Fahrtnachweise einzutragen? Das ist ein Wisch mit Name, Datum, Unterschrift, man nennt es Unterlagenfälschung und Betrug, und Sie stecken als Komplizin da mittendrin, falls die Behörden mal auf Ihren Betrieb und seine Geschäftspraktiken aufmerksam werden sollten.”

Aber richten wir den Blick wieder auf die Straße. Am 15. Juni 2014 war ich also mit Goldbart quasi zum Baggersee gefahren und angesichts meiner Zuversicht begann am 16. Juni mein TNT-Praktikum.

Ich kam zu einem Typen ins Auto, es war ein Fiat Ducato mit vielen vielen Kilometern auf dem Zähler, der von seinem Chef “der Hübsche” genannt wurde (weil er das genaue Gegenteil von hübsch war) und der viel rauchte – sich aber in meiner Anwesenheit etwas zurückhielt. Es waren kühle Tage mit Nieselregen, die mich bei Transoflex wenig gestört hätten, aber erstens war ich hier eigentlich nur Zuschauer und zweitens hat man als geübter TNT-Fahrer Zeit für Pausen.
Wir fuhren um kurz nach Sieben aus dem Depot, den Rhein runter bis Königswinter, machten dort eine Schleife durch die Gemeinde in den östlich vom Rhein liegenden Hügeln (das so genannte Siebengebirge) und bis zum Stadtrand von Bonn, und waren um halb 12 wieder zurück in Bad Hönningen. Dort machte der Hübsche eine Stunde Pause, bevor er mit der fast täglichen Abholung bei Solvay in den Nachmittag startete. Er hatte ein Handy dabei und kümmerte sich derweil um WhatsApp und Facebook, während ich daneben saß und mich in den Mittagsschlaf langweilte, der dann dadurch abgebrochen wurde, dass ich fror. Das Praktikum hatte zwar auch warme Tage zu bieten, an denen mir aber wiederum zu warm wurde, weil der Hübsche scheinbar keinerlei Temperaturgefühl hatte. Der parkte auch bei Sonnenschein an der gleichen Stelle, wo ihm die Sonne direkt in die Windschutzscheibe knallte. Er schwitzte, dass es nur so lief, aber das störte ihn nicht und er blieb bei seiner Handypause, während ich noch weniger schlafen konnte, weil es so heiß war.

Er war ein geduldiger Erklärer, der auf jedes Detail, an das er sich entsinnen konnte einging, und im Vorbeifahren an späteren Tagen gern auf ein Straßenschild deuten würde, um mich zu fragen, ob ich denn noch wüsste, welcher Kunde sich dort befinde. Er muss wirklich anstrengende Leute im Auto gehabt haben, da er, im Laufe der Tage, viele Dinge mehrfach erklärte, die ich spätestens beim zweiten Mal verstanden hatte. Das Merken von Fakten war ja nicht das Problem. Mir war klar, dass mein Problem kommen würde, sobald ich mir selbst ohne Hilfe einprägen musste, wie ich am besten von A nach B komme und was für Gelegenheiten für weniger akute Zustellungen die Strecke dabei bot. Um meine Bemühungen zu unterstützen, ließ er mich auch bald selbst fahren, weil dies die beste Übung war. Wir mussten uns allerdings angewöhnen, kurz vor Erreichen des Depots an einer Tankstelle wieder die Plätze zu tauschen, weil die Versicherung in einem Schadensfalle Schwierigkeiten machen würde, da ich nicht für den Besitzer des Kleintransporters arbeitete; der Tourenfürst sah das also nicht gern, aber wir ignorierten das Verbot. Ich bemerkte bei diesen Fahrten, dass der Ducato völlig durchgenudelt war. Der Sitz war so durchgesessen, dass ich die Metallverstrebung am Steiß spürte und von auch nur halbwegs bequemem Sitzen überhaupt keine Rede sein konnte.

Nebenbei erfuhr ich, dass der Hübsche demnächst seinen Jahresurlaub nehmen würde, weil er wegen einer (?) Geschwindigkeitsübertretung seinen Führerschein einen Monat lang abgeben musste – vielleicht hatte er seinen Blitzerfetisch daher, vielleicht hatte er den schon länger, wer weiß? Er hatte jedenfalls eine entsprechende App auf dem Telefon, die ihn warnte und er hörte einen Radiosender, über den regelmäßig Blitzerwarnungen angesagt wurden, worauf er, bei entsprechenden Orten, die möglicherweise betroffenen Fahrer anrief, um sie auf diese Umstände hinzuweisen.
Die Landesgrenze zwischen Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen verläuft bei Rheinbreitbach, und die Schwerpunktsetzung der Länder spürt man sofort: Nach der Abfahrt Rheinbreitbach folgt auf der B42 eine kurze Strecke, wo man nur 70 fahren darf und kurz vor der Abfahrt Bad Honnef steht auch schon der erste fest installierte Blitzapparat. Ich glaube, aus dem Saarland und auch aus Rheinland-Pfalz kenne ich solche Dinger nur zur Überwachung roter Ampeln. In Rheinland-Pfalz setzt man wohl mehr auf mobile Einheiten, an der B42 gern eingesetzt in der Nähe der Brücke hoch nach Dattenberg. Ich musste mich arg zurückhalten, als just in jenen Tagen dort ein Blitzer stand und der Hübsche mit ausgestrecktem Mittelfinger daran vorbeifuhr und laut rief: “IHR KRIEGT MICH NICHT! IHR KRIEGT MICH NICHT!”
Bei Blitzern ist der Typ schon ein bisschen manisch.

In dem Gebiet jenseits der Landesgrenze gibt es jedenfalls mehrere fest installierte Anlagen. Eine bei Rheinbreitbach (B42, 70 km/h), eine mitten im Wald zwischen Bad Honnef und Aegidienberg (Schmelztalstraße, 40 km/h), eine am Ortseingang von Ittenbach aus Richtung Königswinter (Königswinterer Straße, 50 km/h) und noch eine am anderen Ende von Ittenbach an der AS zur A3 aus Richtung Oberpleis (auch Königswinterer Straße, 70 km/h). Dann wäre noch der besondere Fall in Vinxel zu nennen, vor dessen Ortsschild nur noch 70 erlaubt sind, wo ein Anwohner eine Attrappe aufgestellt hat. Zwar aus Holz, aber gar nicht schlecht gefertigt, dunkelgrau lackiert, sogar mit gläserner „Linse“ – allerdings steht die Konstruktion klar erkennbar auf seinem eingezäunten Privatgelände. Das Ding kann also bestenfalls Ortsfremde erschrecken – eigentlich. Denn: In meinem Navigationsgerät wird es als Blitzer angezeigt, was wohl bedeutet, dass regelmäßig Leute Rückmeldung über diese Position geben; meine beiden Negativanzeigen (dass es eben keinen Blitzer hier gibt) reichten jedenfalls nicht aus, um die Eintragung zu löschen. Löschungen scheinen eh schwer zu realisieren zu sein, weil ich auch auf der A3 eine Stelle als Blitzerposition angegeben bekomme, wo scheinbar nur ab und zu mal eine mobile Einheit aufgestellt wird.

Nun, Blitzer sind eigentlich nicht mein Problem, weil ich mich grundsätzlich an das Tempolimit halte. Wenn ich in der Vergangenheit geblitzt wurde, geschah dies aus Unachtsamkeit. Kommen wir lieber zu einem Punkt, der meine Achtsamkeit herausforderte. Bei Transoflex kann man sich Touren in Form einer Linie vorstellen. Man beginnt am Punkt A, dem Depot, und fährt über viele Zwischenpunkte zum Endpunkt, in der Regel die eigene Haustür. Das Konzept wird bei TNT schon dadurch eingeschränkt, dass die Fahrer nach der Tour ihre Abholer im Depot abgeben müssen, anstatt sie über Nacht im Auto zu lassen, sonst würde das mit der Zustellung am nächsten Tag ja nicht klappen. Na gut, könnte man sagen, dann hat die Linie eben noch einen weiteren Zwischenstopp, bevor man zur eigenen Haustür gelangt, aber die gesamte Tragweite begriff ich erst in diesen Tagen.
Wenn ich Transoflextouren lernte, machte ich simple Notizen darüber, in welcher Reihenfolge die Ortsteile und die darin befindlichen Straßen und die sich dort aufhaltenden Kunden angefahren werden mussten, um so effizient wie möglich arbeiten zu können. Das Ergebnis war eine einfache Liste, die man von oben nach unten auswendig lernte und sich dann die Variationen einprägte. Am ersten Tag meines Praktikums erstellte ich eine solche Liste, nur um am Folgetag bereits bemerken zu müssen, dass diese Liste nicht zu gebrauchen war.

Bei Transoflex wird der gewöhnliche Fahrer bestenfalls Pakete erhalten, die noch am Vormittag zugestellt werden müssen. Für frühere Expresse gibt es einen Frühdienst, der diese wenigen, aber sehr eiligen Pakete übernimmt. Bei TNT dagegen ist jeder Fahrer sein eigener Frühdienst. Es gibt weniger Fracht – 40, 50, 60 Pakete im Vergleich zu 200 bis 300 auf Transoflex Stadttouren – entsprechend früher kommt man aus dem Depot und kann auch 9-Uhr- oder 10-Uhr-Expresse pünktlich zustellen, wenn der Betrieb halbwegs normal läuft. Diese Expresse machen es allerdings notwendig, die Tour jeden Tag neu zu planen, man kann nicht in mehr oder minder starrer Reihenfolge vom Punkt A beginnend in geografischer Reihenfolge vorgehen. Ein simples Frachtbeispiel:

12er in Rheinbrohl,
12er in Bad Hönningen,
9er in Linz,
10er in Rheinbreitbach,
12er in Bad Honnef,
12er in Königswinter,
9er in Willmeroth.
Die übrigen Pakete haben kein Zeitlimit.

Fährt man über die B42, dauert die ununterbrochene Fahrt von Urmitz bis Willmeroth, dem in diesem Beispiel am weitesten entfernten Punkt auf der Landkarte, fast 90 Minuten. Komme ich also auf Grund irgendwelcher Umstände erst nach 07:30 Uhr vom Hof, wird die Sache problematisch. Ich kann die Fahrtzeit nach Willmeroth auf etwa 60 Minuten herabsetzen, indem ich (bei einer Geschwindigkeit von nicht mehr als 120 km/h) über die A48 zur A3 hoch und dann bis zur AS Königswinter fahre. Ausgehend von einer Abfahrt um halb Acht wäre es dann aber bereits halb Neun und ich müsste bis um Neun in Linz am Rhein sein, aber dorthin gibt es keine flotte Verbindung vergleichbar mit der A3. Und dann wäre da noch der 10-Uhr-Termin in Rheinbreitbach. Theoretisch könnte ich von Linz aus Rheinbrohl und Bad Hönningen abdecken und würde den 10er immer noch schaffen – aber nur theoretisch. Denn da sind ja noch die Abholer, die sich irgendwann melden. In diesem beschriebenen Fall würde ich nach dem 9er in Linz die 12er in Bad Hönningen und Rheinbrohl fahren, dann den 10er in Rheinbreitbach, und dann die 12er in Bad Honnef und Königswinter, und dann kommt der fast tägliche Solvay-Abholer in Bad Hönningen, Zeitlimit halb Drei. Das klingt einfach, aber zusammen mit anderen Abholern reicht diese Zeit nicht, in aller Gemütsruhe die nicht eiligen Pakete auf dem Weg nach Süden zuzustellen. Allein die Fahrzeit von Königswinter nach Bad Hönningen beträgt eine Dreiviertelstunde, pro Zusteller kann man sich etwa 5 Minuten hinzudenken, weil ja nicht alle Kunden leicht erreichbar an der Hauptstraße liegen. Ich würde also erneut an vielen Empfängern vorbeifahren, nur um den Solvaytermin zu schaffen. Dann müsste ich für die normalen Zusteller noch mal ganz hoch in die Königswinterer Dörfer fahren und käme auf dem Rückweg noch einmal in Bad Hönningen vorbei. Das ist nicht sehr effizient. Die Lösung sieht vielmehr so aus:

Zuerst der 9er in Linz, anschließend der 10er in Rheinbreitbach, dann fährt man über Bad Honnef und Aegidienberg (eigentlich Gelände der Nachbartour) nach Willmeroth, weil über Königswinter ein Umweg wäre, hält eine Minute vor Neun auf dem Parkplatz vor der Instandsetzungshalle des Bergwerks Hühnerberg in Willmeroth, krallt sich einen der Jungs dort, die bereits auf dem Weg in die Frühstückspause sind, und lässt ihn unterschreiben, bevor er überhaupt weiß, was er bekommt und bevor die Uhr im Scanner 09:00 anzeigt. Eine Sekunde nach Neun ist eine Verspätung, die eine dreistellige Vertragsstrafe für den Fuhrunternehmer nach sich zieht, eine Toleranzzeit wie bei Transoflex (es waren angeblich 15 Minuten) gibt es bei TNT nicht. Und dann bleibt zu hoffen, dass die Zustellung leicht genug ist, um sie selbst vom Auto zu heben (Bergbauersatzteile sind mitunter schwer), oder darauf, dass man einen Mitarbeiter gefunden hat, der bereit ist, eine Minute seiner Pause dafür zu opfern, sich nochmal auf den Stapler zu setzen. Ich habe nur einmal den Fall gehabt, dass ich die Unterschrift rechtzeitig von der Dame im Büro bekam, dann aber unter Hinweis auf die Pause bis 09:15 warten musste.

Danach fährt man die 12er und schiebt normale Zustellungen ein, die entweder direkt auf dem Weg liegen oder so ungünstig, dass man sie am Nachmittag lieber vermeiden möchte, wie zum Beispiel Stieldorf oder Rostingen. Zum Zeitpunkt der Abholungen in Bad Hönningen sind dann nur noch eine Handvoll normaler Zustellungen übrig und man kann sich im großen und ganzen auf Abholer konzentrieren. Die fährt man natürlich auch nicht, wie sie gerade reinkommen, sondern man tut das, was die Abweichung von der Transoflex-Routine ausmacht: Man darf nicht in eindimensionalen Linien, sondern muss in zweidimensionalen Gebieten denken. Mit etwas Erfahrung weiß man, bei welchen Kunden die Gefahr wie hoch ist, dass sie was anmelden, und kann so nach Bauchgefühl beschließen, was man gleich anfahren kann oder sollte, und was man nach hinten verschieben kann oder sollte, um unnötige Kilometer zu vermeiden. Statt einer Liste machte ich also eine Zeichnung mit den wichtigsten Örtlichkeiten mit Linien für die Straßen, die sie verbanden und kurzen Notizen mit den wichtigsten Kunden.

9. Mai 2017

Die Fracht am Rhein (Teil 15)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 18:59

Fahren wir fort mit meinen Erlebnissen am 19. Mai 2014.

Ich bekam einen Praktikanten ins Auto, dem ich Bitburg zeigen sollte. Ich nenne ihn im folgenden Hubi. Dabei gibt es nicht viel zu sagen – er scheint mir nicht der Allerfähigste zu sein, aber er war motiviert und sympathisch und wir tauschten uns über unsere Lebenserfahrungen aus. Er war einer dieser sozial Abgehängten, die nie wirklich eine Chance bekamen. Entsprungen den tieferen Niederungen des Proletariats, wohin sich kein Facharbeiter je verirrt, unbeabsichtigt gezeugt von einem lieblosen Vater, der sich für seinen Sohn nicht interessierte und daraus auch keinen Hehl machte, grundlegende Schulbildung, ohne jemals einem Anspruch auf Leistung ausgesetzt gewesen zu sein. Dumm war Hubi keineswegs, ich schreibe ihm ein gutes Maß an Intelligenz zu, aber er war eklatant ungebildet, verschwendetes Potential – und er gehörte zu den Leuten, die bei Schwierigkeiten zu schnell aufgeben.

Ohne eine gewisse Tragik kam auch die Beschreibung seines Lebenswegs nicht aus. Als ich vor langer Zeit über “den Kleinen” geschrieben habe, beschrieb ich womöglich, dass jener mit 15 ein Kind mit einem gleichaltrigen Mädchen gezeugt hatte, was jedoch in einer Fehlgeburt endete und in zumindest materieller Hinsicht folgenlos blieb, während ich mir nicht vorstellen will, welche psychischen Folgen ein solches Unglück hat. Hubi hatte ebenfalls in dem Alter mit einer Gleichaltrigen ein Kind gezeugt – allerdings ist es auch zur Welt gekommen und die Tochter wurde sofort vom Jugendamt einkassiert. Hubi beschrieb mir, dass die Familie eines leitenden Beamten sie adoptierte, die vielleicht spießig sei, ihr aber eine Tür zu jedem Lebensweg öffnen könne, den sie ergreifen wolle, ganz im Gegensatz zu einem armen Schlucker wie ihm selbst. Er schien darüber hinweg. Er habe seine Tochter im Laufe der Jahre ab und zu zufällig in der Stadt gesehen, aber sie wisse nichts von ihm und er hielte das auch für besser so. Ich kann keinen kompetenten Kommentar zu solchen Vorgängen abgeben, aber ich versicherte ihm, dass seine Tochter ein gesetzlich verankertes Recht habe, ihre wahren Eltern kennen zu lernen, wenn sie das möchte.

Hubi hatte in der Folgezeit noch vier weitere Kinder gezeugt – als Erwachsener und mit der jeweils selben Frau – und befand sich immer noch oder immer wieder im Zwist mit dem Jugendamt, scheinbar im Zusammenhang mit seiner immer wiederkehrenden Arbeitslosigkeit, die ebenso offenbar nur episodenweise von sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen unterbrochen wurde, und der damit verbundenen Armut. Ich wollte gar nicht wissen, wie seine Wohnung aussah.
Am Folgetag, also am 20. Mai (ich greife dem hier vor, um seine Geschichte zusammenhängend erzählen zu können), stand wohl der Besuch eines Mitarbeiters des Amtes an, der beurteilen sollte, ob die Kinder in einer halbwegs geordneten Umgebung aufwuchsen, wie auch immer die gesetzlichen Vorgaben dafür sein mögen. Hubi war furchtbar nervös. Der Gedanke, dass man ihm schon wieder seine Kinder wegnehmen könne, behagte ihm ebenso wenig, wie jedem anderen Vater, der seine Kinder liebte.

Ich kannte die Geschichte einer Mutter, die ihre nicht einmal 12 Jahre alten Töchter zur Erledigung jeder Hausarbeit herangezogen hatte, während sie selbst vorm Fernseher saß, und die Mädchen mit einem Kochlöffel schlug, wenn ihr das Ergebnis nicht gefiel. Auch war die Rede von sexuellem Missbrauch, für den sich allerdings keine Beweise finden ließen, aber das eingeschaltete Jugendamt beließ die Kinder bei der Mutter, angeblich mit der Begründung, dass eine schlechte Mutter besser sei, als keine, und besser, als die Kinder aus ihrem sozialen Umfeld zu reißen. So schlimm lag Hubis Fall dann doch wirklich nicht. Er schien sich ob meiner Schilderung aber dennoch keineswegs zu beruhigen. Dann kam gegen Mittag ein Anruf seiner Frau: “Die Kinder sind weg…”. Ich spürte, wie psychische Schockwellen mich von rechts kommend überfluteten. Aber noch bevor er Worte fand, fuhr sie fort: “Das war nur ein Witz! Der hat gesagt, soundso…”.
Na ja, das war dann wohl der mieseste Witz, von dem ich je gehört hätte. Hubi war jedoch keineswegs böse oder so, sondern nahm die Botschaft nur unendlich erleichtert auf. Als er im weiteren Verlauf der Fahrt sehr schweigsam blieb, kramte ich in meinen CDs und schob das Hörspiel “Die Toilette des Grauens” (eine saarländische Parodie auf “Master of the Universe”) in das Abspielgerät. Seine Laune hob sich deutlich, und als wir uns verabschiedeten, sagte er zu mir: “Ich hab gedacht, der Tag sei hoffnungslos beschissen, aber mit dem Hörspiel hast Du mir den Tag gerettet – vielen Dank.”

Wir entdeckten auf der positiven Seite außerdem ein gemeinsames Interesse an P&P Rollenspielen (er hatte vor Jahren ein Fantasy-RPG gespielt, dessen Namen ich vergessen habe) und wir kamen in der Folgezeit überein, es gemeinsam mit einem meiner nahe wohnenden ehemaligen Schulkameraden mit einer Shadowrun-Gruppe zu versuchen. Wir bekamen ein paar Spielsitzungen zu Stande, davon vielleicht später mehr.

Anfang Juni 2014
Der Chefoberboss war mal wieder in der Halle, und er beschwerte sich bei mir wegen mangelhafter Kommunikation. Es ging um meinen Wechsel zu TNT… hatte der Tourenfürst etwa erst zwei Wochen nach meiner Einwilligung, lieber bei TNT für ihn zu arbeiten, mit JP darüber gesprochen??? Dass dem Chefoberboss zwei Wochen bis zu meinem de facto Abgang zu wenig sein würden, konnte ich irgendwie nachvollziehen – ohne deswegen von meinen Fluchtplänen abzueichen. Geistige Notiz: Kündigungen selbst überbringen und besprechen, solche Dinge niemals Dritten überlassen.

Die ersten beiden Wochen im Mai und damit meine letzten beiden Wochen bei ToF waren geradezu entspannend. Ohne viel Federlesens war ein Ersatzfahrer für die Eifel bestimmt worden (ein Vollidiot, dem früher Feierabend wichtiger war als guter Kundendienst) und ich machte fast das, worauf ich im vergangenen Jahr einmal gehofft hatte: Ich fuhr Aushilfstouren für Fahrer, die nichts mehr in den Laderaum bekommen hatten, und nicht wenige meiner solchen Bemühungen führten mich ins Bitburger Land, wo Hubi mit seiner Tour kämpfte. Er bediente die Saarstraße immer noch zwei Stunden später als ich, und ich war sicherlich keiner der schnellen Fahrer, was bedeutete, dass er in argen zeitlichen Schwierigkeiten steckte. Meine Aufgabe war also die meiste Zeit, ihm Stopps wegzunehmen, damit er wenigstens die Stadt selbst schaffte. Das war frustrierend, aber ich bekam auch keine vollen Autos mehr, verbrachte nicht mehr deutlich zu viel Zeit auf der Straße und ich hatte morgens Gelegenheit, den anderen zu helfen, ihre Ware in der Halle zu finden und ins Auto zu laden. Ich spürte einen Anflug von Spaß bei der Arbeit.

In diese Zeit fällt übrigens die Anekdote von dem jungen Handwerker, der mich morgens an der Tankstelle ansprach, ob ich ihn vielleicht nach Wolken bringen könnte – dabei handelt es sich um ein Dorf mit kleinem Industriegebiet an der Landstraße, die parallel zur A61 verläuft. Von der Tankstelle aus würde er zu Fuß vielleicht 20 Minuten brauchen. Eigentlich war das Mitnehmen von Fremden verboten, aber ich tat es trotzdem, weil ich ein netter Typ bin. Allerdings kam es, wie es kommen musste: Gerade am Amazon-Gebäude vorbei, wurde ich telekommunikativ abgelenkt und fuhr an Wolken vorbei. Der Handwerker hielt die Klappe, anstatt mich aufmerksam zu machen. Als die Ablenkung beendet wurde, hatten wir die nachfolgende Autobahnauffahrt schon fast erreicht und mir dämmerte, dass mein Mitfahrer mittlerweile weiter von Wolken entfernt war, als zu dem Zeitpunkt, als er auf dem Beifahrersitz platzgenommen hatte. Er nahm es mit Fassung.

Dann kam ein Tag, den ich nur als Kulturschock bezeichnen kann. Der Tourenfürst hatte mich freigemacht, um mir den TNT-Betrieb mal grob zu zeigen, um festzustellen, ob ich damit klarkam. Magnus riet mir dringend davon ab, mich mit auf TNT einzulassen: Er selbst war vor einigen Jahren dort gefahren und habe mit den Leuten im Depot (nicht mit den Fahrern) schlechte Erfahrungen gemacht. “Die behandeln Dich nicht wie einen Menschen!” sagte er. Das schreckte mich keineswegs – denn wo sollte da der Unterschied zu diesen beiden Hexen in der ToF-Abfertigung sein? Diese Trulla mit der staubigen Dauerwelle, deren Nachname mit G anfängt, behandelt uns Fahrer auch nicht wie Menschen.

Ich fuhr mit dem mir weiterhin zugeteilten Fahrzeug morgens um etwa sechs Uhr ins TNT-Depot in Urmitz – und wurde gleich wieder rausgeworfen. Ein Auto mit ToF-Aufdruck dürfe hier nicht auf dem Gelände stehen. Also parkte ich hundert Meter weiter im Industriegebiet.
Das Depot ist klein – keine 50 m lang, vielleicht 25 m breit, Stellplätze an der Rampe für sechs bis höchstens acht Kleintransporter, weitere Parkplätze auf der gegenüber liegenden Seite des Hofs, 30 Fahrer am Werk. Im TNT Depot fand ich ein im Kreis (oder eher: im Rechteck) laufendes Paketband vor, mit einer Länge von höchstens 20 Metern. An einem Ende wurde Ware aus Gitterwägen aufgelegt, die Fahrer standen drumherum und nahmen sich, was sie brauchten. Paletten wurden an der Nordwand gesammelt. Sehr übersichtlich.
TNT liebt scheinbar Papierkrieg: Jeden Tag werden Formulare mit Daten ausgefüllt, mit Kilometerständen und Zeiten und Stoppzahlen, es gibt eine Testrollkarte mit den erwarteten Paketen, danach bei Abfahrt eine Rollkarte mit der tatsächlichen Ladung – Papier, Papier, Papier, obwohl eine Menge dieser Informationsdarstellung vom Scanner erledigt werden könnte. Jeder Fahrer verbraucht jeden Tag etwa zehn Seiten Papier – kein Wunder, dass TNT pleite gegangen ist und verkauft werden musste, denn wo man so sorglos mit den kleinen Ressourcen umgeht, geht man auch unbedacht mit den großen um.
Immerhin: Abfahrtkontrolle. Mitarbeiter werfen einen Blick auf die Ladefläche, ob die Ladung gesichert ist. Bei ToF war das nie jemandem eingefallen. Aber bei TNT ist es auch notwendiger: Ich und mein Fahrer – nennen wir ihn Goldbart – hatten nicht annähernd das Auto voll, da war noch eine Menge Platz zum purzeln und rutschen.

Um 0700 ging es los. Unglaubliche Zeiten. Bei ToF kommt man ja vor lauter Fracht kaum mal vor halb Neun aus der Halle. Dafür ist jeder TNT-Fahrer sein eigener Frühdienst und muss neben so genannten 12ern also auch mit Expressen bis um 09:00 und 10:00 zurecht kommen. Schnell erreichbare Orte wie Koblenz (Stadt), Neuwied und (dank Autobahn) Limburg können sogar Expresse bis um 08:00 bestellen.
Wir fuhren Limburg (Umland). Goldbart erklärte mir die grundlegenden Schritte zur erfolgreichen Bewältigung eines Arbeitstags, sah auf die Rollkarte und sagte, dass wir zwischen halb Elf und Elf mit den Zustellern fertig sein würden und bis zum Eintreffen einer genügend hohen Zahl von Abholaufträgen am Nachmittag Pause machen würden.

In der Tat waren wir gegen halb Elf durch, und weil es ein sonniger Tag war, fuhren wir zum Baggersee in Diez. Die Zeit war erstaunlich, wenn auch weniger erstaunlich, wenn ich bedenke, dass mein TNT-Kamerad sich nicht scheute, innerorts grundsätzlich auf bis zu 70 km/h zu beschleunigen. Goldbart war so freundlich, meinen Eintritt am See zu zahlen. “Wir haben jetzt Zeit bis kurz vor Drei”, erklärte er, wechselte in eine Badehose und schwamm eine Runde. Aber das Wasser sei noch zu kalt. Er trocknete sich ab und machte es sich auf seinem Handtuch bequem. Drei Stunden nichts zu tun? Ich saß auf dem Rasen wie auf heißen Kohlen. Ging nervös hin und her, erweiterte meinen Radius mit der Zeit, betrachtete Kaulquappen im klaren Wasser, umrundete den Baggersee, telefonierte mit Felix, um ihm auf die Nase zu binden, dass ich hier gerade Pause machte. Ich kehrte zu Goldbart unter dem Bäumchen zurück. Eine weitere Fahrerin hatte sich zu uns gesellt, sie fuhr Limburg (Stadt). Allerdings rauchte sie auch, was meine Pause nicht angenehmer machte. Ich sah auf die Uhr: Noch über eine Stunde. Das Nichtstun machte mich fertig. Ich bat Goldbart um den Autoschlüssel, rollte meine Jacke zusammen und legte mich auf der Sitzbank schlafen. So verging die Restzeit. Dann kam Goldbart zurück und wir erledigten die Abholaufträge.

So gegen halb Sechs waren wir zurück im Depot. Die abgeholten Sachen wurden ausgeladen, von Lagermitarbeitern verbucht, die Fahrer per Unterschrift entlastet, und wir gingen nach Hause. Ich telefonierte mit dem Tourenfürsten und versicherte ihm, dass ich mit dieser Arbeit zurecht käme. Er sicherte mir “eine kleine, nahe Tour” zu. Na ja, ich hatte bereits genug erlebt, um solcherlei Aussagen nicht mehr wörtlich zu nehmen, aber ich war sicher, dass auch das Übelste, was TNT in Urmitz zu bieten hatte, weit unter den alltäglichen Standards von Transoflex in Metternich liegen würde.

9. April 2017

Die Fracht am Rhein (Teil 14)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 15:32

Zeitsprung. Nach dem Oktober 2013 befinden wir uns mitten im Weihnachtsstress, der prinzipiell jedes Jahr gleich ist, nur, dass eben dieses Jahr die Frachtzahlen im Vergleich zum Jahresdurchschnitt nicht ganz so stark anstiegen, weil die verdammten Jahresdurchschnittszahlen schon deftig waren. Und ich sage auch gleich an dieser Stelle, dass der Januar erneut keine Linderung brachte. Es ging fast genauso weiter. Ich überspringe kleinere Stichworte von Unfällen und Staus und Hinweise auf Leute, wie zum Beispiel: “Niehl: Nie bei Frau L. abgeben!”, weil ich schlicht nicht mehr weiß, was gemeint ist. In Niehl lebt ein IT-Fachmann, ich glaube, er baut Computer nach Kundenwunsch zusammen, und als ich zum ersten Mal dort war, war sein Haus gerade kein Rohbau mehr, aber die Einfahrt war bei feuchter Witterung ein Schlammacker. An eine Frau L. und Probleme mit einer solchen kann ich mich nicht erinnern.

Niehl ist ein kleiner Flecken östlich von Mettendorf, und jetzt, wo ich daran denke und das Stichwort überprüfe, fällt mir auf, dass Niehl in meinem Blog scheinbar noch nie genannt worden ist – das sollte eigentlich nicht sein, denn ich kann mich an eine andere Anekdote, vermutlich aus dem Jahr 2012 noch, deutlich erinnern. Es gibt nämlich einen gleichnamigen Ort bei Köln, der wirtschaftlich scheinbar nicht unbedeutend ist, denn ein Anwohner erzählte mir, dass es in den vergangenen Jahren zweimal vorgekommen sei, dass jeweils ein großer Sattelschlepper in das kleine Örtchen eingefahren sei, und nicht wieder ohne weiteres herauskam. Die Fahrer wollten nach Köln-Niehl und hatten sich bei der Zieleingabe auf dem Navi vertippt und – scheinbar in völliger Verkennung der geografischen Lage der Stadt Köln – die Autobahn an einer völlig unsinnigen Stelle verlassen, ohne den Navi in Frage zu stellen. Da mussten kleine Helfer kommen, die den Trailer entluden, damit das Gespann ohne Gefahr eines hohen Sachschadens wieder aus der Gasse kam.

Locker auch die Anekdote vom Mettendorfer Warenannehmer der Firma Hubor & Hubor: Die Warenannahme ist seine Werkstatt, wo er ständig damit beschäftigt ist, Einzelteile irgendwie miteinander zu verbinden. An einem schönen Nachmittag kam ich rein, sah ihn bei der Arbeit und rief ihm zur Begrüßung zu:
“Na, Herr X, wieder einen am Löten?”
“Mensch,” gab er zurück und richtete sich grinsend auf, “das wär jetzt mal was!”

Na ja, kleine Anekdoten. Dennoch ist es mir ein Bedürfnis, in den März 2014 zu springen.

Gerüchte bewegen sich schneller durch die Halle, als es für einen Telefonanruf von einem Ende zum anderen benötigen würde. Am 10. März erfuhren wir so nebenher, dass Magnus seinen Vertrag als selbständiger Fahrer nicht mehr bei den P+R-Brüdern habe, sondern wie früher bei JP. Dafür wurde keine Begründung geliefert, aber eben diese Abwesenheit einer Erklärung machte die Sache sehr verdächtig.
Am 15. März knallte die Bombe dann bei uns rein: P+R war pleite. Peter und Rama hielten eine kurze Versammlung ab, in der sie uns informierten. Und dafür war ich von Trier nach Koblenz umgezogen und hatte mich durch die damit verbundenen Kosten beinahe ruiniert? Ich weiß nicht, ob ich das in dem Blogeintrag über den Umzug so festgehalten habe, aber nachdem die unvermeidlichen und die wichtigsten Ausgaben getätigt waren, habe ich nach dem Besuch eines Baumarkts selbst überrascht festgestellt, dass mein Kontostand auf unter 100 E gesunken war. “Tut mir Leid,” sagte Peter, “ist nicht so gelaufen, wie wir uns das gedacht haben.” Apropos, Blick aufs Konto: Das Februargehalt war nicht überwiesen worden. Der weitere Weg wurde hinter den Kulissen besprochen.
Am 17. März war klar, dass die Fahrer bei JP weiter beschäftigt werden sollten, unter Beibehaltung der P+R-Arbeitsverträge im gleichen Wortlaut. Da ich einen recht guten Vertrag hatte, konnte ich mich da nicht beschweren, aber was war mit meinem Februargehalt?
Am 19. März wurde uns mitgeteilt, dass alle Gläubigerforderungen an JP abgetreten wurden und dass wir unsere ausstehenden Gehälter von dort erhielten, was auch bald danach geschah.
In jenen Tagen kam es jedoch obendrein zu einem heftigen Streit zwischen den Brüdern und dem Chefoberboss. Das würde keine Trennung im Guten werden. Es ging zumindest zum Teil um die scheinbar miese Tourenplanung, und die Sache eskalierte – die beiden Brüder machten sich aufgebracht aus dem Staub und ließen zwei fast fertig geladene Trierer Touren stehen, für die nun auf die Schnelle je ein Fahrer gefunden werden musste. War mir eigentlich egal, ich hatte immer noch selbst genügend Probleme, und auch der kommende April wartete mit Arbeitszeiten von über 70 Stunden pro Woche auf.

Am 07. April zum Beispiel sollte ich Pakete bei RENO in Bitburg abholen. Vielleicht unverkaufte Ware, die ihr modisches Haltbarkeitsdatum überschritten hat, was auch immer. Das kam öfter vor und das Problem dabei war, dass zu dem Zeitpunkt der Sprinter noch halbvoll war. Damit mich die Abholware also nicht störte, musste ich alles zuerst einen Schritt weit in Richtung Hintertür räumen, um das Zeug von RENO an die Kopfwand stellen zu können, und dann müssen die Lücken wieder geschlossen werden. Das kostet natürlich nicht wenig Zeit und ich mochte diese Stopps daher nicht besonders. An diesem Tag im frühen April des Jahres 2014 jedoch waren es nicht nur deutlich mehr Kartons als üblich, sie waren darüber hinaus auch weder verschlossen noch mit dem obligatorischen Abhollabel beklebt. Der Kunde muss auf den Labels unterschreiben und ich muss den Empfang quittieren, und all das musste noch ausgefüllt werden. Tolle Wurst.
Es erscheint mir heute nicht mehr voll nachvollziehbar, aber meine Notiz sagt eindeutig aus, dass mir der Gedanke sympathisch schien, alle im Laden umzubringen. Vielleicht gab es noch andere Komplikationen, die ich vergessen habe? Oder es war die Gelegenheit, wo mir solches Denken voll bewusst wurde? Ich ertappte mich dabei, wie es beim Einräumen laut sagte: “Irgendwann bring ich sie alle um…”, und ich sagte das in jenen Tagen öfter, was mich doch irgendwo erschreckte. Nur wundern konnte ich mich nicht darüber.

Irgendwie passend dazu eine Notiz über einen Beitrag im Deutschlandfunk in der Rubrik “Forschung Aktuell” mit der Meldung “Hunger macht aggressiv”. Wer hätte das gedacht? Da hatte tatächlich jemand eine wissenschaftliche Arbeit zu geschrieben. Richtig fundiert und akademisch wasserdicht – aber ich fragte mich amüsiert, wo hier denn der Erkenntnisgewinn liege? Dass Hunger aggressiv macht, weiß jeder. Wenn Du richtig Hunger hast, bist Du plötzlich bereit, einem Huhn den Kopf ab- und die Gedärme rauszureißen; ein Verhalten, das ich in normalem Zustand als extrem abstoßend empfinden würde.

Aber gut, immerhin hatte ich nur den halben April zu arbeiten, denn die zweite Hälfte hatte ich Urlaub, vom 17. April bis zum 02. Mai. Am 05. Mai unterschrieb ich einen neuen Vertrag bei JP-Transporte. Was irgendwo aberwitzig ist. Oder besser: Was sich als aberwitzig herausstellte, denn bereits am 07. Mai geschah folgendes…

Das mir aufgetragene Arbeitspensum hatte ein irrsinniges Maß. Schon wieder und immer noch. Vom Depot aus fuhr ich durch Ehrang nach Kordel, wo meine Zustellungen begannen. Von dort aus bediente ich die Gegend von Newel bis nach Trierweiler und Udelfangen, und von dort aus ging es erst nach Wolsfeld und Alsdorf, also dorthin, wo meine eigentliche Eifeltour überhaupt erst anfing. In den guten Zeiten im Sommer 2012 war ich um 10:30 Uhr in Irrel fertig und wusste so, dass ich zwischen halb drei und drei in Waxweiler fertig sein würde, aber nun, zwei Jahre später, hatte das alles keine Gültigkeit mehr. Mit Irrel war ich 2014 zwischen halb Eins und Ein Uhr fertig, neu hinzugewonnene Stammkunden verlangten kilometerweite Abstecher von der Hauptroute, und wenn ich dann am späten Nachmittag in Waxweiler alle Kunden durch hatte, fuhr ich nicht etwa nach Hause, sondern oft noch Bickendorf, Fließem, Badem und Kyllburg.

Und es geschah am 07. Mai 2014 in Kyllburg, dass ich just vor der Apotheke hinter einem parkenden Auto stehenbleiben musste, um den Gegenverkehr vorbeizulassen. Als ich dann wieder ausscheren wollte, um wieder Fahrt aufzunehmen, rollte ich auf der abschüssigen Straße ein Stück zu weit zurück und rammte mit dem Trittbrett das kleine Auto einer älteren Dame. Motorhaube und Kühlergrill waren eingedellt. Wir besprachen uns kurz, ich rief die Polizei an, die aus Bitburg anrücken musste, und dann warteten wir eine knappe Stunde. Währenddessen begann es in Strömen zu regnen, und ich tat, was ich in diesen Situationen immer tue: Schlafen. Als der Streifenwagen eintraf, schien wieder die Sonne, als könne nichts den Himmel trüben.
Der Unfall wurde aufgenommen und einer der Polizisten machte die Bemerkung, dass er diesen Sprinter kenne. Ein Kollege von mir war wohl vor nicht allzu langer Zeit in einen Unfall damit verwickelt gewesen und hatte die Sache durch Nicht-Auskunft hinausgezögert, weswegen besagter Polizist gewisse “Vorbehalte” gegen meinen Arbeitgeber hegte (der sich wohl ebenfalls nicht sehr konstruktiv bei der Aufklärung der Angelegenheit verhalten hatte). Immerhin schien er das nicht auf mich zu übertragen und er zeigte Verständnis für meine Situation, die durch Überarbeitung und Mangel an Ruhe gekennzeichnet war.

Das war dann das Ereignis, das das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen brachte. Ich fuhr nach den Formalitäten sofort nach Plaidt, um meinen Unfallbericht abzugeben. Der Chefoberboss war nicht da, von daher nahm ich mir ein weiteres Blatt Papier aus dem Drucker und verfasste in drei Zeilen meine Kündigung. Ich hatte die Schnauze endgültig voll. Ich hatte keine Erklärung dafür, wie ich so weit zurückrollen konnte, um das Auto der Dame zu beschädigen, ich konnte auch nicht sagen, ob sie vielleicht zu nah aufgefahren war, und ich hatte möglicherweise verpasst, in den Außenspiegel zu schauen. Ich hatte und habe keinerlei Erinnerung an den Hergang des Unfalls. Dieses Mal war es das Auto – vielleicht würde ich demnächst die Oma selbst anfahren? Nein, jetzt war Schluss. Kündigung, Name, Datum, Unterschrift, Ihr könnt mich alle mal.

Der Chefoberboss war tags drauf in der Halle, um mich zu sehen. Versprach Verbesserungen, die ich in den vergangenen Monaten schon öfter von anderen Leuten gehört hatte, und meinte, ich könne doch nicht erwarten, dass binnen weniger Wochen alles gut reorganisiert werden könne. Er schob den Schwarzen Peter an Transoflex weiter, er sei ja bereit, mehr Touren zur Entlastung der Fahrer einzurichten, beharrte aber darauf, dass der Konzern dagegen nicht bereit sei, mehr Touren zu bezahlen, und aus eigener Tasche werde er das nicht machen. Ich entgegenete, dass ich schon seit Januar 2013 auf eine bessere Organisation des Zustellbetriebs warte, dass sich nichts verbessert habe, und dass ich schlicht nicht mehr könne. Allein bei dem Gedanken an den Unfall zitterte meine Hand. Ich war mit den Nerven am Ende, Punkt. Ich erklärte mich allerdings bereit, noch einen Nachfolger auszubilden.

Eine Woche darauf, am 15. Mai, war allerdings irgendwas Größeres mit Felix passiert, weswegen ich mich bereit erklärte, noch zwei Monate weiter zu machen, aber ich weiß nicht mehr, um was es ging. Es mag in jenen Tagen gewesen sein, dass ich vertretungsweise an der Mosel unterwegs war. Dabei fuhr ich nicht die ganze Tour, sondern nur einen Teil, und der war anspruchsvoll genug, also ganz anders als mein Eindruck, den ich vor zwei Jahren gewonnen hatte, als ich mit Felix einen Tag lang unterwegs gewesen bin. Ich habe dazu leider keine näheren Notizen gemacht und erinnere mich nur bruchstückhaft an einige Dinge, wie den Supermarkt, wo Felix Hausverbot hat, an eine verschachtelte Apotheke, an eine weitere, wo ich eine Angestellte im Kittel ihrer Kollegin erwischte, nachdem sie nicht verstand, warum ich sie mit dem falschen Namen angesprochen hatte (“Das steht aber auf Ihrem Namensschild…”), eine Straße mit mehreren Hundert Hausnummern, ein Industriegebiet “Mont Royal”, das Nest Gornhausen, das nun wirklich weit ab vom Schuss liegt, die Fahrradhändler, die einem schon mal das halbe Auto allein füllen können, und eine Art Spa in einer Villa, wo mich ein Auftrag eine Weile aufhielt. Ich könnte daraus keine zusammenhängende Geschichte machen.

Ach ja, ich fasste den Plan, mir zwei leere Glasflaschen bei einem der Hersteller zu besorgen, um Dr. Pepper Cola einzufüllen, weil ich das nostalgische Geschmackserlebnis einer Limonade aus der Glasflasche wiedererleben wollte. Ich kam während jener Tage allerdings nicht dazu, bat schließlich Felix, mir Flaschen zu besorgen, und der drückte mir nach zweimaliger Wiederholung meiner Bitte schließlich zwei Flaschen ohne Etiketten in die Hand, die ziemlich eindeutig von ihm selbst ausgetrunken und gerade mal ausgespült worden waren und noch nach Weißwein rochen. Na ja, was soll’s. So isser halt.
Auffällig war noch, dass mir der vor langem verschwundene fröhliche Winzer eine SMS schickte, in der er mir mitteilte, dass ich in seinem Heimatort an ihm vorbeigefahren sei, ohne ihn zu erkennen. Wie konnte man ihn nicht erkennen? War er denn fett und hässlich geworden? Die Frage blieb leider ungeklärt.

Für den 19. Mai stehen dann aber mehrere Punkte in meinen Notizen.
Der bedeutendste Punkt war, dass der Tourenfürst auf mich zutrat. Er habe gehört, dass ich bei JP unzufrieden sei, ob ich denn nicht für ihn bei TNT fahren wollte? Ich erinnerte mich natürlich gern an die Aussage des Alten Kroaten, dass Paketzustellung bei TNT bedeutend weniger anstrengend sei, als bei Transoflex. Ich bekundete also Interesse, ohne noch weiter darüber nachzudenken – bloß weg hier! Der Tourenfürst bot an, mit dem Chefoberboss, der ja auch sein Vertragsgeber war, über meine Kündigung zu sprechen, die zum 15. Juni wirksam werden sollte.

Der zweite Punkt am 19. Mai ist, dass mir mein zweites Rollbrett geklaut wurde. Ich hatte ja eines irgendwo in Saarburg vergessen und niemand unter den Kunden dort hatte es je wieder gesehen. Danach hatte ich ein neues gekauft, nur halb so groß, aber besser als nichts. Ich verlieh es regelmäßig morgens an Kollegen, die damit ihre eigenen Zustellhindernisse oder Abholer zum Verschlusslager brachten, da Hubwägen in dem Depot ja Mangelware sind. In der Regel stellte es der Ausleiher irgendwann wieder unauffällig an meinen Platz, wo ich es dann zur eigenen Verwendung wieder vorfinden würde. Nicht so an jenem Morgen. Ich sah irgendwann auf die Uhr und stellte fest, dass ich meine eigenen Sachen mal nach vorn bringen musste, aber mein Rollbrett war nicht da. Ich fragte den heutigen Ausleiher, und der sagte mir, es tue ihm Leid, er habe das Rollbrett wohl versehentlich im Verschlusslager vergessen. Ich fragte den Rocker dann danach, aber dem war kein Rollbrett aufgefallen. Meine Umfrage unter weiteren Kollegen blieb ergebnislos. Super – Rollbrett weg, mehr Mühe und Frust für mich.

Zum dritten Punkt am 19. Mai 2014 komme ich im nachfolgenden Teil dieser Serie.

2. April 2017

Die Fracht am Rhein (Teil 13)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 13:39

Wir befinden uns jetzt im Oktober 2013. Für Felix ein richtig toller Monat, da ihm seine Mühle glatte dreimal unterm Hintern zusammenbrach und er mehrere Stunden Zeit verlor, bis jeweils ein Ersatzwagen bei ihm war und er mit dem Überbringer alle Pakete umgeräumt hatte. Felix war völlig bedient.

Ich fühlte mich Ende September bereits völlig bedient, da ich ja nicht nur Eifeldörfer, sondern auch noch ein paar Bitburger Dörfer anfuhr, weil der neue Bitburger Fahrer es nicht einsah, die komplette ihm zugeteilte Arbeit auch zu erledigen. Statt dem aber Druck zu machen, bekam ich zusätzliche Arbeit – so zwei Stunden pro Tag. Ich knackte die 70-Wochenstunden-Marke.
Ich fasste also den folgenden Plan: Da die meisten Kunden Stammkunden waren, würde ich bestimmte Dörfer auslassen und nur alle zwei Tage anfahren, denn ob ich jemandem drei Pakete oder sechs Pakete brachte, machte keinen echten Unterschied im Zeitaufwand. Auf meiner Tour kam der Zeitverlust durch das “Kilometer schrubben”.

Ich würde also an einem Tag zum Beispiel Butzweiler, Newel, Aach und Trierweiler weglassen und stattdessen gleich über Kordel und Welschbillig nach Irrel fahren. Am nächsten Tag würde ich von Neuerburg über Waxweiler direkt zur Autobahn und nach Hause fahren, anstatt erst noch die 3DI-Route anzusteuern (Dasburg, Dahnen, Daleiden, Irrhausen, dazu noch Arzfeld), sofern der Rollifahrer in Irrhausen, der wegen eines seitlichen Darmausgangs spezielle Exkrementbeutel benötigte, nicht ebenfalls auf dem Plan stand. Ich fasste die Stopps, die ich überspringen wollte, gleich am Morgen zu einem Stopp zusammen, setzte die Sendungen auf “Kunde abwesend” und fuhr gegen 17 Uhr aus Neuerburg heraus.
Das blieb Peter natürlich nicht verborgen, weil er die Zustellungen seiner Fahrer immer wieder über sein Citrix Dispoprogramm verfolgte. Also rief er mich an.
“Du hast die Stopps bereits heute morgen zusammengefasst – hast Du das also geplant?”
“Ja, das habe ich eiskalt geplant. Ich hab keinen Bock, jeden Morgen um halb Fünf in der Halle zu stehen und abends gegen Sieben irgendwann nach Hause zu kommen!”

Die heute ausgelassene Nordroute kostete etwas mehr als eine Stunde, von der AS Waxweiler bis nach Hause dauerte es eine weitere Dreiviertelstunde.
Peter nahm das zähneknirschend hin, machte mir aber am Folgetag klar, dass das auch keine Lösung sei.

Am 14. Oktober kam ein vorläufiger Höhepunkt. Ich hatte wohl gegen Mittag ein schweres Paket unvorsichtig angehoben und merkte kurz danach, dass ich mir einen Muskel am Rücken gezerrt hatte – und das nicht zu knapp. Bald konnte ich nicht mehr durchatmen, mehr als vorsichtig flach atmen ließen die Schmerzen nicht zu. Natürlich musste ich auch möglichst vorsichtig beim Fahren sitzen. Interessanterweise war sich draußen zu bewegen und Pakete zustellen nicht so das Problem – das Problem war im Auto zu sitzen und zu fahren. Machte ich eine kleine falsche Bewegung, ja, wenn ich nur mal falsch atmete, bekam ich sofort einen heftigen Krampf in der Mitte des Rückens, gleich rechts neben der Wirbelsäule. Ich fuhr dann schreiend, während mir Tränen das Gesicht herabliefen.

Der 14. Oktober war – mein Leben hasst mich zuweilen – natürlich ein Montag. Es dauerte bis Donnerstag, bis die Krämpfe ausblieben, es zog dann nur noch und ich konnte mich dann übers Wochenende weitgehend auskurieren. Aber ich hatte genug, zuviel war zuviel und die Konsequenzen erschienen mir tragbarer als das, was ich gerade erlebte. Ich rief Peter gleich am Nachmittag des 14. an und teilte ihm mit, dass ich diesen Job nicht länger machen könne. Ich war völlig erschöpft und die Schmerzen machten mich wahnsinnig.
Ob ich gegen die Schmerzen nicht eine Tablette nehmen könne, meinte er.
“Du willst, dass ich unter Einfluss von Betäubungsmitteln Auto fahre? Kann ich das schriftlich haben?” fragte ich zurück. Darauf gab er lieber keine Antwort. Aber ich machte ihm klar, dass es mir nicht nur um die aktuellen Rückenprobleme ging, sondern um die Arbeitsbedingungen im Allgemeinen – ich war das, was man “am Ende” nennt. Er schien aber beeindruckt, denn er rief mich abends noch einmal an, um die ganze Geschichte zu hören, und tat, was er immer tat. Versprach Besserung und bat um noch etwas Geduld. Der Bitburger Fahrer wurde in der Folge etwas stärker belastet und immerhin rutschte meine Wochenleistung für eine Weile unter die Marke von 70 Stunden. Natürlich nicht allzu lange, denn im Oktober beginnt jedes Jahr aufs Neue das Weihnachtsgeschäft.

Lenken wir den Blick kurz auf neue Kollegen. Da wäre zum einen “Hibbel”, der Bitburger Fahrer, und zum anderen “das Schnitzel”. Hibbel hatte ihm den Namen gegeben. Keine Ahnung, warum. Das Schnitzel war wohl ein Verwandter des Tourenfürsten (der im Teil 3 dieser Serie kurz vorgestellt wurde), und manche Leute erzählten, er habe schon einige Lieferdienste hinter sich und habe überall bei mindestens einem Kunden Hausverbot erhalten, weil er keine Kritik vertrug – sprich: weil er zu schnell über den Hof gefahren war und dann auch noch diskutiert hatte, anstatt einfach zu sagen, dass es nie wieder vorkommen werde. Klar hatte der auch irgendwo ein sprichwörtliches Rad ab, aber ich fand ihn eigentlich ganz umgänglich. Im Gegensatz zu Hibbel.

Hibbel war streng darauf bedacht, seine Arbeitszeit so kurz wie möglich zu halten. Das bedeutete, dass er fuhr wie eine gesengte Sau (er war innerorts schon mit über 70 geblitzt worden, was er auch unumwunden zugab) und er wehrte sich durch strikte Verweigerungshaltung dagegen, sein gesamtes Tourgebiet zu fahren. Wenn ihm irgendwelche Ortschaften vom Zeitaufwand nicht zusagten, dann ließ er sie aus und fuhr dann freitags mal hin, weil freitags oft nicht ganz so viel los ist. Es war ein asoziales Kalkül. Zum Beispiel gibt es da einen Flecken mit Namen Echtershausen, ein paar vergessen wirkende Häuser am Ende einer etwa sechs Kilometer langen Sackgasse. Dort lebte ein älterer Herr, der wegen gewisser Alterserscheinungen auf Pflegeartikel angewiesen war, die er spätestens alle zwei Wochen erhielt. Der Herr war nicht nur nett, sondern auch durchaus dankbar, wenn man ihm seine Sendungen zeitnah zustellte, denn wie ich in der Vergangenheit zumindest andeutete, gibt es Ware, ohne deren Verfügbarkeit es mit der Menschenwürde schnell vorbei ist. Der bekam seine Sachen dann eben nicht montags, sondern erst freitags. Hibbel war das scheißegal. Der lag nach eigener Darstellung nachmittags um Fünf geduscht und gesättigt auf der Couch. Da hatte ich noch zwei Stunden vor mir.

Mir war klar, dass es sich um einen Typen handelte, bei dem Druck nur zu mehr trotziger Blockade führen würde, also versuchte ich es mit Softpower, fixte ihn zum Beispiel mit Dr. Pepper Cola an, die er auf Anhieb mochte. Immerhin kamen wir in der Halle gut miteinander aus, aber außerhalb der Halle endete für ihn die Kameradschaft. Er war ein leuchtendes Beispiel dafür, dass man auch als Verweigerer einen solchen Job behalten kann – denn obwohl es Arbeitsuchende in genügender Anzahl gibt, gibt es nur ganz wenige Leute, denen man eine solche Arbeit geben kann, ohne dass die entsprechende Tour quasi zusammenbricht. Ein Verweigerer ist nur die zweitschlechteste Wahl: Die schlechteste ist jemand wie Sub75, der bei allem guten Willen nicht mehr leisten kann als vielleicht 50 %, während der Verweigerer immerhin 80 % leistet. Das nimmt dem Arbeitgeber einiges von seinem Drohpotential. Was bei mir natürlich trotzdem nicht zog, weil ich meine Kunden nicht im Stich lassen wollte. Ich bin halt so einer.

Ich musste also 120 % leisten und wurde kreativ darin, Abkürzungen zu finden.
Da gibt es zum Beispiel einen Waldweg zwischen Altscheid und Hamm, gerade gut genug, um ihn mit dem Sprinter zu fahren. Auf diese Weise sparte ich ein paar Kilometer und konnte quasi von Altscheid fast direkt nach Wiersdorf fahren, ohne den ganzen See weiträumig durch Koosbüsch und Hermesdorf umfahren zu müssen.
Jetzt geschah es aber an einem Tag im Herbst, dass ich aus vergessenen Gründen mit einem Ersatzwagen unterwegs war. In der Regel fuhr ich einen weißen 211er Sprinter, an jenem Tag war ich mit einem 313er Sprinter in ToF Farben unterwegs, als ich den Waldweg hinunterfuhr und die Brücke über die Prüm in mein Sichtfeld rückte.

Mir wich das Blut aus dem Kopf und mein Magen wurde so flau, dass mir spontan sogar im Sitzen die Knie weich wurden: Der Weg aus dem Wald heraus war wegen des felsigen Hangs rechts und dem Bach auf der linken Seite recht eng und ließ keinen Platz zum Ausholen oder Kurbeln zu, und der Weg endete am Brückenansatz in einer rechtwinkligen Linkskurve. In diesem Momant, als ich die Brücke sah, überkam es mich siedend heiß, dass mein Wagen heute einen Meter länger war als sonst. Ich brach in Schweiß aus. Wenn ich den Sprinter nicht um diese Ecke steuern konnte – und das war mehr als fraglich – saß ich bis zum Hals in der Fäkalientonne. Ich käme nicht mehr nach vorn, weil die Kurve zu eng ist, ich könnte aber auch nicht mehr zurück, denn selbst wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, das Fahrzeug zu wenden, wäre ich damit nie im Leben den abschüssigen Waldweg wieder hoch gekommen. An rückwarts Fahren war erst gar nicht zu denken. Auch die Chancen, (mal wieder) einen Schlepper aufzutreiben, der in der Lage wäre, meinen Transporter da hochzuziehen, rückwärts, wohlgemerkt, schätzte ich als sehr gering ein. Im schlimmsten Falle müsste eine Art Kran bestellt werden, der den Sprinter über den Bach hob.

Aber ich musste es zumindest versuchen. Ich nahm so viel Platz zum Ausholen, wie irgendwie möglich war. Nach drei Versuchen wurde klar: Die Fahrspur der Brücke war aber zu eng – ich würde mir am linken Pfeiler die Seite eindrücken und dabei vielleicht sogar die Brücke beschädigen, denn die ist aus Holz.
Letzte Chance: Die Fahrspur der Brücke wird beidseitig durch eine Holzbohle von 25 cm Durchmesser begrenzt, erst jenseits dieser 25 cm beginnt das Brückengeländer. Ich holte also tief Luft und setzte den rechten Vorderreifen auf die Bohle, die Fahrzeugschnauze kann also nur zwei Finger breit vom Geländer entfernt gewesen sein, das Rad dürfte daran gescheuert haben. Zentimeter um Zentimeter schob ich den Transporter weiter und behielt scharf die linke Seite mit dem Spiegel im Auge – und es passte! Dabei waren zwischen Pfeiler und Blech keine drei Zentimeter mehr frei. Ich atmete kurz durch und verbuchte dies unter Erfahrungen: Fahr niemals mit einem 313er diesen Weg runter!

Am 27. Oktober 2013 klingelte mich die Polizei um 09:00 Uhr aus dem Schlaf. Ich war natürlich nicht wenig erstaunt und war sicher, dass ich keine Verfehlung begangen haben konnte, die ein persönliches Erscheinen an meiner Haustür notwendig machte. Die Sache war schnell erklärt: Jemand hatte sich des Nachts am Sprinter zu schaffen gemacht, hatte die nicht zugestellten Pakete geöffnet, zum Teil mitgenommen und bei Nichtgefallen des Inhalts denselben auf der Straße und in Vorgärten verteilt.
Wie war das möglich? Ganz einfach. An diesem Wochenende fand irgendeine Feierlichkeit vermutlich am Sportplatz statt und ich hatte Samstagabend eine größere Anzahl von Jugendlichen beobachtet, die die Straße hoch in diese Richtung gezogen waren. Der Verdacht lag also nahe, dass sich von denen welche genug gelangweilt hatten, um auf dem Weg nach Hause mal eben zu checken, ob die Türen von dem Sprinter da auch abgeschlossen sind.

Dass JP Transporte mit Schrottkisten fährt, ist ja hinlänglich bekannt. In meinem speziellen Fall war bei dem 313er das Schloss der Hintertür nicht mit der Zentralverriegelung verbunden, man hätte also theoretisch mit dem Zündschlüssel mechanisch schließen müssen, wenn, ja: wenn, das Schloss hinten noch das Originalschloss gewesen wäre. Deswegen die mangelnde Verbindung zur Zentralverrieggelung, und: Der Zündschlüssel passte nicht. Ich konnte diese Tür nicht zusperren. Zumindest wusste ich nicht, wie ich es sonst anstellen sollte. Alarmanlage: Fehlanzeige.
Nun, was hatte ich denn noch dabei? Hundetabletten, Microfasertücher, Reinigungssteine gegen Hornhaut, Kompressen, eine Kabelrolle und das einzige Stück, das vollständig fehlte: Ein Radio der Firma Karcher AG. Ich machte eine Aussage und der verteilte Kartoninhalt wurde zur Beweissicherung mitgenommen. Ich holte das Zeug dann Anfang November irgendwann wieder im Polizeipräsidium ab und brachte es ins Depot zurück, von wo die Reste dann an die Versender zurückgesandt wurden.

Der Chefoberboss von JP Transporte war davon natürlich total unbegeistert und fragte mich, warum ich die Tür nicht auf die verbliebene Art und Weise verriegelt hätte: Man müsse per Knopf von innen abschließen und dann zur Seitentür hinausgehen, an der die Zentralverriegelung ja noch funktioniere.
“Woher soll ich das wissen? Sowas hat mir niemand gesagt.”
Das dürfte einiges gekostet haben, denn letztendlich war ToF ein Schaden entstanden, weil die Fahrzeuge des Fuhrunternehmers nicht vorschriftsmäßig funktionierten.

29. Januar 2017

Die Fracht am Rhein (Teil 12)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 14:43

Bei meiner Schilderung des Sommers habe ich meinen Umzug nach Koblenz übersprungen. Ich werde das im kommenden Beitrag nachholen. Da ich aber nun am Ende von Teil 11 bereits auf zwei der drei Praktikanten im September 2013 hingewiesen habe, sei hier die etwas umfangreichere Geschichte des dritten Praktikanten erzählt, einem traurigen Vertreter der Sorte, die wirklich wollen, die ein geordnetes Leben zum Ziel haben – denen aber die Befähigung fehlt. Mit einem Sprichwort (dessen Ursprung ich nicht herausfinden konnte):
“Jeder ist seines Glückes Schmied – sofern ihm das Schicksal nicht Hammer und Amboss versagt hat.”
Nennen wir ihn Lennie.

Lennie war ein netter Typ. Man konnte ihn gar nicht anders bezeichnen. Ich glaube nicht, dass er schon 20 war; etwa so groß wie ich, aber circa 20 kg schwerer, etwas formlos, ohne bedeutende Mukelkraft. Ich erklärte ihm die grundlegenden Vorgänge, also woran man die eigenen Pakete auf dem Band erkennt, wie man sie ordnet und effizient aufstapelt, wie der Scanner funktioniert, welche Papiere man so braucht, und mit welchen Kniffen man Pakete schneller findet, die man am Ende doch noch suchen muss. Er sah sich alles interessiert an, hörte zu und nickte am Ende von Informationseinheiten.
Ich drückte ihm einen kleinen Notizblock und einen Kugelschreiber in die Hand.
“Ich kann nicht an alles denken. Mach Dir Notizen zu dem, was ich sage und zu Dingen, die Dir auffallen, damit Du später, wenn Du allein fährst, Orientierungshilfen hast.” Wie alle anderen Praktikanten vor ihm machte er natürlich keine Notizen, von daher dachte ich mir nicht allzu viel dabei.

Wir fuhren los in Richtung Eifel. Ich erinnere mich nicht mehr an den konkreten geografischen Rahmen der Tour, die je nach Fähigkeiten der benachbarten Fahrer ständig in den Randgebieten geändert wurde. Ich glaube, es war angedacht, die Ausfahrt Bitburg zu nehmen, um als erstes Oberweis anzufahren, aber in diesem ersten Drittel der Tour sollte mir meine Unfähigkeit zum Multitasking zu einem Verhängnis werden.
Die Einweisung eines potentiellen neuen Fahrers macht es notwendig, dass ich viel rede. Das allein ist schon ungewohnt für mich und macht es für mich schwierig, auf andere wichtige Dinge zu achten. Kurz vor der Anschlussstelle Bitburg bemerkte ich, dass die Tankanzeige leuchtete. Seit wann war die an? Ich wusste es nicht. Alle an JP Transporte angeschlossenen Fuhrunternehmer tankten bei Shell, die Eifel ist weitgehend frei von Shell. Von der Ausfahrt bis zur nächsten Shelltankstelle waren es 30 km, mit den Sprintern konnte man riskieren, mit der Reserve noch 65 km weit zu fahren, bevor man Gefahr lief, stehen zu bleiben. Seit wann war die verdammte Anzeige an? Ich konnte es beim besten Willen nicht sagen und hoffte auf das Beste.

Wir fuhren nach Oberweis, Bettingen, Holsthum, dann über Prümzurlay Richtung Prümerburg, zu dem Kunden, dessen Zauntor ich angefahren hatte (beschrieben in Gaytal Kamikaze 12), aber hinter dem Ortsausgang von Prümzurlay, gerade ein Stück in den Wald hinein, stotterte der Motor und ging aus. Das hieß, zumindest bergan war nichts mehr zu machen. Ich wendete das Fahrzeug, rollte, brachte den Motor wieder zum Laufen. Bis zur nächsten Shell in Echternach würde ich ebenerdig fahren können – aber das waren noch mehr als 10 km. Und beim Wiedererreichen des Orts war es vorbei. Der Motor machte keinen Mucks mehr. Handbremse, Warnblinker. Ich ließ Lennie im Auto und wendete mich auf gut Glück nach links die Hauptstraße hinunter. Vielleicht ließ sich jemand finden, der mir helfen konnte.

Nach 500 m fiel mein Blick in einen Innenhof, wo zwei Männer arbeiteten und ein Traktor herumstand. Ich schilderte den beiden meine Lage und kaufte ihnen fünf Liter Diesel zum handelsüblichen Preis ab. Ich bekam auch einen Einfülltrichter. Allein, das war nicht die Lösung meines Problems. Wird die Treibstoffleitung leer gesaugt, ist es scheinbar schwierig, wieder Sprit zum Motor zu pumpen. Ich ließ die Maschine juckeln, bis das Geräusch mir sagte, dass die Batterie langsam schlapp machte. Ich ging also zu Fuß zu meinen beiden Helfern zurück und bat darum, mir auch zu helfen, den Sprinter wieder in Bewegung zu versetzen.
Wir spannten den Schlepper vor den Transporter, und ließen uns ein paar Hundert Meter weit ziehen, wobei ich die Technik verwendete, den Motor bei eingeschalteter Zündung über das Kupplungspedal kommen zu lassen. Das funktionierte, also bedankte ich mich bei allen Beteiligten für ihre Geduld. Wir bedienten den Kunden bei Prümerburg, arbeiteten Irrel ab und machten uns schleunigst auf den Weg nach Echternach, um vollzutanken.

Mit allem drum und dran hat die Aktion mehr als eine wertvolle halbe Stunde gekostet. Ich habe wirklich den Hang dazu, mit Praktikanten in haarige Situationen zu kommen. Man erinnere sich daran, wie ich mit Doc bei Daleiden im Schnee stecken geblieben war (siehe Fracht am Rhein 1). Mangel an Fähigkeit zum Multitasking ist mein Problem, für das ich immer noch keine gute Lösung weiß. Da es sich hierbei um einen ganz alten Hut handelt, kommen wir lieber zu dem Problem, das Lennie hat, das meine Angelegenheiten wie Scheinprobleme in einem Groschenroman erscheinen lässt.

Lennie hatte eine Ausbildung zum Ziergärtner abgeschlossen. Immerhin. Ein Ziergärtner hat aber mehr noch als ein Landschafts- und Gartenbauer das Problem, dass er im Winter arbeitslos ist. Wenn die Natur das Blühen einstellt, werden diese Leute auf die Straße gesetzt und müssen hoffen, dass man sie im kommenden Jahr wieder beschäftigt. Außerdem sagt man, dass Ziergärtner so ein Beruf ist, den man nimmt, wenn man für nicht viel geeignet ist. Intellektuell sei die Arbeit nicht fordernd und wenn es einem an Kraft mangelt, dann könne man so Sachen wie Gartenbauer und Müllmann eigentlich auch vergessen. Heißt es, ich habe beides nie selbst ausprobiert. Danach offenbarte sich der Kern der Schwierigkeiten in seinem Leben: Er litt an einer ausgeprägten Legasthenie und war auf eine Schule für Minderbegabte gewesen, und er war wohl minderbegabt auf eine derartige Weise, dass er mit über 18 Jahren noch immer in Betreuung lebte.
Das Gleiche galt für seine Freundin, die er auf der Schule kennen gelernt hatte. Die beiden wollten einen gemeinsamen Haushalt gründen, aber der Betreuer durfte nur dann zustimmen, wenn wenigstens einer der beiden einen Arbeitsvertrag vorweisen konnte. Lennie brauchte den Job, um sich einen Traum zu erfüllen, den Traum vom selbständigen Leben.

Wir kamen natürlich beide spät nach Hause, nach etwa sieben Stunden Schlaf stand ich wieder auf, nahm mein kleines Frühstück ein und ging wieder zur Arbeit. Lennie erschien erneut – er besaß also Motivation genug für eine solche Arbeit.
Da Legastheniker nicht gut im Schreiben und im Ordnen von Informationen sind, hatte ich am Abend zuvor noch Listen für ihn vorbereitet: Alle Postleitzahlen des Tourgebiets, insgesamt etwa ein Dutzend Zahlen, deren letzte drei Stellen sich jeweils unterschieden. Des weiteren die Namen der Orte, in denen Stammkunden lebten, und zum Schluss eine aktuelle Version einer optimalen Tourreihenfolge: “Du musst zuerst die Postleitzahlen auswendig lernen, damit Du weißt, welche Pakete Du vom Band nehmen musst. Das ist die Grundvoraussetzung dafür, diesen Job überhaupt machen zu können.”

Er steckte die Listen ein, belud nach meiner Anweisung das Auto und wir machten uns erneut auf den Weg. Nach wenigen Minuten auf der Autobahn schlief er ein, und zwar richtig. Lange Arbeitstage und kurze Nächte schienen ihn schon nach einem einmaligen Versuch sehr zu beanspruchen, denn er schlief ab diesem Zeitpunkt über drei Stunden lang tief und fest und wachte nicht einmal auf, wenn ich zum Anhalten beim Kunden bremste und die Türen öffnete und schloss. Irgendwann zwischen 11 und 12 Uhr war er wieder ansprechbar. Die Zeiten, die wir mit Fahren von einem Dorf zum nächsten verbrachten, nutzte er nicht, um meine Listen zu studieren. Meine Hoffnung schwand und zerstob endgültig, als ich ihn am Nachmittag in die Zustellung der Pakete mit einbezog.

Ich habe sicherlich bereits früher schon erwähnt, dass man jedes Paket mehrfach in die Hand nehmen muss: Beim Abräumen, beim Aufstapeln und beim Einordnen, und zuletzt hat man immer wieder Pakete von den selben Versendern. Wenn ich losfuhr, wusste ich zumindest ungefähr, welcher Kunde wieviele Pakete bekam, wie die etwa aussahen, und an welcher Stelle sie im Auto gelagert waren. Das alles konnte man von einem Anfänger nicht erwarten, so viel war mir klar, also rechnete ich mit einer gewissen Verzögerungszeit. Wenn Praktikanten etwas nicht fanden, nahm ich das Paket selber heraus und wies gegebenenfalls auf Auffälligkeiten des Verpackungsdesigns des jeweiligen Versenders hin. Bei Lennie waren die Schwierigkeiten besonders groß und mir wurde deren Tragweite erst im Laufe dieses zweiten Tages bewusst.
Ich sagte zum Beispiel zu ihm: “Wir sind hier bei Dr. Soundso, er bekommt drei kleine Pakete, die Pakete sind grau und auf dem Label steht TIERARZTPRAXIS DR. SOUNDSO.”
Und dann sah ich wiederholt und mit wachsendem Unbehagen, wie lange er einzelne Pakete ansah, bevor er sie weglegte, um das nächste nach der richtigen Aufschrift zu untersuchen, bis ich irgendwann den Grund dafür voll erfasste: Lennie brauchte eine Weile, bis die vielen verwirrenden Buchstaben und Zahlen auf den Labels in seinem Kopf einen zusammenhängenden Sinn ergaben. Er besaß in diesem Gebiet scheinbar das Niveau eines Erstklässers. Der Grund, warum ich nicht früher darauf gekommen war, lag schlicht darin, dass ich Lesen und Schreiben als gegeben betrachte. Ich hatte die Zielgruppe jenes berühmten Werbespots getroffen.

Der Tag wurde wie üblich lang und am kommenden Morgen war ich um halb Fünf wieder in der Halle. Peter fragte mich nach einer vorläufigen Beurteilung Lennies, und so sehr ich den Jungen mochte, gab es doch nichts zu beschönigen: “Er hat gestern auf der Tour über drei Stunden geschlafen, er bewegt sich eher behäbig und hat Probleme damit, die Aufschrift der Labels zu entziffern. Der will den Job wirklich haben, aber ich fürchte, der kann das nicht.”
“Nicht gut… guck’s Dir heut noch mal an, ja?”

Aber so weit kam es nicht mehr, denn ich hatte nur noch eine Sache, an der ich meine abschließende Beurteilung festmachen konnte.

Als Lennie erschien, erzählte er mir, dass er morgen früh endlich den Termin mit seinem Betreuer habe, um ihm den Arbeitsvertrag vorzulegen, damit er mit seiner Freundin zusammenziehen könne. Ich muss ehrlich sagen, dass mich so viel Zuversicht erstaunte, fast so wie Leute, die im April 45 noch das Wort “Endsieg” gebrauchten. Ich fragte ich ihn, ob er die Postleitzahlen auswendig kenne – er verneinte.
“Kennst Du wenigstens ein paar davon auswendig?”
Auch diese Frage musste er verneinen. Ich muss annehmen, dass er nach seiner Heimkehr gestern mehr oder minder sofort ohnmächtig ins Bett gefallen war. Damit war der Würfel gefallen und ich gab mir Mühe, möglichst sanft zu klingen. Aber was sein musste, musste sein.
“Lennie, was willst Du dann noch hier? Wenn Du keine Postleitzahlen kennst, kannst Du keine Pakete abräumen, und das heißt, dass Du hier nur im Weg stehst. Auf der Tour kannst Du nicht helfen, weil Du die Pakete nicht schnell genug findest. Setz Dich draußen in den Pausenraum, nimm Dir einen Kaffee und mach Pause.
Es gibt für Dich zwei Wege hier raus: Einen harten und einen weniger harten. Der weniger harte Weg raus besteht darin, dass Du Peter ansprichst und ihm sagst, dass der Job zu anspruchsvoll für Dich ist. Dann können wir in aller Freundschaft auseinander gehen und jeder wahrt sein Gesicht. Der harte Weg raus besteht darin, dass Du Peter nach dem Arbeitsvertrag fragst, und der wird Dir sagen, dass er Dir mangels Eignung keinen anbieten kann. Ich sage Peter nicht: Schick den nach Hause, schmeiß den raus. Aber hier bin ich Dein Ausbilder und Dein Prüfer. Peter wird mich fragen, was ich von Deiner Arbeit halte, und dann muss ich ihm sagen, dass Du als erstes drei Stunden tief geschlafen hast und des Weiteren nicht schnell genug arbeiten kannst, um eine volle Tour zu fahren. Es gibt nur diese beiden Wege raus; einen Weg rein gibt es leider nicht. Tut mir Leid.”

Er tat mir wirklich Leid. Immerhin hatte ich ihn in dem Moment wieder zurück in die Abhängigkeit gestoßen. Aus Erfahrung kann ich sagen, dass wir hier jedem eine Chance geben, aber letztendlich sind wir ein Fuhrunternehmen und keine Wohlfahrtseinrichtung.
Lennie folgte meiner Aufforderung, nach draußen zu gehen. Welchen Weg er gewählt hat, kann ich nicht sagen, ich habe ihn natürlich nie wieder gesehen.

30. Januar 2016

Die Fracht am Rhein (Teil 11)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 18:19

So kam also der Tag, an dem ich alleine ausrücken sollte, mit Gefahr und Strahlung im Auto. Es handelte sich um einen Samstagsdienst, und zu dem angedachten Zweck musste ich mit Magnus das Auto tauschen. Von dem wurde ich auch gleich begrüßt und seine Körperhaltung allein reichte aus, um mir mitzuteilen, dass er stinksauer war, was bedeutete, dass Peter ihm erst heute Morgen Bescheid gesagt hatte, dass er stattdessen normale Samstagszustellungen fahren würde. In einem eher schrottigen Kleintransporter. Es ist zwar meine Gewohnheit, die Fahrzeuge innen auszukehren und abzustauben, aber ich kam natürlich nicht an die Standards meines alten Kollegen heran und an dem generellen Zustand der Fahrzeuge kann ich ja nichts ändern. Leider habe ich nicht festgehalten, welches Auto ich zu jener Zeit gefahren bin, aber bei JP-Transporte muss man immer mit dem Übelsten rechnen. Ich konnte Magnus nur versprechen, ihm sein angestammtes Fahrzeug im Originalzustand wieder zurückzubringen. Magnus war auch taktvoll genug, seine schlechte Laune nicht über mir auszugießen, denn während ich diese Tätigkeit zwar gewünscht hatte, war ich doch nicht der Entscheider.

Und das bringt mich zu einem weiteren entscheidenden Punkt in der Kritik am Firmenmanagement: Magnus hatte überhaupt nicht vor, seinen Job aufzugeben, denn wie ich bereits ausgeführt habe, konnte er sich das wohl nicht recht leisten. Als Peter und Rama mich darauf angesprochen hatten, Gefahrgutfahrer zu werden, da hatte ich in dem Moment intuitiv angenommen, Karl wolle altersbedingt aussteigen. Dem war nicht so. Rauswerfen konnten sie ihn auch nicht, da er als selbständiger Subsubunternehmer im Auftrag von JP-Transporte fuhr und nicht für P+R. Halten wir also fest: Es handelte sich bei allem, was die Brüder angedacht und mit mir besprochen hatten, um ein umfangreiches (und teures) Beruhigungsmittel für mich und in Eigenbezug um nichts anderes als nicht durchdachtes Wunschdenken.

Die einzig gute Nachricht: Wir haben einen weiteren Gefahrgut- und Frühdienstfahrer, den ich hier Marius nenne. Der geht auf die Mitte 60 zu und wünscht sich nichts sehnlicher, als diesen Mist endlich hinter sich zu lassen. Sein Renteneintrittsalter würde er in 18 Monaten erreichen (also im März 2015).
Marius war früher Lieferfahrer für “Harry” – die Brotfabrik. Das sei toll gewesen, aber der Fuhrunternehmer habe nach einigen Jahren pleite gemacht und da habe er den nächsten Job genommen, den er kriegen konnte. Das klang an sich gut, aber würde ich diesen Horrortrip noch anderthalbe Jahre durchhalten?

Das Frachtaufkommen sorgte jedenfalls auch weiterhin dafür, dass meine Leistungsfähigkeit immer weiter abgetragen wurde. Ab fünf Uhr mehr als eine Tonne Ware vom Band nehmen und aufstapeln, dann die knappe Tonne, die vor der Ladeluke abgelegt wurde, nochmal aufnehmen und ins Auto laden, und dann über eine Tonne aus dem Auto zum Kunden tragen, mal hier und mal da fahren, arbeiten ab halb Fünf am Morgen und nach Hause kommen zwischen Fünf und Sieben abends. Essen, waschen, schlafen – und wieder arbeiten. Das ist eine Knochenmühle, die ich keinem empfehlen kann, der auch nur den Hauch einer Chance auf eine “normale” Arbeitsstelle hat.
Tom und Hyper, Elmo, Bert, und Doc – die waren alle in der ersten Jahreshälfte 2013 gegangen. Tom war Ende Winter ausgeschieden, Hyper im Mai. Da wies er mich noch in die Trierer Nordtour ein und das war’s. Bert hatte einen Job gefunden, wo er von zuhause mit dem Fahrrad hinfahren konnte, und Docs Frau hatte eine Tochter geboren und er zog zu ihr und in die Nähe der frischgebackenen Großmutter nach St. Wendel – wo er für’s erste ebenfalls für Transoflex arbeitete. Ich telefoniere hin und wieder mit ihm und er versicherte mir, dass er da unten tatsächlich Arbeitstage von acht bis neun Stunden habe, also kein Vergleich mit den 12 bis 14, die wir am Standort Koblenz “genossen”.

Allein Elmo war gegangen worden, wie man so sagt. Ich hatte ja bereits beschrieben, was aus den vielen hoffnungsgebenden Versprechen geworden war, die man gegeben hatte. Elmo musste ewig früh aufstehen, das heißt etwa um drei Uhr morgens, um rechtzeitig im Depot zu sein, da er mit dem LKW locker zwei Stunden brauchte, um nach Metternich zu kommen, und anstatt Nachladetouren, die wegen der hohen Entfernung zu den Kunden nicht in Frage kamen, hatte er eben einen Anhänger aufgebrummt bekommen. Die Milchmädchenrechnung bei P+R und JP lautete: Der zusätzliche Stauraum für Paletten erlaubt die Zustellung von mehr Paletten, ohne dafür zusätzliche Fahrzeuge einzusetzen. Natürlich war das ein Trugschluss, denn abgesehen davon, dass der zusätzlich belastete LKW auf der Autobahn nicht mit seinen vollen 80 km/h voran kam, was die Fahrzeit spürbar verlängerte, hatte Elmo ja nicht nur Kunden in leicht zu befahrenden Industriegebieten mit ihrem Angebot an Stellplätzen, sondern auch in der Trierer Innenstadt. Im Klartext bedeutete dies, dass er sogar weniger Kunden schaffte, als in der Zeit ohne Anhänger zu Beginn des Jahres.

Warum? Weil man nicht bei allen Kunden mit einem Anhänger vorfahren kann! Zum Beispiel, weil der Hof zu klein ist, um zu manövrieren, und man kann aus der Heckklappe des LKWs natürlich nichts ausladen, solange der Anhänger im Weg ist. Der Anhänger musste also irgendwo an der ersten sich anbietenden Gelegenheit – idealerweise in der Innenstadt, oft aber auch weiter weg – abgekuppelt, dann der Kunde bedient, und dann der Anhänger wieder angekuppelt werden. Man soll nicht glauben, wie zeitaufwändig das ist. Elmos Arbeitstag zog sich also bedenklich in die Länge und die halbe Ladung kam wieder zurück, weil Elmo erst nach Ende der Warenannahmezeiten ankam.

An einem Tag im Mai kam es zu einem heftigen Ausbruch, sozusagen. Elmo hatte seine Ladeliste in Augenschein genommen und das Auffinden seiner Fracht war zu seinem Missfallen verlaufen – ich erinnere daran, dass auch Einzelpakete, die erst zu einer großen Palette zusammengeschnürt werden mussten, zu seiner Fracht gehörten. Einzelpakete können schnell mal vorübergehend sonstwohin verschwinden, die mannigfaltigen Möglichkeiten habe ich in den letzten Jahren beschrieben. Da riss ihm wohl die Hutschnur und er geigte den Brüdern dermaßen ungeschminkt die Meinung, dass die ihm von jetzt auf sofort kündigten. Rama, der Ungezügelte, sank sogar so weit, uns anzuweisen, Elmo auf keinen Fall mitzunehmen, der solle selber zusehen, wie er nach Hause käme. War mir natürlich scheißegal – ich sammelte Elmo ein paar Hundert Meter die Straße runter auf, wo er mit seiner Tüte Habseligkeiten ich weiß nicht wohin unterwegs war und fuhr ihn zu einer Freundin in Ehrang, weil sein Wohnort nicht in meinem Tourgebiet lag.

Sub75 folgte den Ausscheidern im Juli, allerdings ebenfalls nicht freiwillig. Ich hatte in Teil 2 dieser Serie geschildert, dass seine Mutter schwer erkrankt war, und dass er abends bis gegen 23 Uhr wachblieb, um von dem vom Krankenbesuch zurückkehrenden Vater Neuigkeiten zu erfahren. Da Sub75 natürlich ebenfalls gegen drei Uhr morgens wieder aufstehen musste, war er wenig ausgeschlafen und machte Fehler. Da er relativ wenig Fracht fuhr, weil er auch unter günstigen Bedingungen nicht viel schaffte, kam er oft vor mir aus dem Depot raus, aber ich sah seinen Wagen mehrfach im Vorbeifahren auf einem Rastplatz an der A48 stehen, wobei er, den Kopf an die Scheibe gelehnt, fest zu schlafen schien.

An einem Tag Mitte Juli, bereits nach meinem Geburtstag, denke ich, überholte ich ihn bereits vor jenem Parkplatz, allein deswegen blieb mir das Ereignis wohl im Gedächtnis. Im Laufe des Tages erfuhr ich dann, dass Sub75 einen Unfall gehabt habe, ein Stück hinter der Ausfahrt Kaisersesch. Und das bedeutete, dass der Unfall sich ereignete, nachdem ich erst weniger als zwei Minuten zuvor an ihm vorbeigefahren war.
Er war schwer verletzt, wenn auch nicht lebensgefährlich, und hatte angegeben, er sei zum Überholen ausgeschert, habe dann ein sich auf der Überholspur schnell näherndes Fahrzeug entdeckt und sei wieder auf die rechte Fahrspur geschwenkt, wobei er mit dem LKW kollidiert sei, den er hatte überholen wollen.
Wir anderen waren nicht dabei gewesen, aber angesichts der Fahrzeugschäden waren wir sicher, dass er am Steuer eingeschlafen und dem LKW, der an der Steigung nach Laubach hoch deutlich langsamer geworden sein musste, mit 120 km/h (oder schneller) in einem leicht nach rechts versetzten Winkel ins Heck gefahren war. Wie man auf dem Bild erkennen kann, ist gerade der Fahrerbereich eingedrückt. Es muss einige Mühe gekostet haben, ihn da rauszuschneiden.

20130823 Breit Unfallauto 003

Es dauerte bis 2015, bis ich noch einmal von ihm hörte, nachdem ein anderer Fahrer ihm zufällig in Trier begegnet war. Sub75 war zu dem Zeitpunkt erst vor wenigen Wochen aus der Reha entlassen worden.

Es schien im Allgemeinen ein Sommer zu sein, der Unfälle anzog. Für den Juni habe ich drei Zeit raubende Staus wegen Zusammenstößen notiert, und einer davon, immerhin auf dem Rückweg von einem relativ kurzen Arbeitstag, blieb mir im Gedächtnis, zum einen, weil ich mit einem der Kollegen (ich erinnere mich nicht, wer es war) gleichzeitig da stand, und zum anderen wegen des Bildes der Zerstörung, das sich einem bot. Ob es zu Personenschäden gekommen war, ließ sich zu dem Zeitpunkt, als ich vorbeifahren konnte, nicht mehr feststellen. Ich hatte keinen Krankenwagen und keinen Hubschrauber gesehen und eindeutige Spuren auf der Fahrbahn waren auch keine zu erkennen. Aber die Reste der Unfallmasse lagen noch unter der Aufsicht von Polizeibeamten weit verstreut auf der Autobahn herum. Es sah ein wenig danach aus, als sei ein Bulldozer durch ein Wohnhaus gefahren und mit ein bisschen Fantasie konnte man sich vorstellen, dass die Trümmer einmal ein Wohnwagen und das andere Zeug einmal Einrichtungsgegenstände und Bekleidung gewesen waren.

Der Sommer verging weitgehend und ich hatte Anfang September eine Woche Urlaub. Das Handy wurde abgeschaltet, um Anrufen von Seiten meiner Chefs vorzubeugen, die sich bei Engpässen nicht scheuten, Mitarbeiter aus dem Urlaub zurückzubitten. Ja, sie baten tatsächlich – auf Forderungen hätte ich sehr gereizt reagiert.

Ich wurde nach dem Urlaub wieder in die Eifel geschickt. Im September hatte ich bei drei Gelegenheiten Praktikanten im Auto, oder vielleicht waren es auch vier? Drei habe ich konkret notiert, am 6. September, am 9. September und am 15. September. Aber ich erinnere mich an einen älteren Herrn kurz vor 60, der vor über 20 Jahren aus Syrien ausgewandert war. Er war wohl eine Art Bekannter von Babylon Ben (erwähnt im Teil 4 dieser Serie aus dem Juni 2014), aber ich gewann schnell die Gewissheit, dass sie sich nicht sonderlich mochten.

Ich fange mal vorn an: Der Praktikant vom 6. September 2013 war ein stämmiger Kerl über 50, der wohl den größten Teil seines Lebens in Lastkraftwagen verbracht hatte. Sein letzter Arbeitgeber war scheinbar die Griesson Keksfabrik in Polch, deren Backarbeiten man bei günstigem Wind auch im ToF-Depot in Metternich noch riechen konnte. Nennen wir ihn doch “Gries”. Ist ein guter deutscher Name.
Gries hatte zwei Finger bei einem Unfall verloren, als die Fahrertür seines LKWs unerwartet zuschlug. Er beschrieb den Vorgang nicht konkret und ich fragte auch nicht. Körperteile zu verlieren ist traumatisch, selbst, wenn es nur zwei halbe Finger sind, und ich wollte nicht in dunklen Tiefen herumstochern.
Gries war ein netter Kerl, mit dem man sich gut unterhalten konnte, er quälte einen nicht mit Frauen, Autos, oder Fußball, und konnte aus einer reflektierten Distanz von seinem Arbeitsleben erzählen, wobei mir nicht klar wurde, ob er jetzt tatsächlich einen Job suchte oder nur den Nachweis einer Bewerbung zur Vorlage beim Arbeitsamt brauchte. Ich erfuhr also zum Beispiel von der Gewohnheit der Keksfabrik, Lieferfahrern Kekse zu schenken und offensichtlich eingedrückte Packungen kiloweise den eigenen Mitarbeitern mit nach Hause zu geben. Ich fühlte mich an die Lektüre meiner späten Kindheit erinnert, “Die Pizza-Bande”: Der allein erziehende Vater von Walther “mit TH” arbeitet in einer örtlichen Schokoladenfabrik, sodass TH immer Süßigkeiten zu verschenken hat, und wenn es sich nur um Bruchware handelt. Um einen Job, wo man Essen geschenkt bekam, muss man doch jeden beneiden.
Zuletzt erzählte er, dass er in den Besitz eines Olivenhains auf einer spanischen Insel gekommen sei, mit dem er seinen Lebensabend mit zu finanzieren gedenke. Er müsse nur die Zeit bis zum Abschluss der notarischen Notwendigkeiten überbrücken, so bis zum kommenden Jahr. Zum Abschied bot ich ihm halb scherzhaft an, ich würde sofort für ihn arbeiten, wenn er einen tüchtigen Mitarbeiter brauche.
Gries kam natürlich nie wieder. Auf die letzten gesetzlichen Arbeitsjahre noch einen Job zu nehmen, der nur an den längsten Tagen im Juni komplett bei Tageslicht zu bewältigen ist, würde ich mir auch nur ungern aufbürden.

Am 9. September kam die nächste solche Gelegenheit: Eine junge Albanerin, aus Tirana, wie sie sagte, die ein zwar akzentreiches, aber gutes Deutsch sprach. Sie suchte wirklich eine Arbeitsstelle und hatte in dieser Woche mehrere solcher Probetage mit verschiedenen potentiellen Arbeitgebern vereinbart. Nun, sie war für den Job ganz und gar nicht geeignet. Sie hatte eindeutig die geistigen Voraussetzungen und kam mir allgemein keineswegs dumm oder oberflächlich vor. Sie war eine kulturell informative und gut gelaunte Konversationspartnerin. Aber wie sollte eine zierliche Frau Anfang Zwanzig mit der körperlichen Belastung fertig werden? Der Test war einfach zu bewerkstelligen, da just an diesem Tag ein Paket eines Metallwarenherstellers für uns über das Band lief. Es handelt sich dabei um Kartons etwa im Format 40 x 30 x 20, in denen sich nach meinem Wissen Profile, Verbindungsstücke oder Schrauben befinden und eines davon wiegt mehr als einen halben Zentner. Ich nahm es vom Band und gab es ihr in die Hände, worauf sie sofort mit einem unartikulierten Laut vornüber kippte. Ich riss das Packstück schnell wieder an mich, damit sich sich am Band auffangen konnte. Am Ende des Tages war sie sich sicher, dass sie vermutlich die Stelle in dem Blumenladen nehmen würde, wo sie am Tag zuvor gewesen war.

25. Dezember 2015

Die Fracht am Rhein (Teil 10)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 15:29

Ich hatte meinen Umzug also mit dem Vermieter abgemacht und unterrichtete meine Arbeitgeber, denn das hieß, dass ich den Sprinter zum Transport meiner Sachen und gegebenenfalls einen freien Tag brauchte (der jedem Arbeitnehmer für den Fall eines Umzugs aus beruflichen Gründen auch zusteht). Da fingen die erst mal an zu grübeln und zu hadern, bevor sie sich im Laufe des Morgens damit abfanden. Scheinbar war ihnen die Sache mit dem Umzug wohl dann doch zu schnell gegangen.

Übrigens, was einem Arbeitnehmer noch so interessantes zusteht: Es gibt u.a. in Rheinland-Pfalz das so genannte “Landesgesetz über die Freistellung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern für Zwecke der Weiterbildung”. Laut diesem Gesetz stehen jedem Arbeitnehmer in jedem Kalenderjahr fünf Tage Dienstfreistellung zum Zwecke der persönlichen Weiterbildung zu. Ich kann nur empfehlen, sich einmal hineinzulesen, und weise darauf hin, dass das Land dem Arbeitgeber eine Entschädigung für die entgangene Arbeitsleistung zahlt.

Doch zurück zu meinem Arbeitsleben. Der nächste Punkt wäre also “mit Magnus 22.06.”. Peter setzte mich zu Magnus mit ins Auto, einem Vito, damit ich mir das Aufgabenfeld des Gefahrgut- und Frühdienstfahrers ansehen könnte, denn auch das sollte ja Teil meiner neuen Aufgaben sein. Und Frühdienst heißt: Aufbruch gegen sieben Uhr, also über eine Stunde vor den anderen Fahrern.
Das Gefahrgut auf dieser Tour besteht in erster Linie aus radioaktiven Stoffen für Röntgen- und Strahlentherapieabteilungen, und die laufen natürlich nicht übers Band, sondern müssen gesondert aus dem Verschlusslager abgeholt werden. Warum kann eine gewöhnliche Liefertour einen Kanister Schwefelsäure transportieren aber keinen faustgroßen Bleibehälter mit Cäsium? Weil laut ADR-Bestimmungen ein Kanister Schwefelsäure weniger als 1000 Gefahrgutpunkte aufweist und ein nur oberflächlich angewiesener Lieferfahrer somit im Rahmen des geltenden Rechts als Transporteur in Frage kommt, während eine Cäsiumpille locker einige Hunderttausend Punkte auf die Waage bringt.

Die Abholung des Transportguts im Lager ist eine Formalie für sich, wo man nicht nur den Empfang quittiert, man muss auch den Gefahrgutschein vorzeigen und das Dosimeter sichtbar tragen. Das Dosimeter sieht aus wie ein kleiner Plastikorden und reagiert auf radioaktive Strahlung. Verfärbt sich der Testbereich des Dosimeters, weiß der Betrachter, dass die maximal erlaubte Strahlenmenge bald erreicht sein wird und der Fahrer darf nicht in den Einsatz. Die Warnanzeige ist allerdings eine reine Formsache, da das Material, das in Strahlentherapien eingesetzt wird, eine nur geringe Strahlungsreichweite hat, keine 50 cm. Schnallt man die Behälter also ans hintere Ende des Autos, hat man eigentlich nichts zu befürchten. Den Rocker musste ich allerdings erst davon “unterrichten”, dass diese Plastikkarte mit biometrischem Passbild, die ich bei mir trug, eben der neue Gefahrgutschein ist. Ich war Absolvent des ersten Lehrdurchgangs nach den neuen Vorschriften, der die Karten ausgestellt bekam. Vorher waren Papiere im ursprünglichen Sinne des Wortes üblich. Nachdem alles sicher verzurrt war, brachten wir die Warntafeln an und es konnte losgehen.

Dabei muss ich zu allererst beschreiben, dass Magnus’ Wagen wie neu aussah, um nicht das kolloquiale “wie geleckt” zu verwenden. Das fing schon mit den Warntafeln an: Die steckten nicht einfach irgendwo, wo sie leicht zu greifen waren, nein, Magnus hatte eine Art großen Ordner dafür besorgt und die einzelnen Schilder, drei an der Zahl, noch durch Zeitungspapier getrennt, damit keinesfalls eins am anderen rieb und es dadurch zu Schäden kommen konnte.
In dem Auto selbst lag kein Krümel, da wurde regelmäßig der Staubsauger eingesetzt, auf dem Boden lagen noch mehr Zeitungsseiten, damit sich kein Straßenschmutz in der Oberfläche festsetzte. So musste man nur schmutziges Papier entfernen und vielleicht noch Krümelchen rauskehren, anstatt, wie ich als Nichtpapieranwender, den Boden mit einer feuchten Bürste zu reinigen, denn: das Wasser sickert ja in Ritzen ein und verbleibt unter der Verkleidung. Eine abscheuliche Vorstellung im Geist des älteren Herrn.
Auch außen konnte man nur staunen, wo sich kein Stäubchen auf der Karosserie befand. Im Falle feuchter Witterung reinigte Magnus den Vito sofort nach Arbeitsende, noch bevor sich der Straßenstaub festbacken konnte.
Ich brachte seine sorgsam gewählte Anordnung im Inneren erst einmal durcheinander, weil ich den Beifahrersitz benötigte, aber scheinbar kam er damit zurecht.

Wir setzten uns auf die A48 und Magnus fuhr mit 160 Sachen in Richtung Wittlich. Es würde ein wunderschöner, angenehm frühsommerlicher Tag mit warmen Temperaturen und blauem Himmel werden. Eigentlich ein perfekter Tag, um eben NICHT zu arbeiten, sondern nur irgendwo sinnierend auf der Wiese zu liegen oder einfach nur das Wetter zu genießen. Leider war uns solche Muße nicht gegönnt.
Erste Lektion in Sachen Ortskenntnis: Wenn man aus Richtung Koblenz kommend zum Krankenhaus “St. Elisabeth” Wittlich möchte, dann fährt man nicht die Ausfahrt Wittlich raus und dann durch die Stadt, nein, man nimmt die Ausfahrt Hasborn und gelangt über ein paar Serpentinen quasi direkt dorthin. Gut zu wissen.
Weitere Stopps hatten wir in Bitburg, Trier und Saarburg, auf die man nicht weiter eingehen muss, vielleicht von einer kurzen Szene im Brüder-Krankenhaus in Trier abgesehen, wo Magnus zwei Damen, die ebenfalls vor dem Aufzug warteten, mit dem Hinweis auf unsere radioaktive Fracht dazu überredete, vielleicht doch erst den nächsten zu nehmen und nicht direkt mit uns zu fahren.

Man muss ja auch ein bisschen reden und Geschichten von Leuten sind ja das, was mich im Kern interessiert. Magnus war bereits Mitte 70 und hatte schon so einiges gesehen und erlebt. Er war kein abhängig Angestellter, schließlich hatte er das gesetzliche Rentenalter bereits überschritten, sondern arbeitete als selbständiger Subsubunternehmer im Auftrag der JP-Transporte. Natürlich zeigte er bereits körperliche Einschränkungen, auffällig sind zum Beispiel die relativ kurzen, wenn auch schnellen Schritte, mit denen er sich fortbewegt, was für mich nach Hüftproblemen aussieht, aber man muss festhalten, dass ihm ein wacher und immer noch scharfer Verstand gegeben ist. Im Allgemeinen kann man sagen, dass es sich um jemanden handelte, der alle ihm gestellten Aufgaben mit 200 % Genauigkeit erfüllte. Er heftete zum Beispiel alle Tourübergabeblätter fein säuberlich in Aktenordner und es kursierten Witzchen, dass Magnus sicherlich alle Transporte der vergangenen 10 Jahre nachweisen könne. Die Tourübergabeblätter wurden nach Feierabend eigentlich überflüssig und wurden weggeworfen. Magnus sah das scheinbar anders.

Im Einzelnen… fand ich eher das auffälliger, was er nicht sagte, als das, was er erzählte. Oder vielleicht sollte ich sagen: Die Interpretationen, die seine Geschichte zuließ, schienen mir das über ihn auszusagen, was er lieber aussparte.
Scheinbar war er vor, ja, Jahrzehnten einmal Versicherungsagent gewesen, für Gebäude, Hausrat, Kfz, und so weiter. Er schien auch große Stücke auf seine Fähigkeiten zu halten, erzählte er doch schmunzelnd, dass Kunden, die wegen einer Kündigung des Vertrags zu ihm kamen oder anriefen, nach einem intensiven Gespräch nicht nur seine Kunden blieben, sondern sogar noch Verträge über zusätzlichen Versicherungsschutz unterzeichneten. Es handele sich dabei um ein streng provisionsbasiertes Geschäft, führte er aus, und an kleinen Basisverträgen verdiene man nicht eben viel, aber die großen Papiere brächten auf einen Schlag kleine bis mittlere fünfstellige Beträge in die Haushaltskasse. Mit denen müsse man dann wirtschaften, bis einem der nächste Wurf gelang.

Scheinbar waren ihm in den besten Zeiten einige große Würfe gelungen, denn er hatte sich ein großes Grundstück mit einem schönen Haus ausgesucht, mit Wiese und Wäldchen und einem kleinen Gästehaus sogar. Die Wiese zu mähen habe über zwei Stunden gedauert und von dem Ertrag des Gartens hätte man sich wohl zu zweit das ganze Jahr über ernähren können. Klingt ja toll. Aber… die Zeiten blieben nicht rosig. Die Monatsraten wurden irgendwann zu viel und er richtete sich mit seiner Frau etwas kleiner ein. Auch das erwies sich allerdings als zu kostspielig… also noch eine Nummer kleiner. Und als selbst das zu teuer wurde, ja, da kamen die beiden zu dem Mietapartment, wo sie heute leben. Konservativ, aber geschmackvoll eingerichtet, wie er mir anhand von Fotos darlegen konnte. Biedermeier, würde ich sagen.

Was hatte er also nicht gesagt? Nun ja, wie ich aus seinen Gesamtdarstellungen schlussfolgern möchte, hat Magnus einen Hang zum Prestigeobjekt und zur Selbstdarstellung. Er hatte sich in seinem Streben nach Statussymbolen in seinen wirtschaftlichen Möglichkeiten nach meiner Interpretation völlig überschätzt, was eigentlich ein krasser Unterschied zu seinem Arbeitsverhalten ist, wo er streng auf das sicher Mögliche achtet. In letzter Konsequenz muss ich schlussfolgern, dass er möglicherweise noch Restschulden hat, dass er sich also derart übernommen hat, dass er arbeiten muss, bis er dazu nicht mehr in der Lage ist. Auch dazu kursieren entsprechende Witzchen: “Der fährt, bis er im Auto stirbt.”
Und eigentlich ist das nicht witzig, aber er ist nun mal so ein krasser Fall, in dem Wollen, Können und Müssen zusammenkommt.

Sicherheit schien doch eigentlich generell seine Domäne? Als ich ihn (an einem ganz anderen Tag) auf meine Erkältung hinwies, wich er demonstrativ drei Schritte zurück. Bei einer kurzen Erläuterung der gemeinsamen Haushaltsführung erzählte er, dass er die Duschkabine nach dem Waschen nicht nur grob reinigte, sondern auch trocken rieb, um Schimmel erst gar keine Grundlage zu liefern. Im Krankenhaus wies er mich darauf hin, am besten keine Türklinken anzufassen, da sich im Krankenhaus (im Sinne der Sache) eine hohe Zahl von Menschen mit tendenziell ansteckenden Krankheiten aufhalte. Beim Verlassen von Krankenhäusern und Altenheimen verwende er grundsätzlich die heutzutage aufgestellten Desinfektionsapparate. So weit bin ich dann doch noch nicht, aber ich trage bei der Arbeit Handschuhe, und mit denen reibe ich mir ja auch nicht die Augen und im Mund rumfummeln tu ich damit ja auch nicht. Er hatte wohl eine übersteigerte Angst vor Ansteckungen und Schmutz, denn auch, wenn ich kerngesund war, schüttelte er niemals meine Hand und wir fassten uns stattdessen an den Unterarmen, wie man es in Sandalenfilmen manchmal sieht.

Die Darstellung der gemeinsamen Haushaltsführung war natürlich schon interessant, gehört Magnus doch zu einer Generation, die noch eher zu patriarchalischem Verhalten neigt. Stattdessen beschrieb er eine Beziehung zweier Individualisten, deren Ansichten schon einmal kollidierten, aber wenn man über 50 Jahre verheiratet sei, dann bringe einen so schnell nichts mehr auseinander. Hausarbeiten werden bei ihm gleichmäßig verteilt, aber ich erinnere mich nicht daran, ob er etwas von festen Pflichten gesagt hat, ob also jeder Aufgaben hat, die nur er oder sie ausführt. Gekocht wird scheinbar von der Person, die den besten Menüvorschlag macht, den Abwasch macht der jeweils andere, und während man sich bei den Vorbereitungen helfe, wie zum Beispiel Karotten schälen, Pilze schneiden, Zwiebeln hacken, und so weiter, wolle er beim Kochen selbst allein sein und werfe seine Frau dann aus der Küche.

In Saarburg kam es zu einer kurzen Verzögerung auf dem Weg zum Krankenhaus, als ein Auto vor uns keine klare Fahrtrichtung einschlug. Die Person darin war sich wohl nicht ganz klar, wo sie sich einzuordnen hatte.
“Manchmal wünsche ich mir ‘ne Kanone am Auto,” sagte er, “damit man solche Hindernisse aus dem Weg sprengen kann.” Dann konnte er zum Überholen ansetzen. “Ach,” bemerkte er mit einem Seitenblick, “da sitzt ja auch ‘ne Frau drin, da kann das ja nichts werden.”
Da war ich erstaunt, negativ überrascht. Hatte ich mich mit all dem bisher Gesagten in dem alten Mann so sehr getäuscht?
Aber er fuhr fort: “Versteh mich nicht falsch, ich bin der Meinung, dass Frauen das Gleiche können wie Männer. Das Problem ist, dass man es ihnen nicht beibringt.”
Das deckt sich dann schon eher mit dem, was ich bei den Soziologen gelesen und gelernt hatte: Jungs und Mädchen werden durch Erziehung, also selektive Fertigkeitszuordnung, in ihre gesellschaftlich hergebrachten Rollen gepresst und damit entsteht das häufig bemängelte Diskriminierungspotential. Ich war beruhigt.

Wir nutzten eine Sitzgelegenheit vor dem Krankenhaus, um eine Pause zu machen, wo wir auch Patienten trafen, die die warme Sonne genießen wollten. Mit einem davon führten wir ein kurzes, freundliches Gespräch und ich fragte ihn, wie es zu dem dicken Verband an seiner rechten Hand gekommen sei. Ein Unfall mit der Säge, erzählte er.
“Heimwerker oder Handwerker?”
“Heimwerker…”
gab er etwas zerknirscht zu.

Bei dieser Fahrt erfuhr ich nebenher, dass die JP-Werkstatt einen neuen Meister angestellt hatte. Was aus dem Russen geworden ist, habe ich weder erfahren noch je erfragt. Ich nenne den Neuen mal “Scotty” (einfach, weil ich viel später erfuhr, dass seine Schwester in Schottland verheiratet ist). Wie habe ich von dem neuen Mann “nebenher” erfahren?
Als wir unser letztes Paket mit radioaktiver Fracht abgegeben hatten, entfernten wir anweisungsgemäß die Warntafeln vom Auto, und bei dieser Gelegenheit sagte Magnus, dass er Scotty jedesmal beim Abnehmen der Platten zum Teufel wünsche und zeigte mir auch gleich, wieso: Die Tafeln werden in Halterungen gesteckt, die natürlich nicht serienmäßig ab Werk am Auto zu finden sind, diese Halterungen werden in der Plaidter Werkstatt angenietet. Jetzt hatte Scotty diese Halterungen allerdings unachtsamerweise so angebracht, dass die Kanten der Warntafeln an einer Kante der Karosserie scheuerten und auf diese Art und Weise die Lackierung in Mitleidenschaft zogen. Während ich Scotty mit dem mittlerweile gegebenen zeitlichen Abstand für einen interessanten Menschen und auch kompetenten Handwerker halte (der auch immer gern und auf verständliche Art und Weise Dinge erklärt, warum etwas so und so gemacht werden muss und nicht anders und wie die Dinge am Auto funktionieren und ineinander greifen), muss ich dennoch sagen, dass diese Arbeit keineswegs eine Meisterleistung darstellte. War ihm auch unangenehm.

Es handelte sich um einen ganz und gar angenehmen Tag, und das nicht nur, weil ich quasi nichts gearbeitet hatte. Diese Art von Job würde mir gefallen. Peter kündigte mir an, dass ich demnächst einmal alleine Gefahrgut fahren sollte. Vielleicht sollte sich zumindest diese Hälfte meiner Hoffnungen erfüllen.

25. November 2015

Die Fracht am Rhein (Teil 9)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 20:00

Wenn ich nicht bald umzöge, müssten wir uns also was anderes überlegen…
Man mag Rama für seine Rhetorik kritisieren, aber ich muss auch einwerfen, dass die beiden trotz der Probleme bei der Umsetzung ihres Vorhabens, ein dreibeiniges Dispoteam einzuführen, mein Gehalt, wie im Dezember des Vorjahres besprochen, bereits im Februar angehoben hatten, und zwar um 200 Euro auf 1450 Euro Nettogehalt. Sie hatten damit einen wichtigen Teil der Abmachung eingehalten, also verstärkte ich meine Bemühungen um einen Umzug nach Koblenz.
Wegen der Arbeitszeiten – ich verließ das Haus um Viertel nach Drei morgens und kam zwischen sechs und sieben Uhr am Abend wieder zurück – gab ich meiner Freundin ein paar Vorgaben, nach denen sie bitte nach freien Wohnungen suchen sollte.

Ich wollte nicht mehr als 600 E Warmmiete zahlen,
im Umkreis von 30 Fahrminuten um das Depot herum,
Erdgeschoß oder bestenfalls erster Stock (wegen des erforderlichen Aufwands beim Einräumen),
wegen des Hitzestaus auf keinen Fall eine Dachgeschoßwohnung,
mindestens 3ZKB,
mindestens 60 Quadratmeter.

Die Wohnung in Trier hatte 45 Quadratmeter und war in diesem Feld zumindest nicht schlecht, aber auf Grund negativer Ereignisse in meinem Privatleben musste ich meine angesammelten Besitztümer, die ich nicht kurzfristig und auch nicht für das Studium in Trier gebraucht hatte, aus meinem Elternhaus nehmen. Der Gedanke, dass die Bücher, die ich im Laufe der vergangenen 20 Jahre gesammelt hatte, im Keller modrig werden würden, verstörte mich. Eine größere Wohnung musste her.

Es fanden sich ein paar auf den ersten Blick interessante Angebote, aber die meisten schieden auf den zweiten Blick aus: Zu abgelegen, Kleinstädte im Kreis Mayen-Koblenz waren zu weit draußen. Dass ich von dort aus meinen Arbeitsplatz gut erreichen konnte, war schön und gut, aber meine Freundin würde ihren Minijob in Konz aufgeben und eine irgendwie geartete Stelle im Bereich den neuen Wohnorts finden müssen. Das erschien uns zu schwierig, denn sie hatte keinen Führerschein und auch kein eigenes Auto: Mayen ist in dieser Hinsicht “irgendwo in der Pampa”. Es musste etwas in Stadtbusentfernung zum Koblenzer Stadtzentrum sein, denn die Voraussetzung für Führerschein und Auto war zunächst einmal ein Vollzeitjob.

Aber wir hatten Glück: Eine Anzeige passte zu den von mir gesteckten Kriterien. Die Wohnung befand sich in einem Koblenzer Vorort, nur sechs Kilometer östlich vom Stadtzentrum entfernt. Ich verabredete einen Termin mit der zuständigen Dame und erhielt von Peter die Erlaubnis, nach der Tour hinzufahren.
Die Zimmeraufteilung gefiel mir sofort ebenso gut wie das historische Erbe, aber ich will nicht weiter darauf eingehen, weil man meine Adresse sonst mit zwei bis drei Mausklicks herausfinden kann. Bis in die 1980er Jahre hinein befand sich eine Kneipe darin, dann eine Filiale der Sparkasse. Das Wohnzimmer hat einen entsprechend ungewöhnlichen Grundriss, es mutet in leerem Zustand wie eine Miniturnhalle an und macht knapp die Hälfte der Wohnfläche aus. Die Küche hat eine angenehme Größe, bei der Toilette handelt es sich um einen Tiefspüler, und zwischen Wohnzimmer und Schlafzimmer befindet sich ein kleiner Zwischenraum, gerade so groß, dass es für meine Bücher und meinen Computertisch reicht. Die Wände im Wohnzimmer sind ocker-orange gestrichen, im Schlafzimmer rot, und meine Nase an der Strukturtapete einer Wand sagt eindeutig: Nichtraucherhaushalt. Auch wichtig: Die Rollos sorgen bei Bedarf selbst am Tag für eine angenehme Dunkelheit.
Ein paar ästhetische Punkte blieben zwar erst einmal, zum Beispiel waren Ausbesserungen an der Ostwand des Schlafzimmers durchgeführt, aber nur mit Rigips abgedeckt worden. Da musste noch Tapete ran.
Der Rollo in der Küche war äußerst stümperhaft angebracht worden: Beim Bohren der Löcher war der “Handwerker” auf den Hohlraum des ehemaligen Rollladenkastens gestoßen und hatte es dabei bewenden lassen, in Folge hing die Befestigung rechts de facto an einer einzigen Schraube. Wenn man nicht mit bewusster Vorsicht die Jalousie herunterließ, kam einem die ganze Rolle entgegen.
Außerdem sah man noch Reste einer, sagen wir: “eigenwilligen” LAN-Verkabelung der Vormieter, die über der Bodenleiste an die Wand getackert worden war. Über die Qualität der Internetverbindung konnte die Vermieterin keine Aussage machen, das wisse sie nicht. Das konnte ich zwar nicht recht glauben, aber so nahe an der Stadt hoffte ich einfach das Beste.
Ich besprach mich im Anschluss kurz mit meiner Freundin und sagte wenige Tage später zu. Der Vertrag kam zu Stande, nachdem ein Interessent, der sich früher als ich auf die Anzeige gemeldet hatte, abgesprungen war. Die Vermieterin zeigte sich bass erstaunt, dass meine Freundin die Wohnung angenommen hatte, ohne sie je gesehen zu haben.

Arbeitstechnisch nahmen derweit ungute Dinge ihren Anfang. Peter regte sich eines Morgens über Stranski auf, der sei ein Lügner und er wolle ihn entlassen. Was war geschehen? Stranski hatte sich (vorgestern) krank gemeldet. Er habe sich beim eiligen Aussteigen den Fuß zwischen Bordstein und Fahrzeug verklemmt, sei gestürzt und habe einen Teilbruch am Fußgelenk erlitten – just in der Woche, für die sein Urlaubsantrag wegen einer Überschneidung mit einem Kollegen abgelehnt worden war. Peter glaubte nicht an einen Zufall (wie das allen Unternehmern in womöglich nicht nur dieser Branche eigen ist), und weiter angefeuert wurde sein Ärger, als er (gestern) unangemeldet bei Stranski vor der Haustür erschienen war, um den Krankenschein persönlich abzuholen. Er erzählte, Stranski sei selbst und ohne ersichtliche Probleme zur Tür gekommen und habe auch keine Gehhilfe verwendet, und habe ausgesagt, der Fuß sei bis dato nur geschient und werde morgen vergipst.
Ich sprach mich dafür aus, Stranski eine Chance zu geben, denn schließlich seien wir medizinische Laien und könnten die Situation nicht beurteilen, und die Überschneidung mit seinem Wunschurlaub könnte in der Tat Zufall sein. Peter hielt sich zurück und Stranski war einige Tage später wieder da.

Die nächste Krise ließ aber nicht lange auf sich warten. Peter sagte, dass er nach einer Überprüfung der Tankrechnungen zu dem Ergebnis gekommen sei, dass Stranskis Bus signifikant mehr Sprit verbrauche als üblich und in Stranskis Facebook-Einträgen Hinweise darauf sehe, dass Stranski “schwarz” Diesel verkaufe. In Unkenntnis der genauen Zahlen und ohne Wissen um den Wortlaut der Facebook-Einträge wies ich darauf hin, dass der Sprinter – immerhin ein ganz neuer – ein technisches Problem haben könnte, das sei nicht auszuschließen. Ich gab auch zu bedenken, dass Stranski unser bester Fahrer war. Ich hatte dabei das “Three-Strike” System im Hinterkopf, nach dem jeder auch eine zweite Chance verdiente, aber ich drückte mich anders aus, ich weiß nur nicht mehr, was genau ich sagte. Peter jedenfalls ließ sich auch dieses Mal überzeugen und Stranski blieb im Dienst.

Der “Third Strike” kam im Herbst – ich greife hier vor, um die Geschichte zusammenhängend zu Ende bringen zu können. Ich hebe an dieser Stelle hervor, dass ich die folgenden Vor- und Zusammenhänge nur von der Anklägerseite kenne, da Stranski wegen ebenjener Geschehnisse von einem Tag auf den anderen nicht mehr kam. Magnus hat ihn eine Weile später zufällig in Landscheid getroffen, wo er neuerdings wohne und nur erzählt, dass Stranski eine ganz eigene Version der Geschichte hatte, allerdings ohne auf Details einzugehen.
Stranski war also, laut Arbeitgeberauskunft, nachmittags wegen einer Routineangelegenheit (vielleicht Ölwechsel) mit seinem Fahrzeug in der Werkstatt gewesen und der Mechaniker Yuri bemerkte zum Feierabend, dass sein Werkzeugkasten fehlte. Auf Stranskis Facebookseite erschien kurz danach ein Eintrag, in dem er ein Foto seiner zur Werkstatt umfunktionierten Garage zeigte, mit dem Hinweis, dass “sein Reich” nun “endlich komplett” sei. Yuri glaubte seinen Werkzeugkasten als Detail im Hintergrund erkennen zu können und Rama fuhr zu Stranski, um ihn zu bitten, ihm, in Anspielung auf den Kommentar, sein Reich doch mal zu zeigen. Stranski tat dies bereitwillig, Rama besah sich den Werkzeugkasten und fand darin, so seine Aussage mir gegenüber, Yuris Namen, den dieser zur Kenntnisnahme seines Privateigentums (zur Abgrenzung zum Firmeneigentum) darin hinterlassen hatte. Diesmal fand ich keine Argumente, weil ich davon ausgehen musste, dass Rama und Yuri sich diese Geschichte nicht aus der Nase zogen, und die Theorie, dass man sich verschworen habe, um Stranski was anzulasten, um ihn fristlos rausschmeißen zu können, wollte nicht in mein Vorstellungsvermögen passen.

Die Firmenleitung sah Stranski also des Diebstahls überführt und schickte ihm die sofortige Kündigung. Sein Wegfall brach meiner Arbeitsmoral quasi das Genick, die unter den unbarmherzigen Arbeitszeiten schon sehr gelitten hatte. Denn zum einen war sein Nachfolger weder in der Lage noch willens, die gleiche Arbeitslast zu stemmen, was mir mehr als eine zusätzliche Stunde Arbeit am Tag in Bitburger Dörfern bescherte, aber, und das war ja herausragend, vor allem hatte sich meine Hoffnung auf Mitwirkung in einem Dispoteam völlig zerschlagen. Ohne Hoffnung auf Besserung arbeitet es sich nur halb so gut. Spätestens ab diesem Zeitpunkt verschwand meine Freude am Fahren und ich stand in der Tat morgens auf mit dem einzigen Wunsch, der Tag möge ohne bedeutende Hindernisse schnell vorbeigehen.
Das ist eigentlich der Zeitpunkt, zu dem ich jedem empfehle, sich einen anderen Job zu suchen.

Ein nerviges Hindernis stellte der Verlust eines Teils meines völlig verrosteten Endrohrs während der Zustellung in Trier dar. Ja, man hatte mich bedarfsgemäß mal wieder woandershin geschickt. Wie dem auch sei: An einem stark verregneten 20. Juni, es goss wie aus Kübeln, fiel mir in der Zurmaiener Straße plötzlich ein verdächtiges und schleifendes Geräusch vom Unterboden her auf. Ich hielt sofort an, etwa auf Höhe der Jugendherberge, und guckte unters Auto. Klarer Fall, das Endrohr war direkt hinter dem Turbo durchgerostet, worauf es sich mangels Spannung aus den Gummihalterungen gelöst hatte und mit dem hinteren Stück auf die Straße gefallen war. Eine Art Metallgewebe an der Bruchstelle verhinderte, dass das Teil komplett abfiel. Was tun? Ich telefonierte mit Peter, der mir riet, die nächste Werkstatt aufzusuchen, um das Rohr vollständig zu lösen, damit ich es nicht weiter hinter mir her schleifte. Wegen der räumlichen Nähe wählte ich ATU im Wasserweg. Dann telefonierte ich mit der Werkstatt, von wo aus sich jemand mit einem Ersatzfahrzeug auf den Weg machen würde.
Der ATU-Mechaniker traute seinen Augen nicht recht, mit was ich da herumfuhr und durchtrennte das Stahlgewebe mit einer Drahtschere, wobei mir auffiel, dass ich das hinterste Teil des Endrohrs, das Teil hinter dem Schalldämpfer, auf dem Weg hierher irgendwo auf der Straße verloren haben musste, dort hatte der Rost sich der Vibrationen nicht mehr erwehren können. Diese Dienstleistung wurde mir nicht in Rechnung gestellt, was ich schon mal nett fand.

Nach knapp zwei Stunden, die ich dösend auf dem Parkplatz des Firmengeländes verbrachte, tauchte mein bestellter Mechaniker auf (ich habe ihn zu Beginn der Beschreibungen meiner Fahrertätigkeit einfach als “Mechaniker 2” bezeichnet und dies nie durch einen Decknamen ersetzt), um das Ersatzfahrzeug zu übergeben, und das hieß, dass wir die Autos quasi Hintern an Hintern parkten, um beim Umräumen der verbliebenen Pakete so wenige Wasserschäden wie möglich zu verursachen, was natürlich weitere Zeit in Anspruch nahm. Es würde mal wieder ein langer Tag werden. Seine Theorie widersprach der meinen und erschien mir als Laien völlig abstrus: Das Endrohr habe sich aus seinen Verankerungen gelöst, worauf die Vibration das Ablösen des Endrohrs hinter dem Turbo verursacht habe. Das machte nach meinem Ermessen keinen Sinn, aber er gehörte zu den Leuten, die ihre einmal gewonnenen Überzeugungen nur sehr schwer wieder aufgaben.

An dieser Stelle weist mich meine Zettelnotiz auf meine Begegnung mit dem Präsidenten der Fachhochschule Trier hin, das heißt, das war wohl auch im Juni 2013. Ich war aus den üblichen Gründen – maßlose zeitliche Überlastung – sehr spät dran und kam wegen konkreter Expresstermine und eindeutigen Warenannahmezeiten (Real z.B. macht gnadenlos um 13 Uhr dicht) erst am späteren Nachmittag zur FH. Die Temperaturen waren angenehm, aber der Himmel war grau bewölkt. Wenn ich mich recht erinnere, hatte ich etwa ein Dutzend Pakete, darunter Ware von Elektronikversendern. Die Poststelle war bereits verwaist, das Kellerfenster mit der Warenrutsche fest verschlossen. Um die Ware irgendwie loswerden zu können, ging ich vom Keller die Treppe wieder hoch in den Verwaltungstrakt, fand aber auch dort nur leere Büros vor – bis auf das letzte. Nur der Chef persönlich war noch da. Mein Hierarchiebewusstsein sagte mir, dass das heute nichts mehr werden würde, aber auf meine Anfrage hin erklärte sich der Präsident bereit, eine Unterschrift zu leisten und half auch noch höchstpersönlich beim Abladen. Da war ich doch erstaunt und vermerkte auf meinem Notizzettel den Begriff “FH-Präsi” (nur leider ohne Datum).

Zu meinem “Ausflug” mit Magnus in die Röntgen- und Strahlentherapieabteilungen komme ich beim nächsten Mal. Hoffentlich bald.

15. Februar 2015

Die Fracht am Rhein (Teil 8)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 14:09

Kommen wir nun zum Abschluss meiner Beschreibungen des ADR-Lehrgangs im Frühjahr 2013.

Auch als im Büro arbeitender Gefahrgutbeauftragter erlebt Herr Bach scheinbar genug. Da rief ihn eines Tages die Polizei an, weil ein Transoflex Fahrzeug nicht ausreichend gekennzeichnet gewesen sei: Den Beamten hatte missfallen, dass sich die orangefarbene Gefahrgutwarntafel an der Hecktür nach ihrem Empfinden nicht ausreichend vom ebenfalls orangefarbenen Transoflex Schriftzug oder den orangefarbenen “Rallystreifen” abhob. Wozu, meinte Herr Bach zu dem Anrufer, sei wohl die deutliche schwarze Umrandung der Warntafel da? Und ob er denn auch konsequent alle Fahrzeuge der Stadtwerke rauswinke, wenn sie zwecks einer Instandsetzung eine kennzeichnungspflichtige Menge brennbarer Lackfarbe geladen hätten? Schließlich seien doch auch die deutschlandweit mit den Warntafeln farbgleich. Der Vorwurf wurde natürlich fallen gelasen.

Anderswo hatte sich ein Polizist Verkehrssicherheit und Umweltschutz zur vorrangigsten Aufgabe gemacht und ging so weit, täglich einige Hundert Meter vor dem Tor eines ToF-Depots ein Schild aufzustellen, das die Lieferfahrer pauschal dazu aufforderte, zwecks Kontrolle auf dem nächsten Parkplatz zu halten.
Haltenetz nicht heruntergezogen? Bußgeld.
Pakete nicht formschlüssig geladen? Bußgeld.
Gefahrgut nicht in der entsprechenden Box? Bußgeld.
Fahrt- und Kontrollnachweise vernachlässigt? Bußgeld.
Feuerlöscherplombe durch Unachtsamkeit entfernt? Bußgeld.
Frachtpapiere nicht vollständig oder nicht unterschrieben? Bußgeld.
Schließlich, als die Fahrer wussten, was kam und entsprechend penibel vorsorgten, ging er dazu über, die Transportsicherheit von Gefahrgutsendungen im Besonderen zu überprüfen, indem er feststellte, ob man noch ein Blatt Papier dazwischen einschieben konnte. Wenn Ja: Nicht formschlüssig – Bußgeld. Davon hatte der Konzern alsbald genug und man reichte eine Beschwerde ein, worauf die Schikane aufhörte.

Auch nicht schlecht war die Geschichte von dem Lieferfahrer, der auf winterlicher Fahrbahn auf einem Eisfleck weggerutscht und gegen einen Baum geprallt war. Der Schaden an der Fahrzeugfront war beachtlich und es war zu keinem Austritt gefährlicher Stoffe gekommen, aber der Fahrer hatte wohl einen Schock erlitten, denn während ein aufmerksamer Autofahrer den Unfall schon bald meldete und das Fahrzeug von der Feuerwehr gesichert werden konnte, wurde der Fahrer erst zwei Stunden später ziellos in der Gegend umherirrend aufgefunden.

Am allerirrsten fand ich die Geschichte, dass ein scheinbar radikaler Umweltaktivist einen Sprinter mit Radioaktiv-Kennzeichnung von der Straße abgedrängt hatte, weil er der Meinung war, es handele sich um einen Transport von Brennstäben in ein nahes Atomkraftwerk oder vom Atomkraftwerk in ein Zwischenlager. Dabei transportieren wir ausschließlich radioaktives Material zu medizinischen Zwecken – aber wer weiß das schon? Die Zeiten, wo Atomkraft als saubere Energie verklärt und anerkannt war, sind ja mittlerweile vorbei und dank entsprechender Berichterstattung in allen Medien geht Otto Normaldosenbiertrinker davon aus, dass “Radioaktiv = Teufelszeug”.

Ich weiß ja selbst nicht alles… so war mir zum Beispiel zwar klar, dass so genannte Alphastrahler nur wenig Reichweite besitzen, aber ich wusste nicht, dass sie auch so schwach sind, dass man die Strahlung mit einem Blatt Papier aufhalten kann. Gefährlich sind diese Stoffe nur bei dauerhaftem Aufenthalt im Gefahrenbereich mit entblössten Hautstellen – oder bei Aufnahme in den Körper, zum Beispiel als Staubpartikel in der Lunge oder im Verdauungssystem. Dann wirkt das Partikelchen konstant auf lebende Zellen in der direkten Umgebung und löst mit höchster Wahrscheinlichkeit Mutationen, also Krebs aus.
Man muss sich also darüber im Klaren sein, dass Strahlung nicht haften bleibt. Strahlung dringt gegebenenfalls durch das Gewebe und schädigt lebende Zellen. Das ist alles. Wird die Quelle entfernt, besteht mangels Strahlen auch keine Gefahr mehr. Nur aus psychologischen Gründen sei es angebracht, erläuterte Herr Bach, eine Zusammenladung von zum Beispiel Babybrei mit Plutoniumbehältern gegenüber den aller Wahrscheinlichkeit nach unwissenden Anwesenden im Eingangsbereich eines Krankenhauses zu verschleiern, zum Beispiel mit Hilfe einer kleinen Decke. Die könnten glauben, der Brei sei jetzt verstrahlt und schädlich für die neugeborenen Empfänger, während die einzige tatsächlich feststellbare Veränderung im Nahrungsmittel darin bestehe, dass die Joghurtkulturen “ausgedreht” hätten.

Die Kursteilnehmer, etwa zwei Dutzend, waren allesamt Männer, und die meisten waren keine Leuchten, soll heißen: Menschen von völlig durchschnittlicher Bildung, von zwei oder drei Ausnahmen abgesehen, die den Schnitt unterboten. Ich habe mit dem einen oder anderen auch mal zwei oder drei Sätze geredet, aber zu mehr kam es nicht. Ich hatte den Eindruck, dass ich der einzige Teilnehmer war, der von seiner Firma quasi als Einzelgänger geschickt worden war. Die anderen kannten sich vom Arbeitsplatz her und es gab auch zwei, die früher mal im selben Unternehmen gearbeitet hatten. Die Hälfte der Leute bestand aus den Kindern oder Enkeln von Zuwanderern, darunter ein türkischer Deutscher Anfang Zwanzig, der mir wegen seines Kommunikationsverhaltens am Telefon auffiel, als er in der Mittagspause mit jemandem telefonierte, und das lief etwa so ab:
“(türkischtürkischtürkischtürkisch)? Ey, alles klar, (türkischtürkischtürkischtürkisch). (türkischtürkischtürkischtürkisch), weißt Du? Ey, ich schwör, (türkischtürkischtürkischtürkisch)!”
Als Linguist muss es einen in den Fingern jucken, entsprechende Studien zu machen.

Es war ein “deutscher Deutscher” dabei, der entweder zu der Sorte gehörte, die gern vorgab, schlauer zu sein, als tatsächlich der Fall war, oder zu den Leuten, die es nicht ertragen konnten, ein Nichtwissen zuzugeben. Oder beides zusammen. Seine Kommunikationsstrategie zum Überspielen von Nichtwissen war dabei immer die gleiche:
“Stickstoff siedet bei -196° C und gefriert bei -210° C.”
“Ah ja, genau, absoluter Nullpunkt und so.”
Er wartete regelmäßig Aussagen und Antworten ab und gab dann durch solche Einwürfe vor, sich in genau dem Moment an eben jene genannten Details erinnern zu können. Es hätte ihn bestimmt keiner schäl angesehen, wenn er in solchen Situationen die Klappe gehalten hätte (ich weiß ja selbst nicht auswendig, bei welcher Temperatur Flüssigstickstoff transportiert wird, wozu auch?), aber er litt wohl an einem ausgeprägten Geltungsbedürfnis und ging mir auf den Keks.
(Abgesehen davon hat der so genannte Absolute Nullpunkt rein gar nichts mit dem Gefrierpunkt von Sticktoff zu tun.)

Ich muss aber gestehen, dass ich selbst ein bisschen überdreht war. Ich hatte schon völlig vergessen, wieviel Spaß es machen konnte, sich mal hinzusetzen und sich neues Wissen anzueignen. Ich fühlte mich pudelwohl und man merkte es wohl an meinen “Suggestionen”. Wir behandelten in einer Situation die Weisung, dass ein Fahrzeug mit Gefahrgut, gerade, wenn es sich um radioaktive Stoffe handelte, bei jedem Stopp zu verschließen sei, um eine unbefugte Entnahme durch Dritte zu verhindern, schließlich sei Terrorismus eine reale Gefahr. Herr Bach beschrieb dann eine Adresse in Köln:
“Da steht ein großer Gebäudekomplex, wissen Sie, um was es sich handelt?”
“Die Leichenverbrennungsanlage?”
“Nein, das Wasserwerk! (Was glauben Sie, was los ist, wenn einer eine Plutoniumkapsel aus Ihrem Wagen entwenden und sie in einem der Tanks versenken kann? Usw.)”
An anderer Stelle kamen wir auf Kaliumcyanid (auch als Zyankali bekannt) zu sprechen:
“Wofür verwendet man das?”
“Zum Selbstmord?”
“Ja, auch… in erster Linie braucht man es für Galvanisierungsverfahren in der Industrie.”
Mein rechter Nebenmann konnte ein Lachen nicht unterdrücken:
“Sag mal, was bist Du denn für einer??”
Ich war also auch nicht ohne in diesem Zusammenhang, hatte aber ganz andere unterbewusste Gründe dafür.

Unser Praxisunterricht bestand aus dem Betätigen eines Feuerlöschers. Da kam einer von der Feuerwehr, baute eine Anlage auf, die aus einer Gasflasche und einem angeschlossenen, aufrecht stehenden Rohr bestand, aus dessen Auslassöffnung das Gas strömte. Das Gas wurde entflammt und einer nach dem anderen sprühte es mit dem Feuerlöscher aus, worauf es jeweils erneut entzündet wurde, bis alle durch waren. Ich weiß nicht, ob diese Unterrichtseinheit einen großen Lerneffekt erzielte, aber immerhin hatte ich bis zu jenem Zeitpunkt noch nie einen Feuerlöscher bedient.

Als wir beim Radioaktivkurs angelangt waren, hatte sich die Anzahl der Teilnehmer deutlich verringert, schließlich braucht nicht jedes Fuhrunternehmen einen Spezialisten für dieses Feld. Wir waren dann noch sieben oder acht Leute und ich bemerkte anhand der unterrichtsrelevanten Äußerungen der anderen einen spürbaren Anstieg des Intelligenzquotienten im Kursdurchschnitt – die Kellerkinder waren nach dem Basiskurs zufrieden nach Hause gegangen. Leider erinnere ich mich nicht mehr an das Zahlenverhältnis von ethnischen Deutschen zu Migranten (oder deren Nachkommen).

Ein bisschen Sorge bereitete mir die Ankündigung, dass die Abschlussprüfungen (eine für den Basiskurs und eine für den Radioaktiv-Aufbaukurs) direkt im Anschluss an die letzte Unterrichtseinheit stattfinden würde. Das hieß ja, dass keine Zeit war, noch einmal das Wichtigste durchzugehen und das Aufgenommene einsinken zu lassen. Die Sorge erwies sich allerdings als unbegründet. Ein Großteil der Fragen ließ sich mit gesundem Menschenverstand beantworten, der Rest beinhaltete u.a. Fragen zur Bedeutung von Warnhinweisen.
Ich bestand beide Prüfungen problemlos und hatte lediglich eine Frage falsch beantwortet. Ich ging danach zum Prüfer und wollte wissen, um welche Frage es sich handele und was denn die richtige Antwort sei, aber er wies darauf hin, dass er diese Frage auf Grund der geltenden Regularien nicht beantworten dürfe.

Witzig war, dass mir just zu jener Zeit das Lied “Radioactive” von Imagine Dragons auffiel, ich hörte es auf einer der Fahrten nach Köln zum ersten Mal, also wurde es mein persönliches Lehrgangslied und wollte mir nicht mehr aus dem Kopf gehen. Ich verbinde es mit einer guten Phase inmitten einer arbeitszeitlich extrem anspruchsvollen Zeit.

Moralisch gestärkt kam ich also aus dem Lehrgang zurück und wartete darauf, entsprechend eingesetzt zu werden, doch es gingen weitere Wochen ins Land, ohne, dass sich irgendetwas in dem Bereich tat. Das heißt leider tat sich etwas anderes, was meine längerfristigen Hoffnungen dämpfte.

Dhalsim, neben Stranski und mir eine Stütze des von Peter erdachten Dispoteams, sprach mich eines Morgens am Band locker an und deutete an, sich im Rahmen von JP Transporte selbständig machen zu wollen (also als Sub-Subunternehmer, wie Peter und der Tourenfürst). Ich hätte doch was auf dem Kasten und er könne einen kühlen Denker als Partner brauchen.
Ich war zunächst irritiert. Woher kam dieser Plan? Hatte Peter seine Vorstellung von der Firmenreorganisation überhaupt mit jemand anderem als mir besprochen? Wusste davon irgendjemand was? Oder wusste Dhalsim nur mehr als ich? Diese Fragen verstörten mich, aber ich behielt sie für mich.
Ich lehnte aus anderen Gründen ab. Klar hätte ich nichts dagegen, mich als Fuhrunternehmer selbständig zu machen – aber nicht als Subunternehmer von JP Transporte, sondern bestenfalls bei Transoflex direkt. Ich hatte die Schnauze voll von schrottigen Autos und einer unfähigen, unwilligen oder – am ehesten noch – “angeleinten” Werkstatt, der man, so meine Mutmaßung, aus Kostengründen von ober her verbot, Reparaturen auszuführen, die nicht TÜV-relevant waren. Wie anders sollte ich mir erklären, dass Kratzer und Beulen von den Verursachern zwar bezahlt werden mussten, die berechneten Instandsetzungen aber nie ausgeführt wurden?
Dhalsims Angebot jedenfalls war der erste Streich, und der zweite… folgte nicht sogleich, aber er folgte.

Zunächst spielte sich eine entscheidende “Begegnung” mit meinen beiden Arbeitgebern ab, die sich an dieser Stelle gut macht, um die Skurrilität der Ereignisse der kommenden Monate für den geneigten Leser spürbarer zu machen, soll heißen: Man versteht mit diesen Informationen im Hinterkopf besser, wie ich mich bei all dem fühlte.

Im April waren die beiden noch voll überzeugt, das angedachte Dispoteam durchsetzen zu können, während ich wegen der sich mir darbietenden realen Verhältnisse bereits Zweifel hegte. Als Disponent musste man im Idealfall eine halbe Stunde vor den Fahrern im Depot sein, das heißt, zur Erinnerung, so gegen Vier Uhr morgens. In meinem Fall war das schwierig, da ich ja in Trier wohnte. Bei den aktuellen Arbeitszeiten bedeutete dies, dass ich um 0215 aufstand, um in Ruhe ein Frühstück zu mir nehmen zu können, und um Viertel nach Drei losfuhr, um um halb Fünf im Depot sein zu können.
Dispoarbeit hätte nun all das um eine halbe Stunde verschoben, Aufstehen um 0145, Abfahrt um 0245, das alles in der Hoffnung, durch die neuen Aufgaben vom Fahren etwas entlastet zu werden und zumindest mal wieder um 17 Uhr zuhause sein zu können – man erkennt an dieser Stelle also deutlich, wie bescheiden man als Paketfahrer in seinen Ansprüchen wird. Gerade dann, wenn man bedenkt, was für Arbeitskämpfe Mitte der 1980er stattgefunden haben, um (in der Metallindustrie) die 35-Stunden-Woche durchzusetzen. In der Paketlogistik wirken solche Forderungen wie Utopia, Schlaraffenland, Nimmerland und Wolkenkuckucksheim in einem: Eine 60-Stunden-Woche hätte mir schon zur Zufriedenheit gereicht.
Man fühlt sich an den Band “Asterix und Cleopatra” erinnert, wo die Pyramidenbauarbeiter streiken – und zwar nicht etwa, weil sie höhere Bezahlung oder mehr Freizeit verlangen, sondern weil sie weniger Peitschenhiebe wünschen. Genau so kam ich mir manchmal vor. Nur ohne den Streik.

Mitte April also kamen Rama und Peter zu mir, um das Thema anzusprechen.
“Wann willst Du eigentlich umziehen?”
Meine letzten ernsthaften Versuche, eine Wohnung im Koblenzer Gebiet zu finden, lagen zwei Monate zurück.
“Ich will zuerst sehen, ob sich Euer Plan realisiert, sonst ziehe ich am Ende vergeblich um!”
“Hm, nein”, meinte Rama, “Du musst erst umziehen, sonst können wir Dich nicht so einsetzen, wie geplant.” Denn es ging ja nicht nur um Büroarbeit, meine Aufgabe sollte auch darin bestehen, spontan bei Problemen einzuspringen, was natürlich schwierig ist, wenn man über eine Stunde weit entfernt wohnt. Und dann fügte er einen Satz hinzu, der so typisch ist für die Persönlichkeitsmerkmale, die ihn von seinem Bruder unterscheiden:
“Wenn das nicht so klappt, dann… müssen wir uns was anderes überlegen.”
Diese reichlich unverhohlene Drohung machte mich wütend, aber da diese zombiehafte Existenz mir immer noch besser erschien, als beim Arbeitsamt betteln zu gehen, forcierte ich das Vorhaben “Umzug”.

8. Februar 2015

Die Fracht am Rhein (Teil 7)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 12:23

Ich muss noch eine Saarburger Geschichte hinzufügen. Da war ich in Irsch bei einem Arzt angekommen, kramte sein Paket hervor und schloss gerade die Hintertür des Sprinters, als ein älterer Herr in verdächtiger Kleidung auf die gleiche Eingangstür zuspaziert kam: Grüner Filzhut mit Gamsbart, grüner Lodenmantel, Bundhosen, grüne Wollstrümpfe, wanderfestes Schuhwerk, rustikaler Wanderstock. Ja, es fehlte nur noch die Flinte an der Schulter. Nach einem kurzen Blick auf mein amtliches Kennzeichen – es beginnt mit “WW” – grinste er mich vergnügt an und sagte (wörtlich):
“Ah, Sie kommen aus ’em Westerwald – da wer’n die Frau’n geknallt!”
Ich war erstmal zwei oder drei Sekunden sprachlos wegen dieser unerwarteten Obszönität und entgegenete dann “Nee, da pfeift mir der Wind zu kalt…”, holte mir meine Unterschrift von der Sprechstundenhilfe, und sah zu, dass ich wegkam.

Auch Stranski wollte mal Urlaub, und so kam es, dass uns, den verbliebenen “Trierern”, ein alter Bekannter über den Weg lief: Der Kurde. Richtig, das ist der Typ, der damals versucht hatte, in Komplizenschaft mit drei anderen Mitarbeitern, massenweise Elektronikware zu stehlen. Überführt hatte er alles zurückgegeben und kam mit irgendeinem nie durchgesickerten Deal ungeschoren (wenn auch fristlos entlassen mit Hausverbot im Trierer Depot) davon. Er fuhr dann zwei Tage Bitburg, weil er Peter diese Bitte scheinbar nicht abschlagen konnte. Dabei sei er hundemüde, erzählte er, da er eigentlich Spätschicht in einer Schlosserei arbeite und nach vier Stunden Schlaf nach Koblenz komme, um bis zum Nachmittag Pakete in Bitburg zu verteilen. Wohl auf Grund dieser Belastung kam es dann dazu, dass der Kurde nach zwei Tagen erlöst und durch mich ersetzt wurde.

Durch mich? Moment mal! Warum zum Teufel ich? Vor laaanger Zeit (“vor dausendundeinem Jahr”, um es mal mit der Rhetorik eines Oberst Gerhardus auszudrücken) war ich mal mit Kelvin die Tour gefahren, im Spätsommer 2011, ich hatte sie also schon mal GESEHEN, mehr aber auch nicht. Es lief also wieder so, wie es immer gelaufen war: Ich erhielt morgens ohne Vorwarnung den Auftrag, eine mir unbekannte Tour zu fahren und bekam eine, na ja, halbwegs brauchbare Stoppsetzung, an der ich mich orientieren sollte. Natürlich wurden die ersten drei Tage zur reinen Katastrophe, weil nichts klappte und ich musste mir bei (damals noch) Toom einen Tadel vom berüchtigten Herrn Nörgel anhören, weil er seine Tchibo-Pakete nicht am Mittwoch, sondern erst am Donnerstag erhielt – niemand hatte mir gesagt, dass die bereits um 1300 zumachen.

Herr Nörgel stellte in jener Woche auch weiterhin klar, warum er einen Ruf als altes Ekel hatte: Ein offenbar neuer LKW-Fahrer fuhr an die Rampe und weil er scheinbar davon ausging, er müsse sich erst beim Lagermeister anmelden (ist ja vielerorts so), stellte er sich auf dieselbe, rief mangels Klingel in die offene Tür hinein und wartete auf den Lagermitarbeiter. Lagermitarbeiter Nörgel (irgendwo Mitte Fünfzig, Brille, einen Kopf kleiner als ich, hager, Schnauzbart) kam aus jener seiner Tür, fasste den Fahrer scharf ins Auge und forderte ihn unmissverständlich auf, hinabzusteigen:
“Runter von der Rampe! Sie haben hier nichts zu suchen!”
“Ich steh doch nur hier!”
“Das ist egal, sie haben hier oben nichts zu suchen, also runter da!”
“Das ist aber unhöflich…” fügte der Fahrer noch leise hinzu und trollte sich dann.
Ich merkte mir also gut, die Laderampe überhaupt nur dann anzufassen, wenn es unbedingt notwendig war.

Es wurde im Laufe der kommenden Zeit, in der es mich wieder (und gleich für mehrere Monate) nach Bitburg verschlagen sollte, aber auch klar, dass Herr Nörgel seine Ungunst verteilte, je nachdem, wie sympathisch ihm der entsprechende Lieferant war. Ich habe die Gewohnheit, gerade grantige Kunden mit ausgesuchter Höflichkeit zu behandeln und bekam den Herrn Nörgel nach wochenlanger Bearbeitung dahin, dass er tatsächlich meinen Abschiedsgruß erwiderte (ich wünsche jedem Kunden einen schönen Tag – soviel Zeit muss sein). Auf die Idee, wie der UPS-Mann nach dem Ausladen tatsächlich (ungestraft!) auf die Rampe zu hüpfen, um die Unterschrift zu bekommen, kam ich allerdings nie. Und ich möchte zu guter Letzt noch hinzufügen: Der Umgangston des Herrn Nörgel mag hin und wieder ruppig erscheinen, aber prinzipiell macht er seinen Job richtig, denn er macht nicht lang rum und unterschreibt sofort, und er achtet darauf, dass Lieferanten in der Reihenfolge entladen, wie sie an seiner Rampe ankommen – keine Chance für Vordrängler.

Im März 2013 machte Peter sein Versprechen wahr und buchte mir einen Platz bei der ADR-Fortbildung. Das Akronym “ADR” steht für “Accord Européen relatif au transport international des marchandises dangereuses par route”, offiziell übersetzt als “Europäisches Übereinkommen über die internationale Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße”. Ich sollte den Basiskurs und im Anschluss das Seminar über den Transport von nuklearem Gefahrgut besuchen, mit abschließender Prüfung, Kostenpunkt: 600 E.
Laut Kursplan waren mindestens 18 Einheiten Theorie zu je 45 Minuten vorgesehen, zuzüglich einer Unterrichtseinheit Praxis. Der Unterricht fand in der Transoflex DG Köln statt, jeweils samstags, von 0800 bis in den Nachmittag, inlusive einer Stunde Mittagspause, wenn ich mich nicht irre. Aber es ist schon lange her, und, wie ich bereits erwähnte, sind meine Notizen zur ersten Jahreshälfte 2013 verloren gegangen. Es erscheint mir jedenfalls nachvollziehbar, dass wir dreieinhalbe Tage Grundkurs und zwei Tage Aufbaukurs machten, genau weiß ich es leider nicht mehr.

Der halbe Tag jedenfalls bestand gleich aus einem Freitag, ich würde also nach der Tour sofort nach Köln fahren müssen. Zu jener Zeit war ich in Trier unterwegs, hatte gewissermaßen Glück – ich hielt schnell am Weidengraben an, aß etwas und machte das Auto übernachtungsfähig, weil Peter vergessen oder nicht vorgesehen hatte, mich in einem Hotel oder so unterzubringen. Die Planungen hierzu stotterten jedenfalls bereits im Vorfeld und ich teilte ihm schließlich mit, dass ich mich selber um die Angelegenheit kümmern würde. Ich nahm die Gästematratze, Bettzeug und den Reiskocher (zusammen mit Reis, Furikake und Mayonaise) und fuhr nach Köln.
Am Kölner Depot erklärte ich dem Wachmann meine Situation: Ich würde heute abend nicht mehr nach Trier fahren, nur um morgen in aller Frühe wieder herzukommen – ob es denn möglich wäre, auf dem gesicherten Firmengelände unterzukommen. Der Wachmann teilte mir in (nach meiner Erfahrung) ganz und gar un-wachmann-mäßig freundlicher Weise mit, dass dies auf Grund eindeutiger Vorschriften leider nicht möglich sei, aber ich könne problemlos die Waschmöglichkeiten für die Linienfahrer nutzen, für die eine Dusche vorhanden sei.

Peter hatte angekündigt, die Sitzung am Freitag Abend dauere nicht lange, ein bis zwei Stunden oder so, da würden nur der Kursplan besprochen und Formalia erledigt. Aber damit war’s nichts. Nach der Besprechung und den Formalitäten stiegen wir gleich ab etwa 19 Uhr bis 22 Uhr in den Unterrichtsstoff ein, quasi volle Pulle. Ich hatte mit einer Freundin aus Trierer Studentenzeiten ausgemacht, uns am Abend kurz zu treffen, aber das konnte ich vergessen. Wir erhielten ein Lehrbuch, neueste Ausgabe, weil wir der erste Kurs waren, der nach der neuesten Fassung der Gesetzesvorlage ausgebildet wurde. In Folge dessen bekamen wir nach erfolgreicher Prüfung auch keine “ADR-Scheine” mehr, sondern eine Karte im Kreditkartenformat, inklusive eines biometrischen Lichtbildes (wobei ich feststellte, dass gar keine nicht-biometrischen Bilder für solche Zwecke mehr angeboten wurden). Das Gesicht wird für diese Bilder exakt frontal fotografiert und beide Ohren müssen zumindest theoretisch sichtbar sein. Auf keinen Fall dürfe das Kopfhaar ins Gesicht hängen, so wie bei einem Koblenzer Fahrer vor zwei Jahren. Seiner Beschreibung entnahm ich, dass es sich möglicherweise um den Michael-Jackson-Verschnitt handelte, dessen Auftritt bei der Weihnachtsfeier 2011 ich ja verpasst hatte.

Der Kurs sah übrigens für Frühstücks- und Mittagspausen etwas Verpflegung vor, belegte Brötchen und Getränke, da es in der Umgebung des Depots scheinbar keine Verpflegungsmöglichkeiten gibt. Wir wurden genau darüber belehrt, wieviele Brötchen und Flaschen uns zustanden, aber letztlich war es überflüssig, weil nicht jeder von den Brötchen aß, von daher waren für die anderen Teilnehmer mehr als genug da und niemand hatte Grund, sich zu beschweren, er sei zu kurz gekommen.
Ein bisschen Lachen musste ich nur wegen eines gleichzeitig im Gebäude stattfindenden Managerseminars, denn deren Catering machte einen viel appetitlicheren Eindruck als unseres. Wir bekamen gute, einfache Brötchen mit Käse, Wurst oder Hackepeter (also gewürztes Hackfleisch, für dessen Verfeinerung noch Zwiebeln gereicht wurden):

01 ADR Brötchen

Bei den Managern machten die Brötchen und Schnittchen zumindest optisch einiges mehr her:

02 ADR Managerbrötchen

Nach dem Unterricht ging ich Duschen, brauchte aber mangels Appetit den Reiskocher noch nicht, ich hatte in Trier gegessen. Auf der Ladefläche richtete ich das Gästebett her und ordnete ein paar verbliebene Pakete zu einer Ablage für meine Habseligkeiten. Dabei stellte ich fest, dass meine Telefonbatterie beinahe leer war – nicht weiter schlimm, wenn das Handy nicht auch mein Wecker wäre. Mit dem verbliebenen Ladestand würde das Gerät den nächsten Morgen nicht mehr erleben. Allerdings war es scheinbar so, dass der Wecker auch funktionierte, wenn ich das Telefon abschaltete, damit die Batteriespannung nicht weiter abnahm, aber ich war mir nicht sicher. Ich hatte jedoch keine Wahl, als es zu testen.

Der Wecker funktionierte in der Tat, erwies sich aber als überflüssig. Um sieben Uhr begann der Arbeitstag eines Wertstoffrecyclingunternehmens quasi neben meinem Bett und tonnenweise Altmetall wurden geräuschvoll auf dem Gelände abgeladen. Ich war auf einen Schlag hellwach, fuhr hoch – und die Alarmanlage des Sprinters ging los, weil ich die Schließanlage eingeschaltet hatte, um mich sicherer zu fühlen. Ich sprang also zum Lichtschalter hoch, es war saukalt im Laderaum, krallte mir hastig den Schlüssel und schaltete die Hupe ab. Ich habe in den kommenden Wochen darauf verzichtet, mich im Auto einzuschließen, aber ich blieb dabei, freitags nach der Tour nach Köln zu fahren, da es mir angenehmer schien, als samstags in aller Frühe fahren zu müssen. Es herrschten draußen aber halt Minustemperaturen, und ich spürte das nachts durch die Decke, da sonst um mich herum nur das Blech des Autos war.

03 ADR Unterbringung

Der Kursleiter, Herr Bach (Name natürlich geändert), zeigte sich weniger pedantisch, als man ihn mir beschrieben hatte. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an meine Schilderung der Begebenheit, als der Kurde auf genau diesen Lehrgang geschickt worden war und meine Freundin mehr oder minder scherzhaft mutmaßt hatte, das sei vielleicht Peters Wahl der Mittel, um ihn loszuwerden, da der Kurde fast grundsätzlich zu spät kam und bestimmt aus dem Kurs fliegen würde. Der Kursleiter war in der Tat streng, aber auch flexibel. Einer der Teilnehmer kam zweimal zu spät und erntete Missfallen, wohl am meisten wegen seiner fadenscheinigen Erklärungen, aber er schien nicht in Gefahr, gesperrt zu werden. Er zog es scheinbar selbst vor, zur dritten Sitzung nicht mehr zu kommen.

Herr Bach war ein Füllhorn interessanter Anekdoten. Er hatte wohl selbst als LKW-Fahrer angefangen und hatte sich mittels Fortbildungen in seine aktuelle Position hochgearbeitet, als Hauptverantwortlicher für Gefahrgüter bei Transoflex. Würde irgendeiner von uns beim Gefahrguttransport einmal Mist bauen, würde er es binnen fünf Minuten erfahren.
So erzählte er zum Beispiel, dass er mit einem Lastzug mit flüssigem Aluminium an einer eisglatten Steigung (er nannte auch die konkrete Stelle einer bestimmten Autobahn) ein Rückwärtsrutschen nur hatte verhindern können, indem er bei Vollgas die Räder drehen ließ, und glücklicherweise war die Fahrbahn so ausgewalzt, dass ihn die Spurrillen zur Seite hin festhielten.
Außerdem war er Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr und hatte bei einem Rettungseinsatz wegen einer Massenkarambolage auf einer Autobahn erleben müssen, wie die Gegenfahrbahn von haltenden Schaulustigen blockiert wurde und einer der Neugierigen ihn während der Erstversorgung eines Verletzten von hinten wegzuschieben versuchte, um ein Foto machen zu können.

Mein Vater hat selbst einmal mit dem LKW in einem solchen Stau irgendwo zwischen Saar und Odenwald gestanden und war irgendwann nach vorn gegangen, um zu sehen, warum der Verkehr stillstand, obwohl der Verkehrsfunk wissen ließ, dass sich der Unfall in der Gegenrichtung ereignet hatte. Auch in diesem Fall standen da Schaulustige, die mitten auf der Autobahn angehalten hatten. Er krallte sich einen davon und fragte ihn, was er glaube, hier zu tun? “Och… mal gucken…” sagte er Angesprochene ziemlich unverbindlich, worauf meinem Vater der Kamm schwoll, also sagte er zu ihm, er werde jetzt die 200 m zu seinem LKW gehen und den Axtstiel hinterm Sitz hervorkramen, und wenn er dann hier zurückkomme und die Fahrspur nicht frei sei, werde er sein Auto kurz und klein schlagen. Der Verkehr kam binnen einer Minute wieder ins Rollen.
Einen solchen Extremfall habe ich selbst noch nicht erlebt, aber es passiert bei Blaulicht auf der Fahrbahn gegenüber immer wieder einmal, dass es zu einer Verlangsamung des Verkehrsflusses kommt, weil die Neugierigen zwar nicht stehen bleiben, aber das Tempo zurücknehmen, um wenigstens einen Blick auf das Geschehen werfen zu können.

25. Januar 2015

Die Fracht am Rhein (Teil 6)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 14:49

Konrad ging nicht mit lautem Donnerknall wie Elmo, aber auch nicht so sanft fließend wie Bert. Eines Morgens erfuhr ich, dass er im Krankenhaus gelandet sei. Ich hakte nach: Nein, er habe keinen Unfall gehabt, aber die Polizei habe ihn aus dem Verkehr gezogen. Mehr konnte oder wollte mir Peter nicht sagen, bat mich aber, die Krankmeldung bei Konrad selbst abzuholen, im Trierer Mutterhaus.
Nach der Tour fuhr ich dorthin, fragte am Empfang und wurde in die psychiatrische Abteilung geschickt. Ich fand ihn schlafend in einem Dreierzimmer und er war ganz baff, dass ihn jemand besuchen kam. Ich war zwar wegen des Attests geschickt worden, nahm mir aber die Zeit, ihn in den kommenden Tagen noch einmal zwanglos zu besuchen und erklärte mich bereit, ihn am Tag seiner Entlassung zum Bahnhof zu bringen.

Wir hatten also etwas Zeit für Dialog und er kam mit den Ereignissen rüber, die ihn in dieses Haus gebracht hatten: Er hatte scheinbar abends eine Auseinandersetzung mit seiner Frau gehabt und war am folgenden Morgen zur Arbeit gefahren. Währenddessen rief seine Frau bei der Polizei an und gab an, er habe sie bedroht. Ein Streifenwagen hatte ihn daraufhin auf der Tour abgefangen und ihn mit den Vorwürfen konfrontiert; er dürfe seine Familie (und damit sein Kind) nicht sehen, bis die Anschuldigungen geklärt seien. Konrad liebt sein Kind natürlich mehr als alles andere und in dieser Situation rutschte ihm wohl die Aussage raus, wenn er sein Kind nicht mehr sehen dürfe, “dann kann ich mich auch gleich umbringen!” Die beiden Beamten nahmen das wörtlich, nahmen den Fahrzeugschlüssel an sich und brachten Konrad auf direktem Weg ins Mutterhaus.
Ich würde keine Sekunde lang glauben, dass Konrad jemand ist, der jemand anderem drohen würde und dies auch noch ernst meint. Aus den verschiedenen Informationsschnipseln der vergangenen Monate und dem ausführlichen Gespräch an jenem Tag würde ich eher schlussfolgern, dass seine Frau eine Person ist, die ihren Kontrollanspruch mittels des gemeinsamen Kindes als Geisel durchsetzen will: “Du tust, was ich sage, oder ich sorge dafür, dass Du Dein Kind nie wieder siehst!”

Ich habe schon einmal einen solchen Fall kennen gelernt, das ist allerdings eine Weile her. Ein netter Kerl zeugte “versehentlich” ein Kind mit einer Frau, die er noch nicht allzu lange kannte und sah sich zum Heiraten genötigt; sie stellte sich im Nachhinein als Hexe mit Kontrollwahn heraus, von der er sich gern wieder geschieden hätte, tat es aber nicht, weil er fürchtete, von seinem Kind getrennt zu werden.
Dabei sei allen Vätern in dieser Situation gesagt, dass ihre Rechte in diesem Bereich ausgeprägter sind, als der Laie glauben mag. Erst Ende 2012 wurden die Rechte geschiedener Väter von einem Bundesgericht weiter gestärkt.
Nun ja, Konrad jedenfalls verließ das Krankenhaus nach zwei Wochen wieder, aber nachdem ich ihn am Bahnhof abgesetzt hatte, sah ich ihn nie wieder. Es bleibt nur zu hoffen, dass sein Leben heute besser ist, als in jenen Tagen.

Dies bedeutete dann, dass von den Trierer Fahrern nur noch Felix, Puck und ich übrig waren. Konrad wurde vorerst durch Joe ersetzt, einen stämmigen und sicherlich keinesfalls hübschen Syrer, geschätzt Mitte 40, der hervorragende Arbeit leistete, den Job aber hasste. Ich schätzte ihn als Kollegen und fand es positiv, jemanden wie ihn im Team zu haben. Er wechselte im Laufe des Jahres zu den Stadtwerken Trier, wo man ihn als Busfahrer einstellte, aber er kam über die Probezeit nicht hinaus. Über die Gründe hüllte er sich in Schweigen.

Einer passt hier dann schön in die Lücke: Joes Cousin. Der wohnt in Trier und ist mit einer Frau verheiratet, die am Tage meiner mündlichen Abschlussprüfung in der Anglistik die Nebensitzerin gewesen sein könnte – Frau Dr. Gerbig hatte sie mir natürlich kurz vorgestellt, aber leider war ich an dem Tag zu nervös, um mir ihren Namen zu merken. Ich habe sie allerdings angenehm in Erinnerung, da ihre Ausstrahlung entspannend auf die Situation wirkte. Mit dem Cousin jedenfalls fuhr ich durch die Eifel, wörtlich von früh bis spät, und er war nicht davon angetan, was er erlebte, zumindest bezüglich der Arbeitszeit. Natürlich sagte er ab – was ich ihm nicht verdenken kann und ich riet ihm auch von dem Job ab. Auch er hatte studiert und suchte übergangsweise etwas, aber meine Erfahrung sagte mir damals wie heute, dass man aus diesem Job nur schwer wieder herauskommt – man hat für die Jobsuche schlicht kaum Zeit. Das geflügelte Wort “Einmal Fahrer, immer Fahrer!” hatte sich bereits zu häufig als wahr herausgestellt.
Ein paar Wochen später stand er erneut auf der Matte. Seine Arbeitssuche war bislang erfolglos, er hatte ein Kind zuhaus und seine Frau verdiente als Doktorandin nicht viel. Vielleicht war Paketfahrer doch besser als nichts? Aber auch an seinem zweiten Probetag fiel sein Urteil negativ aus: Alles, nur das nicht.

Wenn ich Joe in der Folgezeit sah, fragte ich ihn immer, wie es dem Cousin denn gehe, und wie es scheint, war er zumindest zeitweise bei Japan Tobacco in Trier untergekommen, wo man im Vergleich zu anderen Lagerjobs eine Menge verdiente und wo Rauchen am Arbeitsplatz nicht nur erlaubt, sondern erwünscht ist. Der Cousin rauchte also eine Menge über den Tag und bekam die dafür notwendigen Zigaretten auch noch vom Konzern geschenkt. Ich habe JTI ebenfalls beliefert und ich hätte schon wegen des Geruchs, der von dem Werk ausging, kotzen können, und der Geruch begleitete mich den ganzen Tag, wenn ich Tabakproben im Zentnersack auszuliefern hatte. Ich habe nicht umsonst vor ein paar Jahren zu meinem Jobvermittler gesagt, dass er mir mit JTI nicht zu kommen brauche. Aber der Cousin war selbst Raucher und fand an dem Tabakgeruch nichts schlimmes. Nun war ein Lagerjob für einen Akademiker natürlich auch nicht das Wahre, aber, wie gesagt: Bei JTI verdient man wohl nicht schlecht.

Der Cousin klagte auch, dass er zwar schon so lange in Deutschland lebe, aber trotzdem noch keine deutschen Freunde habe. Da ich ihn als intelligenten Gesprächspartner sympathisch fand, bot ich ihm an, in Kontakt zu bleiben, wofür er sich zwar bedankte, aber ich habe nichts mehr von ihm gehört, abgesehen von einem zufälligen Treffen an einer Tankstelle. Sein Mangel an deutschen Freunden geht also nicht allein von den Deutschen aus. Aber ich habe seine Telefonnummer, vielleicht sollte ich sie nutzen… und sei es nur, um herauszufinden, ob ich seine Frau tatsächlich an jenem Tag bereits getroffen habe.

Während Joe in Trier Busse lenkte, fuhr auch ich eine Weile Saarburg, und ich dachte noch, die Tour sei ja eigentlich okay, ich war gegen 17 Uhr zuhause – bis man mir nach zwei Tagen auch Konz zuteilte, das ja eigentlich zur Tour gehörte und das Peter nur deshalb ausgelassen hatte, um mir Zeit zu geben, mich an den Rest der Tour zu gewöhnen. Konz fraß etwa 60 bis 90 Minuten Zeit. Es war also auch weiterhin nicht daran zu denken, zu einer angenehmen (oder auch nur einer annehmbaren) Zeit zuhause zu sein.
12-Uhr-Expresse in Freudenburg – das ist nicht weit nördlich der Saarschleife: ein Albtraum. Eigentlich nicht mehr zu schaffen. Das hat dem Möbelhaus dort nicht gefallen, da bestellte Spülen eigentlich am Nachmittag beim Kunden verbaut werden sollten. Ich beschrieb also die Lage, die der Wechsel nach Koblenz mit sich gebracht hatte und bat um Verständnis.

Kein Verständnis hatte eine Werkstatt im gleichen Ort, da lieferte ich für 12 Uhr bestellte Felgen erst gegen drei Uhr, der Kundentermin war natürlich geplatzt, der Eigentümer stinksauer. Ich entschuldigte mich für die Verspätung und sagte, wahrheitsgemäß, dass auch das Krankenhaus in Saarburg eine Medikamentenlieferung bis 12 Uhr bestellt habe, dass ich aber aus Zeitgründen nicht an so vielen Kunden vorbeifahren könne, um alle Expresse zu schaffen, da ich anschließend wieder zurückfahren müsse, um die geplante Tourroute wieder aufzunehmen, was viel Zeit koste und ich könne ja nicht bis abends um sieben oder acht Uhr ausliefern, wollte ich nicht wegen Übermüdung zur Verkehrsgefahr werden. Ich wollte ja nur, dass er verstand, dass es mir wichtiger erschien, Medikamente pünktlich ans Ziel zu bringen, als Felgen. Von der pünktlichen Lieferung eines Medikaments kann der Erfolg einer ganzen Therapie abhängen. Er glaubte mir allerdings kein Wort und meinte, dass wichtige Medikamente wohl kaum vom Paketdienst geliefert würden. “Ach?”, fragte ich zurück, “Wer bringt die denn sonst? Die Bundeswehr etwa? Aber wenn Sie das sagen, dann wird es wohl stimmen.”
Das Gespräch endete an dieser Stelle, und ich glaube, das war auch besser so. Was will der mir über meinen Job erzählen? Ich erzähle ihm ja auch keine Geschichten von der Drosselklappe, denn wenn man keine Ahnung hat: Einfach mal die Fresse halten!

Andere auffällige Punkte der Tour bestanden darin, dass ich eine junge Frau Özdemir damit überraschte, dass ich ihren Namen schreiben konnte (weil ich hin und wieder Zeitung lese) und dass ich einen Turnbeutel an der Bushaltestelle fand, den ich prompt in der entsprechenden Schule abgeben und moderne Technik in Anwendung sehen konnte: Da hängen in den Gängen Monitore, auf denen man ablesen kann, welcher Unterricht wann in welchen Raum stattfindet.
Ganz übel fand ich Pakete mit Büromaterial für ein bestimmtes Bergwerk an der Saar – denn dafür musste man quasi bis zur saarländischen Grenze fahren und dann den selben Weg wieder zurück, bis zur Brücke bei Taben-Rodt, um Richtung Freudenburg weiterfahren zu können. Ein irrer Zeitmörder. Der Ferienpark Warsberg, westlich oberhalb von Saarburg, war harmlos dagegen.

Außerdem hatte ich zur Erleichterung meiner Arbeit ein Rollbrett im Baumarkt gekauft, das mir gute Dienste leistete – bis ich es (vermutlich) in Saarburg bei einem Kunden stehen ließ, möglicherweise im Krankenhaus. Es wurde jedenfalls nicht mehr gefunden. Ich kaufte ein neues, aber ein kleineres, weil die großen ohne Angebotspreis dann doch etwas teuer waren, aber das war wegen der geringeren Fläche nicht ganz so praktisch. Außerdem wurde es mir nach wenigen Monaten im Depot gestohlen – ich hatte es einem Kollegen geliehen, damit der seine Pakete ins VL schieben konnte, er vergaß es dort und bis ich davon erfuhr, war es auch schon spurlos verschwunden. Der Rocker hatte nichts bemerkt, denn schließlich kommen und gehen immer wieder Leute mit solchen Dingern.

Es war dann an einem Morgen im Frühjahr (immer noch 2013), als wir um kurz nach Acht merkten, dass nichts mehr ging. Einer nach dem anderen sendete per Scanner seine Anfrage auf Überprüfung der Vollständigkeit der gescannten Packstücke, aber es kam nichts zurück. Der einzige, der davon verschont blieb, war Stransky – der war wie üblich bereits um kurz vor Acht rausgefahren und ging seinem Tagewerk wie üblich nach.
Es stand bald fest, dass das Transoflex Servernetzwerk ausgefallen war, und zwar in der gesamten Republik. Die IT-Abteilung in Weinheim arbeitete nach eigenem Bekunden mit Hochdruck an der Lösung des Problems, aber um 10:30 Uhr saßen immer noch alle Fahrer im Depot herum und mussten untätig warten.
Peter befand sich zu dem Zeitpunkt im Urlaub an der türkischen Riviera, und weil ja nichts zu tun war, rief Rama ihn in einem Anflug von Galgenhumor an:
“Du, wir haben’s hier halb Elf und wir sind noch nicht rausgefahren.”
“Haha, das ist mir grad völlig egal. Ich hab Urlaub.”

Im Laufe der darauf folgenden halben Stunde bahnte sich eine Notlösung an. Nach Anweisung und Anleitung von R. wurden die Scanner im Notbetrieb hochgefahren und sämtliche Scannungen würden in deren Speicher abgelegt, und eben nicht sofort an das Netzwerk weitergeleitet. Während des Arbeitstages musste besonders darauf geachtet werden, dass Abholungen und nicht ausgelieferte Pakete als solche kenntlich gemacht wurden, denn bei einem solch späten Arbeitsstart musste es notwendigerweise dazu kommen, dass man den einen oder anderen Kunden nicht mehr vor dem Ende der Warenannahmezeiten oder des Feierabends erreichte. Und es wurde ein langer Tag.

Am anderen Morgen wurden dann alle Fahrzeuge im Uhrzeigersinn um das Gebäude geleitet, damit der Rocker am Südtor Termine und Abholer in Empfang nehmen konnte. Ob der Aufwand technisch notwendig war, weiß ich nicht, aber es kostete auch wieder Zeit. Immerhin arbeitete das System zu dem Zeitpunkt wieder normal.

Alles andere als normal ist natürlich jedes Jahr die Fastnachtszeit. Sie sorgt immer wieder für Umleitungen und Wartezeiten, weil man immer irgendwo in einen Umzug hineingerät. Auch in jenem Jahr kam ich in Neuerburg bis zum Krankenhaus und machte dann gezwungenermaßen einen kilometerweiten Bogen um die Stadt herum, um am anderen Ende wenigstens das Altenheim und den Stihlhändler beliefern zu können. Die Apotheken und der Frisör mittendrin hatten da halt verloren.
Aber das war ja schon wie gehabt, 2012 war es nicht anders gewesen. Vielmehr hatte ich mich im Vorfeld mit den Kollegen Stransky und Tom abgesprochen, uns zum Rosenmontag zu verkleiden: Stransky hatte noch eine UPS-Uniform im Schrank, Tom besaß noch GLS-Klamotten und ich hatte eine TNT-Jacke.
Am Tag der Wahrheit war ich dann allerdings der Einzige, der sich traute, den Plan durchzuziehen: Ich kam im Depot an und meine beiden Komplizen trugen das übliche Zeug von ToF. Na gut. Es dauerte dann aber auch nicht lange, bis der R. auftauchte, und mich aufforderte, bitte die ToF-Jacke anzuziehen und erklärte mir, dass die Regularien verlangten, dass die Mitarbeiter im Depot die korrekte Arbeitskleidung trügen – was wir außerhalb des Depots anhätten, sei dagegen egal. Das verstand ich nicht; schließlich würde diese “Verkleidung” ja dazu führen, dass ich beim Kunden quasi Werbung für ein Konkurrenzunternehmen machte. Der R. verstand es auch nicht und erlaubte den Fastnachtsscherz – nachdem er sich vergewissert hatte, dass ich während des Beladens noch die “richtige” Bekleidung trug.

Eine interessante Begebenheit im Zusammenhang mit den “tollen” Tagen kann ich noch berichten: Ich fuhr auf der Landstraße auf einen Hügel zu, als sich dort der Umriss eines Stuhls abzeichnete. Ich dachte einen Moment lang, ich hätte was an den Augen, da die wahrgenommene Größe des Stuhls in keinem Verhältnis zur geschätzten Entfernung zur Hügelkuppe stand. Als sich dann wenige Sekunden später vor dem Stuhl die Silhouette eines Traktors zeigte, wurde mir die Ursache für die Sinnestäuschung bewusst: Es handelte sich um einen Umzugswagen, in Form eines riesigen Stuhls, der hier von einem Umzug zum nächsten geschleppt wurde.

16. Januar 2015

Die Fracht am Rhein (Teil 5)

Filed under: Arbeitswelt,Musik — 42317 @ 20:47

Nun pendelte ich also täglich nach Koblenz, im dicksten Februarwinter. Auf der Fahrt hörte ich Radio und fand ganz unerwartet mehrere aktuelle Songs, die mir gefielen, so sehr, dass ich sie auch kaufte. “Everything at once” war dabei (ein Lied, das möglicherweise niemals so weit gekommen wäre, hätte es diese Kinowerbung damals nicht gegeben…), auch “Guardian”, “Geboren um zu leben”, “Euphoria” lief ab und zu, “Move in the right direction”… Irgendwann auch dieses Lied von SELIG… wo man sich bei Stress am Paketband dabei erwischte, wie man auf einmal laut “Bitte, bitte, bitte, bitte, bitte nicht alles auf einmal!” sang. Radio hören war ungewohnt befriedigend in jenen Tagen, wenn man davon absah, dass der Moderator einem schnell auf den Keks gehen konnte. Nach wenigen Wochen, als all die schönen Lieder wieder out waren, war es dann aber auch schon wieder vorbei.

Dienstlich hatte ich mit Peter um diese Zeit das Gespräch, dass ich den Druck nicht ewig aushalten würde, denn immerhin arbeitete ich bereits seit Mitte November über 12 Stunden pro Tag (gerechnet ab 0430 am Morgen, bis ich denn um 17 Uhr, um 18 Uhr oder sogar noch später endlich nach Hause kam) – was immerhin dazu führte, dass er mir anbot, an zwei Wochenenden, genauer jeweils Sonntag auf Montag, ein Zimmer für mich zu reservieren, damit ich in Koblenz auf Wohnungssuche gehen konnte, da die für mich angedachte Verwendung voraussetzte, dass ich nah am Arbeitsplatz wohnte, und die neuen Aufgaben übernehmen zu können, war die Voraussetzung für weniger Arbeitsstunden.
Der Plan war gut gemeint, machte aber natürlich wenig Sinn, da man heutzutage Wohnungen per Internet sucht, dann einen Termin mit dem Vermieter aushandelt und nach Absprache hinfährt. Diese komplexe Kette von Handlungen an einem Sonntag hinzubekommen, war fast unmöglich (ich hatte die Woche über nicht wirklich Zeit, mich abends noch um sowas zu kümmern), aber ich tat (bzw. versuchte) es trotzdem.

Ich nahm den Laptop meiner Freundin und setzte mich ins Ibis Budget Hotel in Mülheim-Kärlich, das anpries, kostenloses W-LAN zur Verfügung zu stellen.
Die Zimmer mit Dusche waren sauber, das Bett bequem – was will man mehr? Na, ich wollte W-LAN. Aber der Empfang war in den Zimmern (zumindest in den beiden, die ich bewohnte) so schlecht, dass da kein Blumenpott und schon gar keine Wohnungssuche mit zu gewinnen war. W-LAN hatte man genau dann, wenn man sich im Eingangsbereich direkt an den Router setzte, und da der Lobbybereich nach den Frühstückszeiten wieder geschlossen wurde, blieb einem nur der Fußboden. Alternativ gab es einen frei zugänglichen Rechner am Eingang, wo man nach Lust und Laune surfen konnte – im Stehen. Tolle Wurst.

Ich suchte auf einschlägigen Seiten und fand auch Angebote, die mich reizten (höchstens 600 E Warmmiete, 3ZKB, kein Dachgeschoss, höchstens 30 Fahrminuten vom Depot weg, vielleicht auch nicht gerade ein Dorf mitten in der Pampa, wo meine Freundin ohne Auto und Führerschein keine Jobchancen hätte und der Wocheneinkauf schwierig wäre), aber auf telefonische Anfrage hin erhielt ich entweder Absagen oder es offenbarte sich das andere Problem, nämlich, dass ein Besichtigungstermin so kurzfristig nicht zu machen sei. Es lief also so, wie erwartet.
Gefrustet besuchte ich einen in Koblenz lebenden Schulkameraden und verbrachte den ersten Sonntag Nachmittag mit Schwatzen und Fernsehen (die Neufassung von “True Grit” mit Jeff Bridges und Matt Damon von 2010 – guter Film übrigens).
Die beiden anberaumten Wochenenden vergingen so eher nutzlos, da ich nur das tun konnte, was ich auch von Trier aus hätte tun können: Im Netz nach Wohnungen suchen. Es sollte danach noch ein paar Wochen dauern, bis ich auf konventionellem Wege eine Wohnung fand und den Umzug nach Koblenz in Angriff nehmen konnte. Dazu später mehr.

2013 war (nun auch in Retrospektive) so etwas wie ein ewiges Vorweihnachten. Ich bekam mehr Stopps, als ich je für möglich gehalten hatte. Der erste Rekord waren 63 Kunden auf der Eifeltour, das sind bei meinen Fähigkeiten genug, um bis abends um Sechs mit Ausliefern beschäftigt zu sein. Ich verlor die Nerven, könnte man sagen: Mit einem FedEx-Umschlag kam ich zu einer Kundin, die auf dem Veterinäramt arbeitete und nie zuhause war. Ich brauchte Wochen, bis sie endlich eine Anliefervereinbarung (ALV) einreichte, die es mir erlaubte, ihre Pakete ohne Unterschrift in die Garage zu stellen. Die Nachbarn nahmen nichts mehr für sie an und beschrieben sie als eine Art Zicke, die sich nicht dazu herabließ, auch mal Danke zu sagen…
Ihre ALV galt jedenfalls nur für Transoflex-Pakete, nicht für FedEx-Packstücke, auch, wenn sie vom selben Fahrer gebracht werden (FedEx verlangt einen eigenen Vertrag). Ich wollte das Paket aber loswerden, denn erstens hatte ich so schon genug Stress und zweitens wurde die Straße ausgebessert, das heißt, ich musste 200 m durch die Baustelle gehen, um überhaupt zu ihrer Adresse zu gelangen.
Was tun? Ich schrieb in das Namensfeld des Scanners “Meier” und improvisierte eine Unterschrift. Wen interesiert schon, wer der Herr Meier ist, wenn das Paket da ankommt, wo es hinsoll? Ich legte es an den gleichen Platz, wo auch sonst immer die anderen Pakete hinkamen, schloss die Garage fest zu und fuhr weiter.

Unerwarteterweise wurde ich am folgenden Tag vom Rasterfahnder und dem R. in die Mangel genommen: Wo das Paket und wer der Herr Meier sei, der sei dort unbekannt. Nein, ich hatte das Paket nicht gestohlen – was sollte ich mit einem Stück Damenbekleidung (“Rumba Skirt” sagte die Inhaltsbeschreibung)? Ich legte die Karten auf den Tisch, der Rasterfahnder informierte die Kundin, die fünf Minuten brauchte, um ein Päckchen mit auffällig buntem “FedEx” Aufdruck in ihrer kleinen Garage zu finden, und ich hatte bei der Gelegenheit bei R. einen nicht geringen Teil meines guten Rufs verloren. Zum Kotzen war das. Nicht nur, dass ich mich hatte gehen lassen, die Frau war scheinbar genau so dämlich, wie die Nachbarn das behaupteten.

Ich war natürlich nicht der einzige, der nicht wusste, wo ihm der Kopf stand. Die Suche nach Paketen trieb so manchen bis kurz vor die Verzweiflung und bei Doc hatte ich ab und zu den Eindruck, er sei den Tränen nah. Ich half ihm, wo ich konnte (wie ich das bei jedem tat, der es nötig hatte) und sparte ihm durch entsprechende Tipps auch einiges an Zeit. Dann verschwand das verzweifelt zerknitterte Gesicht und machte einem strahlenden Lächeln Platz. Die Verwandlung war angesichts der Polarisierung von einem Extrem ins andere immer wieder amüsant. Er versprach mir, bei Gelegenheit vorbeizukommen und nigerianisches Essen zu kochen, seine Mutter habe nicht versäumt, ihm entsprechende Fähigkeiten mit auf den Weg nach Europa zu geben.

Dann kam er einmal zu mir und beschwerte sich über einen Kollegen, der ihn unhöflich behandelt hatte. “He’s a fucking racist!” sagte er. Ich dachte einen Moment über den Angeklagten nach, meinte aber dazu: “Nein… der redet mit allen so, wenn er einen schlechten Tag hat. Alle Rassisten sind Idioten, aber nicht jeder Idiot ist auch ein Rassist.” Leuten mit Vorurteilen gegenüber Minderheiten rutschen in der Regel immer wieder herablassende Wörter heraus (z.B. “Hakennase” für “Jude”/”Israeli”), die für sie normale Sprache sind (und viele kleiden die fraglichen Vokabeln unterbewusst in einen spöttischen Sprechklang, um dem Ganzen den Anschein eines Scherzes zu geben), das heißt, es fällt ihnen nicht auf, dass sie sich jeden Tag outen; das war bei dem Gemeinten aber nicht der Fall, von daher blieb und bleibe ich bei meinem Urteil.

Es gab natürlich auch unterhaltsame Momente… so sprach er mich einmal an (mit dem situationsgemäß verzweifelt in Falten gelegten Gesicht) und klagte, dass er viele Pakete und einen 12-Uhr-Express in einem der abgelegenen Eifeldörfer habe – wie solle er das schaffen? Bert war in der Nähe und hatte das mit angehört. Er schlurfte zu uns herüber, legte mir brüderlich die Hand auf die Schulter und sagte mit einem Grinsen zu mir:
“Don’t listen to him… you know, for him, everything is, like, faaar and cooomplicated…”
Sogar Doc lachte darüber und rief: “Shut the fuck up!”

Ein andermal ging es um sein Haar, um die Ansammlung desselben auf seinem Kopf. Leider weiß ich nicht mehr, wie wir darauf gekommen waren, aber ich kam nicht umhin, meinen Verdacht laut zu äußern:
“Are you dyeing your hair!?”
Ein Ausdruck des Ertapptseins erschien auf seinem Gesicht, und er erwiderte mit einer Stimme, als flehe er den Richter um Gnade an: “I’m not a young man anymore…”
Ein schlicht köstlicher Moment.

Als kleine Anekdote sei hinzugefügt, dass er Anfang Januar 2013 ein paar Tage krankgeschrieben war, ich wurde an seiner statt in die Eifel geschickt. In Neuerburg erwartete mich die bereits früher beschriebene Frau des Tierarztes, drückte mir 20 E in die Hand und sagte: “Hier, Ihr Weihnachtsgeld, ich hab schon auf sie gewartet.” Wahn-sinn! Es gibt Tage, da weiß man, dass man etwas richtig macht.

Aber als der Winter dann vorbei war, verließ uns Doc wieder. Er hatte wohl Ende Sommer ein Kind gezeugt, dessen Geburt für Ende Mai angekündigt war, und plante voraus. Um das Kind in guten Händen zu wissen, hatte er den Umzug von Trier nach St. Wendel beschlossen, in die Nachbarschaft seiner Schwiegermutter, die einspringen würde, wenn seine Frau arbeitete, und um die Sache abzurunden, hatte er einen Wechsel ins Transoflex Depot in St. Ingbert erwirkt. Ich telefonierte ein paar Wochen später mit ihm und fragte, wie es ihm so ginge und er zeigte sich guter Stimmung. Er brauche zehn Minuten bis zum ersten Kunden und sei um 16 Uhr zuhause. Ich sprach ihn auf sein Versprechen mit dem Essen an und er versicherte mir, dass er das keinesfalls vergessen habe. Aber der Mai stand vor der Tür und ich fragte ihn, ob es möglich sei, in den kommenden vier Wochen einen Termin zu finden – denn wenn das Kind erst mal geboren sei, werde er keine Zeit mehr für egal was haben. Nein, im Mai habe er leider keine Zeit, aber das werde sicherlich noch im Laufe des Jahres 2013 hinhauen.
Natürlich kam es letztendlich so, wie ich es prophezeit hatte. Wir standen auch nach Mai 2013 noch in lockerem Kontakt, aber sein Familienleben nahm ihn voll und ganz in Anspruch. Es sei ihm gegönnt.

Bei Elmo kam es zu einem Kurzschluss. Es dürfte im April oder Mai gewesen sein. Er arbeitete auch viel zu viel und zu lang, und er machte (zumindest nicht ganz zu Unrecht) die mangelnde Kompetenz von Peter und Rama dafür verantwortlich. An einem warmen Frühlingstag kam es um etwa Viertel nach Acht zur Konfrontation der drei. Es wurde laut und emotional und Rama sprach eine fristlose Kündigung aus, und danach tat er etwas, was ich ihm bei aller sonstiger Sympathie nachtrage: Er forderte die Richtung Trier abfahrenden Fahrer auf, Elmo keinesfalls mitzunehmen, der solle selber gucken, wie er heimkäme.
Ich ignorierte diese Aufforderung geflissentlich, sammelte Elmo am Ende der Straße auf und fuhr ihn zu einer Bekannten nach Ehrang, da ich zu dem Zeitpunkt Trier Nord fuhr.
Ein paar Wochen später traf ich ihn erneut, in Ruwer: Er hatte einen Job bei GLS gefunden (Mike ließ grüßen), wenn auch als Sprinterfahrer. Aber er sah zehn Jahre jünger aus als an dem Tag, an dem man ihm in Koblenz gekündigt hatte. Bei GLS sei auch nicht alles traumhaft, erzählte er, aber er könne nun wieder zu einer verträglichen Zeit aufstehen und habe eine vertretbare Arbeitslast zu tragen.

Auch Bert ging zum Ende der ersten Jahreshälfte. Er fand einen Lagerjob so nah an seinem Wohnort, dass er mit dem Fahrrad hinfahren konnte. Zufällig handelt es sich um einen Kunden der Saarburger Tour, von daher sah ihn Puck ab und zu, wenn er dort eine Zustellung machte.

30. Juni 2014

Die Fracht am Rhein (Teil 4)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 9:47

Weiterer Exkurs über nennenswerte Persönlichkeiten an meinem Arbeitsplatz:

Big – der hat einen hundsgewöhnlichen deutschen Familiennamen, und den hat er, weil er als Dreizehnjähriger aus Thailand heraus nach Deutschland adoptiert wurde, von einem Ehepaar, bei dem die Frau thailändischer Herkunft ist, und abgelegt hat er die thailändische Staatsangehörigkeit auch nicht. Er wird allgemein Big genannt, weil sein Vorname für deutsche Ohren doch sehr exotisch ist und weil er als Kind einer der größten in seiner Grundschule war, aber der Effekt hat nicht angehalten… er dürfte so um die einssechzig sein.

Ich traf ihn Ende Frühjahr 2013, als man ihn zu mir ins Auto setzte, damit er die Tour Trier West übernehmen konnte, die ich zu dem Zeitpunkt für ein paar Wochen gefahren hatte. Er hatte bereits zuvor für das Unternehmen gearbeitet, war aber derzeit arbeitslos und JP Transporte erschien ihm wohl besser als gar nichts.
Big ist fünf oder sechs Jahre jünger als ich, also über 30, was ihn zu der Behauptung veranlasst, er sei schon alt. Er hat Witz, Herz und Verstand; einfach zu behaupten, er würde mangelnde Körpergröße durch ein freches Mundwerk ausgleichen, ist zu kurz gegriffen.

Trier West ist eine gute Tour, ich schaffte sie bis etwa um Vier und war ganz zufrieden damit, weil ich zu dem Zeitpunkt noch in Trier wohnte. Aber es sollte nur ein Zwischenspiel sein, da es Peter und Rama darauf ankam, meine Ortskenntnis auszuweiten. Schön und gut – Big tauchte auf, fuhr einen Tag mit und sagte, dass er mit dem Arbeitsaufwand fertig werde. Gleich am Folgetag wies man ihn an, die Tour allein zu fahren und ich wurde auf eine andere Tour gesetzt. Big war fix – nach ein paar Tagen schaffte er die Tour bis um zwei Uhr und war zwischen Drei und halb Vier zuhause in Bendorf.

Als kurze Zeit danach mein Umzug nach Koblenz anstand, machte er nicht viele Worte, sondern half mir bereitwillig, indem er nicht nur beim Kistenschleppen half, sondern er lieh mir auch Werkzeug und begleitete mich beim Einkaufen. Ich hatte nämlich keine Ahnung, was ich zum Beispiel zur Installation einer Küchenspüle alles brauchte.
Leider fand der Einkaufsbummel durch verschiedene Koblenzer Baumärkte nach einer durchzechten Freitag Nacht statt und mein Helfer war noch nicht ganz da – was zur Folge hatte, dass er mir die falschen Zubehörteile empfahl. Die Abflussrohre waren für einen Spülmaschinenanschluss und die Flexleitungen waren für Unterdruckwasserspeicher (den Boiler unter der Spüle) ungeeignet, ich musste das darauffolgende Wochenende also opfern, um die Teile umzutauschen.

Im Folgemonat musste er selbst umziehen und ich meldete mich natürlich freiwillig. Etwa am Jahresanfang war sein Vater gestorben und er wollte seine Mutter besser unterstützen können, außerdem wollte er Geld sparen, indem er wieder im Hotel Mama wohnte. Das Geld brauchte er für sein Projekt “Fernstudium”.
Sein eigener Umzug offenbarte allerdings auch seine chaotische Natur. Denn aus dem kurzen Gespräch, das wir im Vorfeld führten, hatte ich schlussfolgert, dass wir Kartons von der aktuellen in die neue Wohnung fahren und vielleicht noch saubermachen würden. Weit gefehlt. In seinem Apartment war so gut wie nichts vorbereitet, zwei oder drei Kartons waren mit irgendwelchem Zeug vollgestopft, hier Sachen aus dem Bad, da Sachen aus der Küche, dort dies und das aus dem Wohnzimmer, und die Kisten waren echt “gestopft”, also einfach so gefüllt, ohne darauf zu achten, dass die Dinger auch stapelbar sein sollten. Mangels kurzfristiger Alternativen trat ich ihm die Hälfte meiner im Keller gelagerten Umzugskartons ab. Er versprach zwar, sie bald zurückzugeben, aber von dem Gedanken verabschiedete ich mich ziemlich schnell. Der Rest seiner Wohnungseinrichtung befand sich noch an Ort und Stelle und die Küche war ein unhygienisches Pandämonium junggeselliger Ignoranz.

Wir ackerten den ganzen Nachmittag bis in den Abend, und der einzige weitere Helfer war ein etwa zwölfjähriger Junge aus der Nachbarschaft. Wir packten den Sprinter voll und fuhren die paar Kilometer zum Haus seiner Mutter, wo wir die Kisten je nach Bedarf in sein Zimmer und größtenteils in den Keller stellten.
Ich war beim Anblick des Wohnhauses doch erschreckt, denn ich hatte irgendwie eine Bleibe erwartet, wie man sie sich zum Beispiel als Facharbeiter oder angestellter Handwerker leisten kann, ich weiß nicht mehr, wie ich darauf kam. Stattdessen fand ich einen ziemlich heruntergekommenen Altbau vor. Das Haus ist nach meiner Schätzung mindestens 150 Jahre alt und braucht dringend eine Renovierung. Wärmedämmung ist nicht existent, der Dachstuhl macht einen bedenklichen Eindruck und in dem Zimmer, in das Big einzog, bedeckte Schimmel die Außenwand. Allein schon das enge Zimmer, das wohl als Kombination von Küche, Ess- und Wohnzimmer dient, machte eine deutliche Aussage: Hier wohnen arme Leute.
Wir saßen an dem Abend noch kurz zusammen und unterhielten uns über dies und das, auch darüber, wie schlecht geplant sein Umzug war, und er sagte zu mir:
“Ich versteh das nicht: Ich kenn soviele Leute, und von denen ist keiner hier. Dich kenn ich erst seit ein paar Wochen und Du hilfst mir beim Umzug.”
“Du hast mir ja auch sofort geholfen,” antwortete ich, “und ich bin so einer, der das einfach so macht… ich kann ja auch nicht erwarten, dass man mir mal hilft, wenn ich es nicht vormache.”
Wir schlussfolgern: Party- und Facebookkontakte sind nicht das Wahre, wenn es um die mühsameren Aspekte des Lebens geht.

Am Tag darauf half sogar meine Liebste noch beim Räumen und Wischen, aber letztendlich musste Big beim Vermieter um eine Verlängerung des Übergabetermins bitten.

Das Glück der schnellen Trierer Tour hielt nicht lange. Im Laufe des Jahres kam es zu einer strategischen Umstellung der Touren und Peter gab ein paar seiner Touren an JP Transporte zurück. Ich weiß bis heute nicht, was ihn geritten hat, aber ein Teil der Umstellung bestand darin, dass er Big an die abgetretene Morbacher Tour abgab und dafür einen alterfahrenen Fahrer vom Tourenfürsten erhielt – einen Typen über Fünfzig mit großer Klappe und wenig Substanz, der immerhin ab und zu mal ganz witzig sein konnte. Ich nenne ihn Babylon Ben. Warum schweife ich so ab? Nun, Babylon Ben hatte bekanntermaßen Probleme mit dem Rücken und bereits Schrauben in der Wirbelsäule, und bekannt als “fauler Hund” war er auch. Wie also Peter einen jungen, motivierten Fahrer gegen einen alten, weitgehend verbrauchten eintauschen konnte, entzieht sich mir völlig.
Big war wohl auf Morbach gesetzt worden, weil er einen guten Ruf als schneller Fahrer hat und die Morbacher Tour ist (oder war zu jener Zeit) riesig. Bigs Arbeitszeit verlängerte sich auf einen Schlag um drei Stunden (pro Tag, versteht sich), und daran änderte sich auch nichts, aller seiner Erfahrung und Fixheit zum Trotz. Nicht nur, dass die Arbeitszeiten ungesetzlich und unmenschlich waren – die Einsicht, dass die Dauer der täglichen Tour entgegen der Meinung des Managements nicht am Fahrer, sondern an den Beschaffenheiten der Tour und den wachsenden Frachtzahlen lag, dass also dringend geboten war, dauerhaft eine Entlastungstour einzusetzen, setzte sich erst nach Monaten und damit viel zu spät durch.

Big wollte sein Fernstudium durchziehen und stellte fest, dass er keine Zeit mehr dafür hatte. Um Vier nach Hause zu kommen ging ja noch, aber um Sieben? Wie sollte er da noch irgendwas lernen? Er versuchte es dennoch und ging später schlafen, er schlief oft nur vier Stunden pro Nacht und kam immer häufiger zu spät, von einer Erosion seiner sonst unverwüstlich guten Laune ganz zu schweigen.
Er fasste den festen Vorsatz, zu kündigen, wollte aber erst eine andere Stelle haben. Eine Leiharbeitsfirma machte ihm da Hoffnungen, er zählte schon die verbliebenen Tage herunter, und er versprach sogar mir, mich aus dem Laden herauszuholen. Allerdings erfüllte sich diese Hoffnung nicht, die Leiharbeitsfirma meldete sich nicht bis zum vereinbarten Zeitpunkt, also hatte man wohl einen geeigneteren Bewerber gefunden. Das Trauerspiel zog sich in Folge also noch über Wochen hin und Big führte heimlich Verhandlungen mit der Firma der Koblenzer Fahrer – das klappte dann irgendwann Ende Winter und Big wechselte auf die andere Seite des Paketbands, wo seine Tour bedeutend näher an seinem Wohnort lag und beherrschbarer war als Morbach.
“Herzlichen Glückwunsch,” sagte ich zu Peter, “Big ist ein guter Fahrer und Ihr habt ihn verheizt.”
“Was hätt’ ich denn machen sollen???” fragte er zurück.
Die Antwort war symptomatisch dafür, wie es in der Firma lief.

Milli ist ja bereits bekannt aus den Geschichten vom Anfang, aus Trier. Sie war mit nach Koblenz gegangen, aber ich weiß nicht, ob sie ernsthaft langfristig bleiben wollte oder ob sie nur vermeiden wollte, die Zeit bis zu einem geeigneteren Job arbeitslos verbringen zu müssen.
Die alten Trierer Fahrer wandten sich zuerst an sie, wenn sie Fragen oder andere Anliegen hatten, nicht allein, weil wir sie kannten, sondern auch, weil die Umgangsformen in der Koblenzer Ablaufkontrolle (AK) andere waren als in Trier. Es könnte durchaus sein, dass es nicht zuletzt diese Umgangsformen waren, die Milli binnen weniger Wochen davon überzeugten, dass sie hier nicht bleiben wollte (sofern sie, was ja ebenfalls sein könnte, nicht sowieso nur einen begrenzten Zeitraum zu bleiben gedachte). Nach drei Monaten verabschiedete sie sich und ward nie mehr gesehen.

Wie ist das denn nun mit den Koblenzer Umgangsformen? Mancher Leser wird sich daran erinnern, dass die AK in Trier sehr jung war: Von Lilly, Milli, Laubschi, Octavia und Antonius war niemand älter als 23. Der gegenseitige Umgang war kameradschaftlich bis freundschaftlich, man nannte sich ganz selbstverständlich beim Vornamen, und ich zumindest hatte immer das Gefühl, mich unter Gleichen zu bewegen. In Koblenz war das so radikal anders, dass die Umstellung von einem Tag auf den anderen wie ein Schock wirkte.
Abgesehen von Milli bestand die Koblenzer AK aus drei weiteren Damen: Frau Nachtwächter, Frau Bock und Frau Kanter. Letztere war wohl etwa Mitte 20, die anderen beiden dürften zu dem Zeitpunkt knapp unter, bzw. Mitte 50 gewesen sein, und es waren die beiden älteren Damen, die einen spüren ließen, dass nicht der Geist, sondern allein das System zählte (um es mal mit Remarque zu halten): Die Beantwortung einfachster Ja/Nein Fragen (z.B. “Ist das Paket, das ich noch suchen muss, Neuware oder Altware?”) wurde einem in herrischem Tonfall verweigert, wenn die beiden gerade mit egal was beschäftigt waren.

Ich machte es mir schon bald zur Gewohnheit, die älteren zu ignorieren und wandte mich wann immer es möglich war, an Frau Kanter, die weniger launisch und einer höflichen Anfrage gegenüber bedeutend offener war. Die geradezu unbeherrscht zu nennende Tonart von Frau Bock war fast sprichwörtlich (sofern sie nicht ausnahmsweise einen guten Tag hatte) und machte auch vor telefonischen Kundenanfragen nicht Halt. Ich war selbst dabei, als sie einen Anrufer unwirsch aufforderte: “Jetzt schalten Sie mal die Sprechanlage ab und nehmen bitte den Hörer in die Hand! Ich verstehe Sie nicht, hier ist Betrieb!”
Ja, die Umstände sprachen für sie, denn zur Zeit der Fahrerabfertigung ist es da vorn nicht gerade leise und eine Sprechanlage fordert dem Nutzer wegen der Entfernung zum Mikrofon durchaus mehr Lautstärke ab – aber man kann sich doch wohl auch höflich ausdrücken!? Felix stand neben mir und hörte der Konversation fassungslos mit offenem Mund zu, und ich selbst konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, eingedenk der Tatsache, dass wir Fahrer sowohl in unseren schriftlichen Anweisungen als auch mittels eines kleinen Bildschirms vor der AK ständig darauf hingewiesen werden, dass wir dem Kunden “höflich, zuvorkommend und kompetent” gegenüberzutreten haben. Für die Büroarbeiter gilt das scheinbar nicht.

In Koblenz hatte ich nie auch nur den Anflug des Gefühls, ich bewege mich unter Gleichen. Die AK waren die da oben, und die Fahrer, das waren wir da unten. Daran wurde nie ein Zweifel gelassen. Ich kam daher nie auf die Idee, dort irgendjemanden mit Vornamen anzusprechen oder im Gegenzug etwas solches für meine Person zuzulassen. Ich sprach mit Frau Kanter darüber, weil sie mich mal beim Vornamen und mal beim Nachnamen ansprach, und bot an, sie könne mich ruhig beim Vornamen nennen, aber sie wechselte weiter unschlüssig hin und her, also schienen mir weitere Klärungsversuche Zeitverschwendung zu sein.
Genausowenig wäre ich je auf die Idee gekommen, anders als in Trier, mal Snacks mitzubringen. In Trier hatte ich zweimal o-Nigiri mitgebracht (Reisbällchen mit Thunfisch-Mayo-Füllung), einmal zu meinem Geburtstag und einmal zu meinem einjährigen Jubiläum. Hätte mich in Koblenz jemand darauf angesprochen, hätte ich ihm einen Vogel gezeigt.
Jetzt könnte man einwerfen, dass man ja unter den Fahrern, wo mehr Kameradschaft herrschte, solche Sitten hätte fortführen können, aber man kann meinen bisherigen Beschreibungen ja entnehmen, dass die Arbeitsbelastung das gar nicht mehr zuließ, es gab ja nur noch Arbeiten und Schlafen. Damit hängt zusammen, dass ich nicht zu allen Kollegen Zugang fand. In Trier kamen die meisten eine halbe Stunde vor Bandstart zur Arbeit. Man hatte also Zeit für einen kurzen Plausch, konnte sich gegenseitig abklopfen und ein bisschen kennen (und schätzen) lernen. In Koblenz war Bandstart ja bereits um 0500, also 30 min früher als in Trier, und da kam niemand (außer mir und zwei oder drei anderen, die in der Umgebung wohnten) freiwillig noch eine halbe Stunde früher. Die meisten Fahrer trafen um etwa Fünf ein, dann begann das Laden – wann hätte man sich da kennen lernen sollen? Die einzige freie Zeit, die blieb, waren die paar Minuten, die man wartend vor dem VL verbrachte, bis man seine abgeholten Pakete reinbringen konnte, das war’s. Bis ich in Koblenz Leute so gut kannte, dass ich wusste, ob ich mich mit ihnen verstand, verging ein knappes Jahr. Ich hätte beim Verteilen von Snacks also sehr selektiv sein müssen, und das wollte ich nicht. Entweder für alle oder für keinen. Die allmähliche Zerschlagung meiner Motivation, durch die Vielzahl der bis dato genannten Umstände, sorgte dafür, dass ich mich für letzteres entschied.

27. Juni 2014

Die Fracht am Rhein (Teil 3)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 22:00

Fahren wir doch fort mit meiner Beschreibung des Personals in Koblenz.

Der Rasterfahnder: Schlaksiger Büromensch, etwas größer als ich, schmal, tätowiert, Raucher, kantiger Humor mit Hang zum Slapstick, singt gern und falsch, und wohnt auch erst seit Ende 2012 in Koblenz. Ich nenne ihn Rasterfahnder, weil er einer der Leute ist, die autorisiert sind, unauffindbare Pakete fehlzumelden, sie also aus meinem Dispoauftrag verschwinden zu lassen, damit ich endlich auf die Straße komme. Natürlich hat auch der mal schlechte Tage, wo ihm alle den Buckel runter rutschen können (zum Beispiel wenn andauernd einer kommt, weil er seinen Scannerakku – selbst verschuldet hin oder her – nicht aufgeladen bekommen hat und von ihm eine Wechselbatterie braucht), ich vergesse aber nicht, wie er kurz nach meiner Ankunft sagte: “Wenn Du mal Hilfe brauchst, komm einfach zu mir, okay?”

Er hat mir schon einige Male Zeit gespart und ich gebe mir Mühe, ihn keine zu kosten. Die Möglichkeiten, Pakete zu finden, sind ja da – sie kosten halt nur mehr Mühe, als technisch notwendig. Wir haben Dutzende Überwachungskameras in der Halle, die in der Lage sind, die Position jedes gedruckten Barcodes zu erfassen, aber jemand von der Verwaltung muss sich halt an den Bildschirm setzen und eine entsprechende Suche eingeben. In den Genuss kam ich bislang zweimal – eine Mitarbeiterin suchte den Barcode und auf dem Bildschirm erschien ein aktuelles Bild der gesuchten “Palette”, anhand der ebenfalls dargestellten Umgebung wusste ich schnell, wo sie sich befand. De facto aber muss tatsächlich einer mit raus und mit den eigenen Augen suchen. Ich verstehe nicht, warum.

Ebenso verstehe ich nicht, warum man um 0800 nicht einfach sagt: “Schluss mit Suchen, nicht gefundene Colli werden fehlgemeldet!” Bei GLS macht man das scheinbar so. Die Fracht wäre bis um 0830 unterwegs. Bis zum heutigen Tag sind ALLE so fehlgemeldeten Pakete am Folgetag wie durch ein Wunder aufgetaucht. Man gewinnt den Eindruck, dass das Suchen verpasster Pakete (wohl im Hinblick auf den Schutz vor Warendiebstahl) bei Transoflex wichtiger ist, als die pünktliche Zustellung von Expresspaketen, deren Limit bei der Zustellungszeit doch in den meisten Fällen einen Sinn hat.

Der Alte Kroate: Älterer Typ, oft brummig, wenn ihm der Stress zu viel wird, kam bereits vor dem Bürgerkrieg, der Jugoslawien Anfang der Neunziger in Einzelteile zerriss, mit seiner Familie nach Deutschland; wird von JP-Transporte zwischen TNT und Transoflex hin und eher geschoben. TNT sei klasse, erzählt er. Man fahre erst einmal nur Expresse, dem entsprechend sei man um 12 oder kurz danach fertig, und danach müsse man noch bis 1630 auf Mitteilung warten, ob irgendwo etwas abzuholen sei. Aber er kenne seine Kunden im Industriegebiet und er frage gegebenenfalls beim Lager kurz nach, ob etwas da sei und in den meisten Fällen bliebe die Antwort bis Dienstschluss auch gültig. Dass sich kurzfristig eine Abholung ergebe, komme natürlich vor.
“Dann sitz ich da und geh Kaffee trinken. Gestern hab ich gegessen zweimal Döner… und noch Kuche. Wenn ich TNT fahre, nehme ich zu, wenn ich Transoflex fahren muss, nehme ich sechs Kilo in einer Woche ab.”

Seine Schilderungen von TNT klangen natürlich interessant, gerade, wenn man wie ich das Gefühl hat, unter den 60 bis 70 (und manchmal mehr) Arbeitsstunden pro Woche über Kurz oder Lang zusammenzubrechen. Ich recherchierte zuhause also das “TNT Depot Koblenz” und schrieb mir die Telefonnummer ab. Wenn TNT so organisiert ist, wie Transoflex, hätte das Depot keinen eigenen Fahrdienst, aber man könnte doch sicherlich die Nummer der Fuhrunternehmer erfragen?
Es dauerte dann ein paar Tage, bis ich eine Gelegenheit fand – ich bin im Kopf immer schon ein bis zwei Stops weiter, da vergisst man solche Dinge schnell. Ich rief die notierte Nummer an und fragte nach den Nummern der Fuhrunternehmer. Daraufhin erklärte mir die jung klingende Dame am anderen Ende der Leitung, dass ich zwar mit einem Versandwarenlager verbunden sei, aber nicht mit TNT. Ah, peinlich. Sie erklärte sich aber überraschenderweise bereit, mir die korrekte Nummer zu besorgen und gab sie mir durch. Ich bedankte mich und wandte mich umgehend an die neu erhaltene Rufnummer.

Diesmal hatte ich die richtige Gegenstelle erreicht. Auch dort saß eine jung klingende Stimme im Büro, die mir sagte, sie habe die notwendigen Informationen nicht vorliegen und von den Disponenten der Fuhrunternehmer sei auch keiner mehr im Haus, aber – Fortuna lächelte mir zu – sie könne ja schnell jemanden fragen. Zwei Minuten später war sie zurück und gab mir vier Nummern: JP-Transporte und der Tourenfürst waren ebenfalls dabei, aber das musste mich ja nicht stören. Die anderen beiden waren von Bedeutung.
Allerdings hatte ich das Gefühl, bereits genug Zeit verloren zu haben und setzte die Tour fort. Die Telefonnummern lagen dann über die kommenden Wochen in meiner Apfelkiste auf dem Beifahrersitz herum. Die würden ja nicht schlecht werden. Allein die Anwesenheit eines Fallschirms steigert bereits die Moral.

Der Tourenfürst: Sechstagebart, charismatische Stimme, strenger Blick, aber mit Hang zu einer rauen Kameradschaftlichkeit, nach seiner Heirat im Prozess eines schleichenden Gewichtszuwachses; der einzige Mensch, den ich kenne, der direkt aus dem Bett zur Arbeit erscheinen und mit völlig desorganisiertem Haar dennoch irgendwie cool wirken kann. Er hat was von einem Steppenreiter; obwohl er natürlich keiner ist, er stammt irgendwo aus dem orientalisch-christlich-orthodoxen Raum und ist Subunternehmer im Umfeld der JP-Transporte und zuständig für die Touren im linksrheinischen Gebiet bei Transoflex und hat Zuständigkeiten bei TNT-Touren. Meine Idee für seinen Decknamen entstammt der Namensgleichheit mit jemandem, den nicht nur die Boulevardpresse mal den “Terrorfürsten” nannte.
Der Tourenfürst ist der direkte Vorgesetzte des Alten Kroaten und somit dessen Beschwerden über den Stress bei Transoflex ausgesetzt. So klagte der Kroate eines, dass ihm dies und das wehtue und es deshalb nicht so gut gehe, und das nicht nur einmal, sondern den halben Morgen lang. Bis er dem Tourenfürst so auf den Keks ging, dass der ihm über den Mund fuhr und rief: “Wenn Dir was wehtut, dann geh gefälligst zum Arzt! Das ist nicht mein Problem, ich will morgen nichts mehr hören von ah, mein Fuß, mein Arsch, mein Schwanz…!”
Wie gesagt: Etwas rau, aber er kümmert sich auch um seine Leute und ich habe den nicht unbegründeten Eindruck, dass sein Laden besser organisiert ist, als der von Peter und Rama.

Der Rocker: Der Herr des Verschlusslagers (VL), übergewichtig, tätowiert, langhaarig, Schlagzeuger im Bereich Deathmetal, achtet penibel auf die Einhaltung der Regeln und Vorschriften, reagiert tendentiell unwirsch auf gegenläufige Tendenzen von Seiten der Fahrer.
Trier war der VL-Himmel – ich kam um 0445 an, ging mit meiner Abholware zu Antonius, der bestätigte den Empfang und gut war’s. In Koblenz dagegen gibt es zu viele Touren, um den Überblick zu wahren; um kurz vor Fünf stünden mehrere Stapel Pakete vorm Lager und die Fahrer würden sich bei Bandstart zu ihrem Platz verkrümeln. Ich sehe ein: Das ginge nicht. Deshalb geben die Koblenzer Leute ihre Abholer und Termine zwischen 0530 und 0630 ab und die “Moselaner” zwischen 0630 und 0730.
Wenn man eine Stadttour mit vielen Paketen hat, kann es aber sein, dass diese so schön verteilt übers Band kommen, dass der Fahrer nicht so einfach wegkommt. In dem Fall muss er sich konsequent mit seinen Nachbarn absprechen, wer wann zum VL geht, es kann nicht sein, dass zwei oder gar drei Fahrer, die nebeneinander abräumen, gleichzeitig weg sind. Das bringt wieder die Schwierigkeit der gegenseitigen Tourkenntnis: Die Fahrer müssen wissen, was der linke und der rechte Nachbar jeweils für Pakete braucht. Wegen der hohen Fluktuation der Mitarbeiter einerseits und wegen einer weit verbreiteten Ignoranz einiger Leute andererseits funktioniert das aber oft nicht optimal, und das heißt: Es laufen Pakete durch, sie landen am Bandende und müssen dort umständlich gesucht werden.

Ich zum Beispiel habe mit diesem Szenario ein Problem, gerade dann, wenn ich neben einem stehe, dessen Kenntnissen oder dessen Motivationsgrad ich nicht trauen kann, und zögere meinen Gang zum VL bis zum Äußersten hinaus, in der Hoffnung, dass der Ansturm vom Band vielleicht nachlässt. Da kommt es dann in jedem Quartal mal vor, dass ich die Annahme bis 0730 verpasse. Nachdem ich einmal heftig angeschnauzt worden war, fand ich mich mit der Aufforderung ab, gefälligst erst um 0800 wieder zu kommen und blieb in der sensiblen halben Stunde dem Lager fern. Der Rocker ist natürlich auch davon nicht erbaut, aber er gibt sich weniger ungehalten.

Außerdem glaube ich ein wichtiges Verhaltensmerkmal festgestellt zu haben: Ich glaube, er hat einen gewissen Spaß daran, wenn Leute, die zu spät dran sind (oder grobe Fehler gemacht haben, wegen denen das VL die betroffenen Pakete nicht annehmen darf) diskutieren und schimpfen, weil er gemäß Vorschrift eindeutig im Recht ist. Viele nennen ihn deswegen “Regelnazi”. Ich zucke in der Regel mit den Schultern und sage: “Okay, dann machen wir das so.” Der fehlende Gegendruck zügelt auch bei dem Rocker die Energien und die Situation bleibt ruhig. Ich komme gut mit ihm aus – und siehe da: Wenn man sich Mühe gibt, sich nur an die grundlegenden Regeln zu halten, erlangt man sein Vertrauen so weit, dass er auch mal Ausnahmen macht. Undenkbar in den Augen des Durchschnittsfahrers.
Es kam mal einer zu mir und erzählte mir mit ungläubigem Gesichtsausdruck: “Eben kam einer zum Rocker ins Lager und er hat ihn tatsächlich begrüßt – und sogar dabei gelächelt!” Das hat mich amüsiert.

Es kommt also vor, dass man bei der Abfertigung erfährt, dass man diese oder jene Pakete doch noch im Lager abgeben muss auf Grund der Angabe KTL. Das steht für “Keine TeilLieferung”. Manche Versender wollen das nicht, zum Beispiel Gardena. Die Pakete befinden sich zum Zeitpunkt aber im Normalfall bereits im Auto und sind nur mühsam wieder hervorzuholen – was der Rocker vom so benannten Durchschnittsfahrer aber verlangen muss, wegen des bereits angesprochenen Diebstahlschutzes. Ich brachte ihm mal solche Pakete, was mich eine Menge Zeit gekostet hatte, und da sagte er zu mir: “Dir vertraue ich soweit, dass Du die Dinger nicht verschwinden lässt… merk Dir dann einfach, welche Du wieder mitbringen musst.” Oha.

Einen Verbindungsdraht habe ich allerdings zu ihm: Heavy Metal. Seine Kleidung und seine Tätowierungen geben darüber eindeutig Auskunft, und so können wir zu dem Thema hin und wieder ein paar Worte wechseln, so zwischen einem Paket und dem nächsten. Ich gebe zu, dass ich ihn bewusst über diese Gemeinsamkeit in Kenntnis gesetzt habe, indem ich mich darüber beschwerte, dass Napalm Death (im Frühsommer 2013) zwar im Exhaus in Trier gespielt hat, aber an einem Dienstag Abend – unmöglich für mich, mitten in der Woche ein Konzert zu besuchen. Außerdem hatte ich erst am betreffenden Dienstag das Werbeplakat gesehen. So erfuhr ich, dass er sich von seiner Band trennte und dass er eine Weile später eine neue gefunden hatte.
“Wir spielen demnächst vielleicht auch im Exhaus.”
“Aha! Neue Band gefunden?”
“Ja… kennste Dich im Death Metal ein bisschen aus?”
“Mehr oder minder… ich hab nur nicht viel Zeit, mich damit zu beschäftigen.”
“Kennste Asphyx?”
Ich kramte eine Sekunde in meinem Gedächtnis:
“Ja… hab ich mal was von gehört… vor über 20 Jahren.”
“Wurde 1987 gegründet.”
“So lang schon? Das kannste ja auf RTL Radio laufen lassen.”
Da hat er tatsächlich mal gelacht. 🙂
Unser VL-Mann ist Schlagzeuger bei Asphyx… was es nicht alles gibt. Ich musste unweigerlich an den Song “The Book of Heavy Metal” von Dream Evil denken: Der Sänger erzählt, dass er seine Seele dem Teufel vermacht hat, weil ihn nur ein Wunsch beseelt – seinen Namen ins Buch des Heavy Metal geschrieben zu sehen. Der Rocker hat dies eindeutig erreicht, und vermutlich, ohne seine Seele dem Teufel zu verkaufen. Böse Stimmen behaupten, der Rocker sei der Teufel. *lol*

Musti hat sich diesen Namen selbst zugelegt. Er gefalle ihm, sagte er. Bei Musti handelte es sich um einen Reifenfachmann, und zwar nicht einfach um einen, der sich mit deren Montage auskannte, sondern um einen Fachmann für Galvanisierung, für Gummigemische, also für die Herstellung von Reifen. Ich habe nur einmal mit ihm ein längeres Gespräch geführt, bevor er uns wieder verließ, aber der Dialog blieb mir in seinem Kerngehalt im Gedächtnis haften.
Bevor er zu Transoflex kam, lag ihm ein Jobangebot von Michelin vor, als Vorarbeiter in der Reifenproduktion zu arbeiten, mit Chance auf weiteren Aufstieg und einem Einstiegsgehalt von mehr als 2500 Euro im Monat – allerdings in Südfrankreich. Er erzählte, dass er sich das notwendige Französisch zutraue und das Unternehmen auch qualifizierende Sprachkurse zugesagt hatte, aber seine Freundin habe das Vorhaben ausgebremst. Die wollte nicht nach Frankreich ziehen, weil sie die Sprache nicht beherrschte, brachte das Argument vor, dass sie in dem Fall, dass er sie verließe, nicht wisse, wie sie nach Hause komme, und machte die Angelegenheit zu einer Entscheidung zwischen der Arbeit und Ihr.
Musti schlug den Job aus, blieb bei ihr – und wurde Fahrer bei Transoflex für das halbe Gehalt.

Ich erlebte in jenem Moment einen Anflug von Sympathie für den (ehemaligen) Daleidener Apotheker, der mir geraten hatte, meine Freundin zu verlassen, weil sie mir nach seiner Ansicht ein Klotz am Bein sei. Aber nur einen Anflug, denn ich hatte dem Apotheker keine Informationen geliefert, aus denen sich ableiten ließe, dass meine Lebensgefährtin meinen Aufstieg irgendwie bremse (ich hab mein bisheriges Leben selbst an die Wand gefahren und muss keinem dafür die Schuld zuweisen), aber in Mustis Fall stellte sich die Sache meines Erachtens sehr konkret dar: Die Frau besaß keine kulturelle Flexibilität, keinen Wagemut, ja, schlimmer: Sie ließ sich in ihrem Leben scheinbar von ihren Ängsten leiten. Eine solche Einstellung tötet jede Hoffnung, erstickt jeden Aufbruchs- und Ausbruchsgedanken im Keim und vermutlich wird sie die Hierarchieebene einer Kassiererin im örtlichen Supermarkt nie überschreiten. Objektiv betrachtet ist eine solche Person ein Klotz am Bein – aber subjektiv betrachtet: Was soll er machen, wenn er sie liebt? Liebe lässt wenig Platz für Vernunft. Gefühltes Glück ist im Leben wichtiger als materieller Erfolg und ich hoffe, dass Mustis neuer Job mehr Platz für Glück lässt, als sein alter.

15. Februar 2014

Die Fracht am Rhein (Teil 2)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 22:38

Nun sitz ich hier und weiß nicht weiter. Zumindest nicht so, wie gedacht. Der Notizzettel, auf dem ich meine Stichwörter für das erste Halbjahr 2013 festgehalten habe, ist verschwunden, und ich habe so langsam keine Idee mehr, wo der sein könnte. Ich bin mir sicher, ihn aus dem Auto entfernt zu haben, um ihn griffbereit auf dem Schreibtisch zu lagern. Wäre natürlich tragisch, wenn er durch einen dummen Zufall im Papierkorb unter dem Tisch gelandet wäre. Vielleicht wurde er unachtsam irgendwo in irgendeinem Buch als Lesezeichen zweckentfremdet? Jetzt zumindest scheint die Sache darauf hinaus zu laufen, dass ich mich auf mein Gedächtnis verlassen muss und entgegen meinem Plan keine konkreten Daten nennen kann.

Lost in Luxemburg
Ich glaube, es war irgendwann im Februar, als eine Sendung mit zwei Fahrrädern im Depot auftauchte, die für eine Firma in Echternach bestimmt war – und das ist in Luxemburg. Ich fuhr Südwesteifel, also fiel mir das zu, obwohl ich auf der anderen Seite der Sauer nichts zu suchen hatte. Ich erhielt Zustelldokumente auf Papier und Peter instruierte mich über den Standort des Empfängers: Über die Brücke nach Echternach, an der Ampelkreuzung geradeaus, an der Tankstelle vorbei, dann hinter dem Ort am Restaurant “Aux Vieux Moulin” (irgendwie so heißt das jedenfalls) rechts abbiegen, dort werde man den Betrieb ein Stück weiter finden.
Ja, nun, die Beschreibung machte an sich Sinn, die genannten Wegmarken tauchten in der vorgesehenen Reihenfolge auf, führte aber nicht zu dem gewünschten Ziel. Ich fuhr nach Scheidgen und dann noch nach Consdorf, fand aber keinerlei Unternehmen mit dem angegebenen Namen. Ein Passant, den ich fragte, sagte mir schließlich, dass er den Namen der Firma kenne, dass diese sich jedoch irgendwo in Echternach selbst befinde, er wisse aber nicht genau, wo.
Genervt fuhr ich den Weg zurück, kurvte sogar am Restaurant herum, in der Hoffnung, dass sich in jener Straße vielleicht das gesuchte Ziel versteckt hatte, vergeblich, und fragte in Echternach, ob es denn ein Industriegebiet hier gebe. Ja, hieß es, es befinde sich am Kreisel am Ortseingang.
Ich dachte kurz nach. Wenn ich nicht durch Echternacherbrück, sondern aus Richtung Irrel vor dem Dorf am Supermarkt vorbei über die Hauptstraße rüberfahre – dort befindet sich eine weitere Brücke nach Echternach – gelange ich tatsächlich an einen Kreisel.
Ich fuhr hin und fand tatsächlich ein Industriegebiet – UND die gesuchte Firma.

Nur war es da mit Abgeben und Weiterfahren nicht getan. Die Fahrräder mussten an einen bestimmten Ort in der Industrieanlage, in der scheinbar Metall verarbeitet wird, es war industriell laut und in der Luft lag dieser typische Geruch von heißem Eisen, durch Stahlgänge, einen großen Lastenaufzug hoch und zuletzt in einen Lagerraum. Furchtbares Brimborium. Hat mich auch nur eine Stunde meiner Zeit gekostet.

Das personelle Umfeld
Neue Mitarbeiter und Bekanntschaften? Ja, die gab’s auch. Zum einen die, die da bereits arbeiteten, zum anderen solche, die zufällig im Januar neu angefangen hatten. In der Retrospektive muss ich festhalten, dass es weitgehend überflüssig ist, auf die im Einzelnen einzugehen, da die allermeisten nach einigen Wochen und Monaten wegliefen. Generell scheint mir die Mitarbeiterfluktuation in Koblenz höher – die Arbeitsbedingungen sind auch härter; man muss im Hinterkopf haben, dass man von dort eine Stunde und länger zum ersten Kunden fährt und danach noch mal mindestens die gleiche Zeit nach Hause (sofern man bei Koblenz wohnt). Freizeitvernichtung pur.

Kaiserchen kam Anfang Januar und blieb. So wurde er von seinem Spieß genannt; ein Feldwebel a.D. und ein Küchenbulle noch dazu, aber ein recht schmaler, Anfang 50. Völlig unmilitärischer Typ. Genügsamer und verlässlicher Mann, mit dem ich gern zusammenarbeite.
Ich versuche immer wieder, ihn dazu zu überreden, bei mir vorbeizukommen und was zu kochen, aber er sagt, er gehe am Wochenende grundsätzlich angeln.

Marlon, dunkelhaarriger Südosteuropäer von knapp 1,70 m. War zuständig für die Dauner Tour. Als neu eingeteilter Springer sollte ich einen Tag mit ihm fahren, da er demnächst Urlaub haben sollte, und meine Aufgabe würde es sein, ihn um Daun zu vertreten. Über die Tour gibt es eigentlich nichts zu sagen; aber sie liegt deutlich näher an Koblenz als zum Beispiel Trier oder gar die Südwesteifel und ihr Umfang ist überschaubar. Wir sind sogar durch ein paar Dörfer gefahren, die ich von meiner alten Gerolsteiner Tour her kannte. Das war irgendwie angenehm, aber ansonsten gab es keine Besonderheiten, die mir besonders im Gedächtnis haften geblieben wären.
Marlon hörte eine Art Rap-Musik in einer Sprache, die ich nicht zuordnen konnte. Als er dann irgendwann zum Telefon griff und in der gleichen Sprache kommunizierte, fragte ich ihn, woher er denn eigentlich stamme, und er antwortete, er sei Albaner aus dem Kosovo.
Bei dem Stichwort “Albaner” fallen mir immer zwei Dinge ein: Zum einen der kleine albanische Austauschschüler in der “Simpsons” TV-Serie, der nach Springfield gekommen war, um das Atomkraftwerk auszuspionieren, und zum anderen der baden-württembergische No-Budget-Film “Deiner Mudda sei G’sicht”, den man in der Calwer Videothek auf Wochen vorbestellen musste, wenn man ihn ausleihen wollte:
“Ey Albaner! Wer bist Du eigentlich??”
“Was redest Du, Mann? Isch häng schon seit sechs Woche mit Eusch rum!”

Marlon redet natürlich keineswegs so, er ist bereits seit frühester Jugend in Deutschland und redet akzentfrei.
Ich war dennoch erstaunt, dass er sagte, er sei Albaner und gab zurück, ich hätte eher geraten, dass er Bosnier sei. Die wenigen Albaner, die ich in meinem Leben getroffen hatte, sahen irgendwie anders aus.
“Ja,” meinte er und grinste, “wir oben im Kosovo sind nicht so schwarz wie die da unten.”
Auch Marlon war ein angenehmer Zeitgenosse, der zumindest den Eindruck vermittelte, dass er sich bei der Arbeit Mühe gab, aber er verließ uns im Sommer 2013.

Im Februar kam Sub75 dazu. Netter Kerl, der mich immer “Domme” nannte, half einem bei allem, ohne ein Wort darüber zu verlieren, aber er war nicht sehr helle. Seine erste Aufgabe bestand darin, Pakete vom Bandende per Palette nach vorn zu rollen und wieder aufs Band zu packen, um den Fahrern die Zeit zu sparen, die für das Suchen von Paketen in dem bisher chaotischen Haufen draufging. Nebenher sollte er auch Touren fahren. Er fuhr ein paar Großkunden und wurde auch sonst als Notfallfahrer eingesetzt, um einzelne Touren je nach Tagesbedarf zu entlasten.
Er zeigte allerdings keinen Lerneffekt. Er bekam 20 Kunden, zum Beispiel in Schweich und Kenn, und fuhr damit bis abends nach Sieben in der Gegend herum, ohne dass diese Bilanz sich im Laufe seiner paar Monate beim Unternehmen bedeutend besserte. Er selbst schwieg dazu, keiner wusste eine Erklärung.

Peter war neugierig und gab ihn erst Felix mit. Der bekam eine Ahnung von dem, was lief: An mehreren Stellen der Moseltour (in deren Mitte Sub75 wohnte) zeigte er auf Häuser und sagte, er kenne den oder die, und ob Felix nicht Lust hätte, auf einen Kaffee mitzukommen. Nein, Felix will nach Hause, spätestens nach Bandstart, und so wurde es nichts mit den Kaffeepausen.

Schließlich fuhr er mit mir in die Gegend Simmern/Flughafen Hahn, wo ich vertretungsweise unterwegs war (die Südwesteifel wurde ja neuerdings von Doc bedient). Um Viertel nach Drei setzte ich ihn zuhause ab und er sagte, so früh sei er noch nie zuhause gewesen. Was war geschehen?
Ich habe den Verdacht, dass er effizienter arbeitet, wenn jemand dabei ist, von dem er der Meinung ist, er müsse sich bei dem zusammenreißen. Ich musste ihm nie sagen, was er zu tun hatte, er machte alles allein, machte den Laufschritt mit und trug unaufgefordert bereitwillig alle Pakete selbst. Auch dann, wenn ich selber welche tragen wollte. Es ging echt flott, und er machte mir auch keine Kaffeeangebote. Es muss wohl an mir gelegen haben.
Nur beim Pakete aussuchen passte er nicht genügend auf: So stellte er ein Tchibo-Paket im falschen Supermarkt zu, weil er nicht auf das Adressfeld geachtet, sondern den ersten Tchibo gegriffen hatte, der ihm ins Auge gefallen war. Ich bemerkte das Versehen allerdings gleich, wenn auch erst nach der Unterschrift, tauschte die Sendungen an der Warenannahme aus und überbrachte den ursprünglich vertauschten Karton eben einfach so zum richtigen Empfänger.

Er brachte mich an anderer Stelle aber auch zur Verzweiflung. Das Konzept, dass Pakete, die gleich aussehen und gleichzeitig übers Band rollen, nicht zwangsläufig für den selben Empfänger gedacht sind, kam nicht ganz bei ihm an. An einem Morgen teilte mir die Ablaufkontrolle mit, dass ich noch ein Paket suchen müsse. Das sei um soundsoviel Uhr übers Band gelaufen. Ich suchte und suchte und suchte. Ich besah mir schließlich den Absender: Es handelte sich um einen Elektronikgroßhandel, ich wusste, wie die Pakete aussehen. Als letzte Option ging ich zu Subs bereits gepackter Palette (er fuhr bei Bedarf auch LKW) für einen Elektronikzwischenhändler, schnitt sie wieder auf und nahm sie auseinander. Das gesuchte Paket war dabei – und ausgerechnet das hatte er vor dem Einpacken nicht gescannt!? In dem Fall hätte ich eine Meldung erhalten, dass die Tournummer XY mein Paket habe. Hätte mir eine Stunde Zeit gespart. Ich wäre beinah laut geworden.

Dieses Ereignis machte mich aber in der Tat wütend und der Tag lief entsprechend. Bei einem Tierarzt mit angeschlossenem Tierbedarfsgroßhandel in Trier fuhr ich zuerst zu schnell auf den Hof. Der Tierarzt kam aus seiner Praxis und hielt mir verärgert einen Vortrag darüber, dass mein Verhalten gefährlich sei und ob ich denn jemanden überfahren wolle. Meine ansonsten kühle Diplomatie versagte an dieser Stelle völlig, und dass ich ihm nicht sagte, er solle mir nicht auf den Sack gehen, war auch alles, was noch fehlte. Nach diesem unglücklichen Dialog verschwand er wieder, ich holte einen Rollwagen für seine acht Zentner Hundefutter, nur um dabei festzustellen, dass ich damit um einen ungünstig geparkten PKW nicht herumkam. Mir platzte der Kragen und ich fluchte laut. Sofort war der Doktor wieder draußen und sagte, er werde mir Hausverbot erteilen, wenn ich mich nicht benähme. Wenn ich mich recht erinnere, sagte ich etwas in der Art, das mir das egal sei und dass ich den Krempel dann eben wieder mitnähme. Damit hatte ich wohl einen falschen Knopf gedrückt und er verlangte meine Personaldaten, also Name, Arbeitgeber und dergleichen. Ich nannte sie ihm in einem Tonfall, in dem man sonst “Fick Dich doch ins Knie…” sagen würde und er wies seinen ebenfalls hinzugekommenen Lagermitarbeiter an, diese Daten aufzuschreiben.
Dazu kam es nicht, aber ich stand kurz vorm Explodieren. Ich glaube, mein Atem ging stoßweise und meine Hände zitterten. In dem Moment tat mein Gegenüber das einzig Vernünftige: Er deeskalierte. Er redete ruhig.
“Jetzt kommen Sie doch mal wieder runter… setzen Sie sich einen Augenblick hin und atmen Sie mal durch.” Dann ging er einfach in seine Praxis und sein Mitarbeiter stand zunächst noch unschlüssig auf dem Hof rum.

Ich setzte mich auf den Rollwagen, der Mitarbeiter ging zögerlich wieder ins Lager, und ich saß fünf Minuten in der milden Sonne, bis mein Puls wieder einen normalen Wert erreicht hatte. Dann konnte ich weiterarbeiten. Ich lud das Futter auf den Wagen, rollte ihn ins Lager. Der Angestellte sah noch etwas geschockt aus, sagte aber nichts. Mangels Grund kam etwas solches nie wieder vor und ich erfreue mich eines guten Arbeitsverhältnisses zu dem Kunden.

Verschlug es mich in Gegenden, in denen Sub75 die Tage zuvor zugestellt hatte, bekam ich Beschwerden über ihn zu hören. Ein Stihl-Händler in Trier berichtete mir, dass Sub75 mit der Kippe im Mundwinkel und zwei Paketen lässig am langen Arm zu ihm in die Werkstatt gelatscht sei, als er gerade mit dem Stihl-Außendienstmitarbeiter redete, und der habe sich noch mehr über die mangelnde Etikette aufgeregt, als er selbst.
Bei einem Baumarkt wurde mir mitgeteilt, dass man ab sofort die Pakete genau auf Schäden und Vollständigkeit prüfe (die hatten immer unterschrieben, ohne auf die Mengenangabe auf dem Display zu achten), weil letztlich ein Hochdruckreiniger gefehlt habe. Ich habe allerdings nicht erfahren, ob das Paket tatsächlich verschwunden oder nur im Auto vergessen worden war.
An einem anderen Tag waren verantwortliche Leute in heller Aufruhr, weil er einen sündhaft teuren Drucker nicht fand. Am Tag zuvor hatte er einen erneuten Liefertermin angegeben, weil der Kunde bei seiner Ankunft wegen der fortgeschrittenen Zeit keine Waren mehr annahm. Am Folgetag war der Drucker allerdings verschwunden. Sub75 wurde in die Mangel genommen, sagte, er habe das Fehlen des Druckers auch erst beim Öffnen des Wagens im Depot bemerkt. Dass er im Laufe der eindringlichen Befragung nicht in Tränen ausbrach, war auch alles, was noch gefehlt hatte. Er schniefte aber auffällig, als es vorbei war und er mich bat, ihm bei der Stoppsetzung zu helfen. Er hatte den Kastenwagen wohl am Abend zuvor ausgekehrt und dabei vergessen, den Drucker wieder in den Laderaum zu stellen!

Seine Arbeitsleistung ging noch mehr in den Keller, als seine Mutter so krank wurde, dass sie ein paar Wochen auf der Intensivstation einer saarländischen Klinik verbringen musste. Subs Vater fuhr jeden Tag nach der Arbeit ins Saarland und kam gegen 23 Uhr wieder zurück. Sub75 blieb so lange wach, um Neuigkeiten von der Mutter zu erfahren. Dadurch schlief er natürlich erst recht nicht genug, er kam häufig zu spät. Irgendwann stellte ihm Peter ein Ultimatum: Wenn er morgen noch einmal zu spät komme, würde er ihn entlassen. Was tat Sub75, um diesem Schicksal zu entgehen? Er fuhr nach seiner Tour nach Koblenz hoch und schlief im Auto vorm Tor des Depots.

12. Januar 2014

Die Fracht am Rhein (Teil 1)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 17:31

Das Jahr 2013 war gekommen, das Depot Trier war gegangen, das Depot Koblenz war zur neuen Ausgangsbasis geworden. Und dort – man muss es gleich einleitend sagen – kam nichts so, wie es gesollt, gewünscht, oder versprochen worden war. Die Idee, zur gewohnten Zeit zuhause aufzubrechen, kam mir erst gar nicht. Für einen Mitarbeiter mit meinen Arbeitsstandards steht sternenklar fest, dass es nur Nachteile bringt, andere die eigene Arbeit machen zu lassen, und damit beziehe ich mich nur auf das im vergangenen Dezember angesprochene Abräumen der Pakete vom Band. Verpasste Pakete bedeuten Zeitverlust und ich gedachte eigentlich, ebenso effizient weiterzuarbeiten – und da der Januar erfahrungsgemäß ruhig war, sollte genügend Zeit sein, sich in die Gepflogenheiten des neuen Betriebs einzuarbeiten und dabei auch die neuen Aufgaben anzulernen.
Ich stand also nicht mehr um halb Vier auf, sondern bereits um Viertel nach Zwei, brach um 0315 auf und war so zwischen 0430 und 0445 am Arbeitsplatz. Das Wetter war nach dem Wintereinbruch Ende des Jahres 2012 wieder recht mild und machte – zumindest vorerst – keine Probleme.

Schon nach wenigen Arbeitstagen war eine große Sache klar: Die Frachtzahlen unterschieden sich nicht wirklich von denen kurz vor Weihnachten.
Was war hier los? Ich habe damals nicht darauf geachtet, ob vielleicht gerade mit dem Jahreswechsel auch ein paar neue Transportaufträge des Konzerns griffen und deshalb nicht möglicherweise ein paar neue Absender in den Auftragsbüchern zu finden gewesen sein könnten – schließlich hat auch Transoflex eine Abteilung für Kundenakquise, und die schlafen ja nicht.
Es war jedenfalls eine schnell feststehende Tatsache, dass die Fahrzeiten sich nicht grundsätzlich von denen unterschieden, die in der Vorweihnachtszeit üblich waren, und da war die Extrabelastung durch das Pendeln zum Arbeitsplatz noch gar nicht einberechnet. Schon allein dadurch zerbröselte Peters Plan, den “ruhigen Januar” zur Einarbeitung in die neuen Aufgaben zu nutzen. Es wurde weiter bis zur Erschöpfung geklotzt. Stranski sagte dazu nichts und auch Dhalsim zuckte auf Anfrage nur mit den Schultern.

Aber auch andere Details trugen zur Verlängerung des Arbeitstags bei. In Trier kannte ich alle Kniffe und konnte bis um spätestens 0830 abgefertigt werden und aus dem Depot fahren. An normalen Tagen war ich sogar bereits um 0800 unterwegs. Gute Zeiten! In Koblenz kam vorerst schnell eine Stunde hinzu, und das, obwohl der Bandstart hier grundsätzlich bei 0500 lag, anstatt bei der gewohnten Marke von halb Sechs. Das hatte seinen Grund in der mangelnden Vorbereitung der Verantwortlichen auf die neuerliche Flut von Paletten und Paketen, die da ins Lager schwappte.
In Trier hatte man uns folgendes erzählt: “In Koblenz läuft das Band noch schneller, und wenn das Band mehr als dreimal am Morgen steht, machen sie Dir die Hölle heiß!”
Die Wahrheit ist eher, dass das Paketband in Koblenz bereits Altersschwäche zeigt. Je weiter “flussabwärts” man es betrachtet, desto langsamer läuft es, ohne Unterschied, ob Innen- oder Außenseite. Ja, in Koblenz laufen eigentlich zwei Bänder parallel: Die Innenseite für den Raum Koblenz, die Außenseite für den Bereich Trier und Vordereifel. Die Labels sind entsprechend gekennzeichnet, damit die Aufleger wissen, welches Paket wohin aufgelegt werden muss.

Ich stand mit Stranski etwa in der Mitte und die Pakete rollten an der Stelle bereits so langsam vorbei, dass ich manchmal wähnte, ich müsse bekloppt werden, denn von Trier her war ich eine zügigere Frequenz gewohnt.
Ganz vorn dagegen war die Geschwindigkeit “trierisch” flott – mit dem Unterschied, dass die Bandaufleger hier aus zeitlichen Gründen nicht so freundlich waren und darauf achteten, einen gewissen Abstand zwischen den Packstücken zu belassen. An den ersten Toren glitten die Pakete dicht an dicht, oft in zwei Reihen hintereinander und machmal auch übereinander an den Fahrern vorbei, die streckenweise keine Chance mehr sahen, ihre Pakete schnell genug zu greifen und frustriert aufgaben. Was sie nicht kriegten, lief halt durch.

Hinzu kam, dass zum Beispiel Bert und Felix die Versprechungen des Fuhrunternehmers wörtlich nahmen: Sie kamen erst gegen halb Sieben, und da den vorhandenen Leuten keiner gesagt hatte, welche Pakete wohin kamen, liefen auch die durch, nach ganz hinten, wo der letzte Fahrer in der Reihe diese Durchläufer in die Ecke warf. Niemand sorgte auch nur für ein Minimum an Ordnung. Genau da wurde eine Menge Arbeitszeit verbrannt, denn der Chefoberboss hatte bei seiner offenbar keineswegs durchdachten Zusage, in Koblenz seien Leute, die für die Spätkommer abräumten, wohl die bereits vorhandenen Koblenzer Kollegen gemeint – und die hatten doch mit ihrem eigenen Stall genug zu tun.

Wenn das Band dann zwischen halb Acht und Acht endlich stand, lag hinten in der Ecke ein chaotischer Haufen Zeug, der immerhin vom Koblenzer Material getrennt war. Ansonsten alles durcheinander. Diesen Paketberg zu durchwühlen, kostete jeden von uns mindestens eine halbe Stunde. Da ich auch erst einmal herausfinden musste, wo man überall vermisste Pakete finden können würde – nicht nur am Bandende, sondern auch bei anderen Fahrern, unter dem Band, zwischen Paletten- und Sperrgutzone, vor dem LKW-Tor 8, vor der Leitplanke am Verschlusslager… – erhöhte sich die Zeit, zu der ich endlich auf die Straße kam, auf nach Neun Uhr, und es dauerte bis Ende Januar, bis ich mal auf 0845 vorrückte. Und dabei bedenke man: Bis zum ersten Kunden in Kordel vergingen im Schnitt weitere 75 Minuten auf der Autobahn.

Der körperliche Druck baute sich also allmählich wieder auf, aber der psychische Druck kam schlagartig sofort und Elmo bekam bereits am 3. Januar zu spüren, was von den im Dezember gemachten Versprechungen zu halten war:
Er erschien in Koblenz so gegen Acht zur Arbeit, also zu einem Zeitpunkt, wo man schon bald losfahren sollte, will man ausreichend Kunden erreichen, bevor diese ihre Warenannahme schließen. Da er in einem Nachbarort von Ehrang wohnte, fuhr er um 0615 zuhause weg und stand in Trier um 0630 pünktlich auf der Matte. Nach Koblenz aber musste er erst mal knapp zwei Stunden fahren.
Das Versprechen, seine Paletten seien bei seinem Erscheinen bereits gewickelt und bereit zum Einladen, war nichts als ein bloßes Daherreden ohne dahinterliegende Substanz gewesen: Es wurde nichts in dieser Richtung unternommen – rein gar nichts. Wer hätte die Arbeit auch machen sollen? Minijobber kosten schließlich Geld, die zusätzliche Arbeitszeit von pauschal entlohnten Mitarbeitern dagegen kostet gar nichts.
Elmo musste also die auch in Trier üblichen, zwei oder mehr Stunden mit Suchen, Sortieren, Scannen und Wickeln verbringen, bevor er an Abfertigung und Tourbeginn denken konnte, und das führte in direkter Folge dazu, dass er Ware wieder mitbrachte, deren Zustellung er vor Annahmeschluss nicht mehr schaffte.

Um diesen Missstand abzustellen, wurde umgehend ein weiteres Versprechen gebrochen: Peter machte ihm unzweideutig klar, dass er ab sofort wieder zur auch in Trier üblichen Zeit von halb Sieben im Depot zu sein habe. Elmo war natürlich oberstinkesauer, nur Puck schien das mit der Gelassenheit eines Menschen hinzunehmen, der vom Leben eh nichts mehr erwartet.
Bert ließ sich von sowas nicht beeindrucken, er kam weiterhin spät, nur Felix ließ sich mit einem Fünfziger mehr pro Monat dazu überreden, bis um Fünf da zu sein.

Ein gehaltenes Versprechen war der Wegfall von so genannten Nachladetouren. Aber es wäre auch Blödsinn gewesen, die LKWs von Trier nach Koblenz zurückkommen zu lasen, um sie erneut zu beladen und nach Trier zu schicken, da eine Fahrt über 90 Minuten in Anspruch nahm – stattdessen fuhr Elmo neuerdings mit einem Anhänger. Ein 7,5t Laster mit Anhänger bei weniger als 150 real existierenden PS auf einer Autobahn mit einigen Anstiegen? Man konnte die dunklen Gewitterwolken über seiner Stirn förmlich sehen.

Auch der Februar brachte keine Entspannung, es wurde weiter geklotzt. Hinzu kam aber, dass es plötzlich saukalt wurde und zu schneien anfing.
In Koblenz stehen die Autos außerhalb der Halle und man füllt sie durch ein kleines Rolltor. Der Nachteil wird einem schnell klar, wenn es einem durch die offenen Rolltore im Rücken eiskalt in den Nacken zieht und die Hallentemperatur trotz Heizrohrs an der Decke kaum über den Gefrierpunkt hinauskommt. Die Autos selbst waren dann natürlich ebenfalls eiskalt, wenn man sich hineinsetzte. Aber das war ja nur die Kälte.
Schnee ist einer der bedeutendsten Feinde des Kraftfahrers, und morgens um halb Vier ist noch kein Räumdienst unterwegs. Die Autobahn war weiß in Weiß, wenn auch bereits plattgewalzt von in der Nacht fahrenden LKWs, und das Fahren selbst wurde zur Arbeit. 60 km/h waren stellenweise schon gefährlich schnell und ich habe mehrfach in der zweiten Hälfte der Strecke den Räumdienst fahrlässigerweise überholt. Das Fahren unter solchen Straßenbedingungen kostete mich eine Menge Konzentration, so dass ich schon mit einem gewissen Erschöpfungsgefühl auf der Arbeit ankam und dann dick eingepackt in Jacke, Mütze und Schal meine Arbeit verrichtete, die eigentlich Schweiß treibend ist.

Der Weg zu den Kunden war dann auf der Autobahn frei, aber in den Dörfern hatte sich noch nichts getan. In Butzweiler befindet sich in Fahrtrichtung Newel ein Anstieg von mindestens 15 % Steigungsgrad und an einem dieser verschneiten Tage kam ich von Newel herunter. Ich besah mir die Senke und beschloss, es zu versuchen. Vermutlich wäre der Versuch, zurückzustoßen und eine alternative Route einzuschlagen, eh bereits zum Scheitern verurteilt gewesen.
Ich schob den ersten Gang ein, blieb auf der Kupplung und gab zentimeterweise mit der Bremse nach. Ich wagte kaum zu atmen. Ein Tick zuviel Bewegungsenergie und das drei Tonnen schwere Fahrzeug wäre nicht mehr zu halten gewesen. Ich schaffte die Hundert Meter bis zur Einfahrt Remigiusstraße dann binnen weniger Minuten mit klopfendem Herzen und pochenden Schläfen und war bei der Kundin dann beinahe zu nervös, um den Scanner zu bedienen.

Ob es an dem selben Tag war oder an einem anderen, weiß ich nicht mehr, aber ich fuhr dann auch über die verschneite Straße von Sinspelt nach Neuerburg und hatte mit 50 km/h in einer Rechtskurve wohl übertrieben: Das Heck brach nach links aus und verfehlte nur um Haaresbreite einen entgegenkommenden PKW. Als ich im Krankenhaus ankam, um meine Lieferung zuzustellen, musste ich mich erst mal einen Augenblick sammeln, bevor ich überhaupt den Scannerstift festhalten konnte, so sehr zitterten meine Hände. Herr T. vom Empfang zeigte sich verständnisvoll und wartete geduldig.

Allgemein zeigte die Arbeitsbelastung sowie das frühe Aufstehen Spuren bei mir: Ich zeigte mich zunehmends schlecht gelaunt und auch meine Freundin war zu Recht unzufrieden damit, dass ein gemeinsames Leben die Woche über unmöglich geworden war. Ich ging zu Peter und sprach ihn auf den schleppend, wenn überhaupt, vorangehenden Übergang zum im Dezember besprochenen Arbeitssystem an und dass ich nicht dauerhaft zwölf bis 15 Stunden pro Tag arbeiten könne, und da hatte ich die Anfahrt noch nicht mit einbezogen. Er sagte, es gebe wegen der Umstellung auf Koblenz noch ein paar Probleme, vor allem personeller Art, er werde mich aber so bald wie möglich auf ADR-Lehrgang schicken und einen Ersatzfahrer für die Eifel finden.

Kurz darauf wurde mir ein Praktikant vorgestellt, einer von Berts Freunden, ebenfalls aus Nigeria, ein eher rundlich und durchweg sympathisch anmutender Typ Anfang Dreißig, den ich im Blog “Doc” nenne. Er erzählte mir, er habe früher immer Profifußballer werden wollen, habe hart trainiert und sei auch in entsprechende Nachwuchskader aufgenommen worden – und dann habe eine Knieverletzung alles zunichte gemacht. Da er nach dem Prinzip verfahren sei, “Fußball oder gar nichts!”, habe er da gestanden ohne höheren Schulabschluss, ohne Ausbildung, ohne zukunftsfähigen Job. Dieses Muster, sein Leben komplett gegen die Wand zu fahren und die Reste das Klo runterzuspülen, kam mir sehr bekannt vor. Wir hatten aber insgesamt angenehme Gespräche und wir erwiesen uns im Denken als ziemlich ähnlich.

Und genau an diesem Tag blieben wir kurz vor Daleiden auf einem asphaltierten Feldweg im Schnee stecken. Das wäre zu vermeiden gewesen, wenn ich statt der offiziellen Umleitung (!) den Streckenabschnitt gewählt hätte, den auch sonst jeder fuhr, aber ich dachte mir, wenn da schon eine offizielle Umleitung ausgeschildert ist, dann wird man da wohl durchkommen… aber damit war es nichts.
Wir standen am Hang, mit der Senke im Rücken, aber der Winkel reichte nicht aus, um den Wagen einfach wieder zurückrollen zu lassen. Wir nahmen die einzig verfügbaren Hilfsmittel zur Hand: Einer dieser schwarz-gelben Streckenpfosten, wie man sie im Winter zur Randmarkierung einsetzt, ein Winkeleisen, das für die Radmuttern gedacht war, und die Handsäge, die ich immer dabei hatte. Wir schaufelten Schnee weg, hackten im Eis herum, unterfütterten die Frässpur der Hinterreifen mit Gehölz, um vielleicht mit Vor und Zurück aus der Kuhle am Fahrbahnrand herausschaukeln zu können, aber nichts half. Mit meinem Latein am Ende machte ich mich nach 45 Minuten auf den Weg ins Dorf, um einen Bauern mit Schlepper aufzutreiben.
Ich fand auch schnell einen, der das Problem schnell löste. Wir zeigten uns dankbar.
“Seid froh, dass es Euch nicht da unten in der Senke erwischt hat,” sagte er und wies in den Geländeeinschnitt zwischen Daleiden und Dahnen, “da hab ich letzte Woche einen Dönerlieferanten rausgezogen, der meinte, es sei eine gute Idee, mit einem Kühlwagen bei solchen Straßenverhältnissen einen Feldweg zu nehmen.”
Mit über einer Stunde Zeitverlust ging es dann weiter und bis wir beim letzten Kunden fertig waren, war es verdammt spät. Ich setzte ihn in Trier ab, entschuldigte mich für meinen Leichtsinn bei Daleiden, und machte mich auf den Weg nach Hause. Unerwarteterweise tauchte er aber tags drauf wieder auf und erklärte sich bereit, die Eifel zu übernehmen.

Ich wurde daraufhin der so genannte Springer, also der, der überall da fährt, wo einer krank oder im Urlaub ist, oder wo schlicht eine vorübergehende Entlastung für den Fahrer der Hauptroute notwendig wird. Nach einigen Tagen wurde mir klar, warum der Kurde damals gesagt hatte, er wolle lieber seine Bitburger Stammtour zurück…

6. September 2013

Gaytal-Kamikaze (Teil 18)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 12:14

Die Notizen sind mir noch nicht ausgegangen… ich verbleibe noch ein paar Absätze lang im Jahr 2012: Drei Stichworte habe ich noch, dann beginnt auch hier das Jahr 2013, und trotz werbewirksamer Fehlinterpretation des mayanischen Kalenders ist die Welt zwischendurch nicht untergegangen, wie wir ja heute wissen.

An einem sonnigen Tag im Spätherbst fuhr ich etwa um 0800 aus dem Depot in Richtung Newel, also durch Ehrang und Biewer, von dort aus über die schmale Straße unter der Autobahnbrücke hindurch, aber an der Gabelung nicht links auf direktem Weg nach Trierweiler, sondern erst rechts den Berg nach Besslich und Butzweiler hoch, weil damals die Einmündung auf die Landstraße bei Aach wegen Bauarbeiten gesperrt war.
Während des Anstiegs drehte der Motor allmählich immer schneller, aber die Leistung viel ab, bis ich schließlich Vollgas geben konnte und trotzdem bestenfalls noch Schritttempo fuhr.

Ich nutzte die erste Einbuchtung für Waldfahrzeuge, um einen laienhaften Blick in den Motorraum zu werfen. Da war nichts zu sehen, es qualmte nichts oder so, aber es roch nach verbranntem Gummi. Getriebeschaden, davon ging ich aus. Ich rief im Depot an.
“Okay, komm zurück, wir haben noch ein Auto hier.”
Ich bekam eine von den alten Sprintergurken ohne Stauraum (dafür mit viel Müll und Dreck), die nur für Engpässe in Bereitschaft standen, und bis ich nach Rückfahrt und Umladen wieder auf die Straße konnte, war über eine Stunde vergangen, es war mittlerweile nach halb Zehn. Und das mitten im Vorweihnachtsbetrieb.

Da zu jenem Zeitpunkt auch die Trierer und der Bitburger bis zur Hintertür vollgepackt waren, war es an mir, in deren Peripherie zuzustellen – unser Management sieht in erster Linie auf die Anzahl der Kunden am Tag, das sind in der Eifel selten mehr als 50, während die Stadtfahrer in der Regel das Doppelte stemmen müssen, aber kaum jemand bedenkt die Kilometer, die ebenfalls Zeit kosten. Oder man hat bei den Dispoplanungen Fahrer im Kopf, die mit über 50 Kunden durch die Eifel düsen und trotzdem um Drei zuhause sind.
Ich bin allerdings kein schneller Fahrer und hatte einiges zu tun an dem Tag: Trierweiler kostet über eine halbe Stunde extra, die Dörfchen westlich von Bitburg eine weitere Stunde, und inklusive des Umstands, dass vor Weihnachten die Frachtzahlen um 50 % steigen, kommen so bequem mehr als zwei Stunden raus. Mit allem, was an jenem Tag schon passiert war, würde ich vielleicht um halb Acht zuhause sein.

Kurz nach Einbruch der Dunkelheit kam ich in Biersdorf am See an, um dem Altersheim noch irgendwas zu bringen, aber 500 m in den Ort hinein kamen aus dem Motorraum Geräusche, als habe jemand den Ventilator vorne mit einem Häcksler verwechselt; im nächsten Moment begann die Fahrerkabine, sich mit Rauch zu füllen. Ich zog das Auto noch auf den Parkplatz der Sparkasse. Ein Anwohner hatte das Geräusch gehört und kam zu mir rüber, Taschenlampe griffbereit. Motorhaube auf, ich ließ den Motor an, und wir sahen gemeinsam hinein. Zylinderkopf? Ölleitung? Ich war nicht sicher. Irgendwo spritzte Öl, es verdampfte auf dem heißen Motorblock und es kam zu der beschriebenen Rauchentwicklung.

Ich rief Peter an, der versprach, jemanden zu schicken, der mich abholen würde.
Was sollte ich bis dahin machen? Die Sonne hatte den Tag ganz angenehm gemacht, aber jetzt, wo es dunkel war, spürte man, dass der Winter bereits sprungbereit hinterm Horizont im Nordosten lag. Der Anwohner brachte mir einen alten Plastikstuhl und empfahl mir, mich in den Vorraum der Sparkasse zu setzen. Und dann saß ich dort, mit dem Rücken zur Heizung. Ich ging im Kreis, las alle ausliegenden Werbeprospekte und entdeckte, dass das Grundstück samt Werkhalle eines unserer (gelegentlichen) Kunden in
Mettendorf zum Verkauf stand. An einem guten Teil anderer Gebäude kam ich auch hin und wieder vorbei und wusste, wo sie sich befanden (und dass man sie von ihrer schokoladigsten Seite fotografiert hatte). Langeweile in Reinform.

Um etwa Sieben rief Felix mich an, er würde kommen, aber es werde noch etwas dauern, von Wittlich nach Biersdorf vorzustoßen. Kurz vor Acht kam er dann an. Dem Anwohner entging das nicht und als wir mit dem Umladen der verbliebenen Fracht begannen, kam er rüber und brachte uns zwei alkoholfreie Veltins mit Zitrusgeschmack. Dass da Kohlensäure drin war, war mir in dieser Situation völlig egal. Wir tranken gemeinsam einen auf den beschissenen Tag und ich konnte nur hoffen, dass das Ersatzersatzfahrzeug ein besseres sein würde.

Weitere Tage vergingen, aber dann kam der Winter. Im vergangenen Jahr hatte es meist nachts geschneit und bis zum Arbeitsbeginn waren zumindest die Hauptstraßen wieder frei. Nicht dieses Jahr. Da fing es am frühen Morgen zu schneien an oder während der Tour, und so auch an diesem Tag im Dezember. Es schneite plötzlich in dichten Flocken bei mäßigem bis starkem Wind, die Schneedecke auf der Straße schloss sich und wurde dicker. Ich fuhr Newel und Trierweiler und machte mich auf den Weg nach Udelfangen, wo ein Kollege aus Studientagen arbeitete, der von seinem Studium rechtzeitig den Absprung geschafft und den Einstieg in einen Job im Umfeld der visuellen Medien geschafft hatte. Ich glaube, der Betrieb führt Qualitätskontrollen durch, aber genau weiß ich es nicht; die bekommen jedenfalls immer wieder DVDs und was weiß ich noch was, ab und zu auch als Supersonderzweitageexpress aus den USA.

Da wollte ich gerade hin, als ich in einer kleinen Senke etwa einen Kilometer vor dem Ort mit 40 km/h scheinbar zu schnell in die eigentlich sanfte Linkskurve ging. Vielleicht hatte sich dort unter dem Schnee Wasser angesammelt, das dann gefroren war, ich weiß es nicht – das Lenkrad ging nach links, aber der Wagen fuhr geradeaus weiter, in den Graben hinein. Nach wenigen Sekunden stand fest, dass ich nicht aus eigenem Vermögen da wieder rauskommen würde.
Anruf im Depot.
“Versuch mal, einen Bauern mit Trecker aufzutreiben.”
Könnte das in Udelfangen schwer sein? Da sieht es sehr bäuerlich aus. Aber weit gefehlt. Da gab es noch zwei Traktoren. Beim Hof in der Ortsmitte war keiner zuhause und ein Schnee schippender Nachbar teilte mir mit, dass der Anwohner nur eine Art Teilzeitbauer sei, der die Woche tagsüber meist auf der Arbeit sei. Aber ich könne es weiter oben versuchen, da lebe ein Vollzeitbauer. Da er den Namen der Straße nicht wusste, beschrieb er den Weg und das Haus.
Leider war die Wegbeschreibung nicht die Beste oder zumindest nicht volltauglich in meinem Kopf angekommen und ich ging ein paar Umwege, bis ich das beschriebene Haus endlich gefunden hatte. Eine Dame Mitte Vierzig öffnete mir die Tür und konnte mir nicht weiterhelfen; ihr Mann sei gerade wegen einer Erkältung beim Arzt und werde nicht vor Mittag zurück sein. Nein, andere Leute mit Schlepper gebe es ihres Wissens hier nicht.

Ich machte mich auf den Rückweg zum Auto und telefonierte mit Peter. Er werde sich was anderes einfallen lassen. Bis dahin legte ich mich ins reichlich zugeschneite Auto. Zynischerweise hörte es genau da auf zu schneien und zu stürmen, als ich mich nicht mehr im Freien aufhalten musste. Nach kurzem Dösen rief Peter an: Ein Abschleppdienst sei auf dem Weg. Ich döste weiter, bis ich hörte, dass ein Wagen vor mir hielt. Eine Art Geländefahrzeug, darin ein Mann Mitte Fünfzig in Werkstattkleidung, Jacke drüber.
Wir befestigten das Seil, er zog, ich half mit durchdrehenden Hinterreifen, so gut es mir möglich war. Aber es ging vorwärts und nach einem bedenklichen Kratzen am Unterboden stand der Sprinter wieder auf der Straße. Ich bedankte mich und fuhr weiter, in einen späten Feierabend hinein.

Bei dem Fahrer handelte es sich übrigens um den Vater unseres Lagerverantwortlichen Antonius, und das Kratzen am Unterboden hatte von einem Betonblock her gerührt, in dem wohl vor langer Zeit mal ein Straßenschild eingelassen war. Schäden waren jedenfalls keine festzustellen.

Die Tage waren lang und zehrten an meinen Kräften, aber ich biss die Zähne zusammen – an Weihnachten würde alles vorbei sein und der Januar als eine Art Halburlaub stünde vor der Tür. Am 19. Dezember, dem Freitag vor Heiligabend wollte ich daher alles geben, alles musste raus, und die Stoppzahlen, die ich bekommen hatte, reichten auch bis lang in den Abend. Jedes Kaff wollte mindestens ein Paket haben. Hier ein Umweg, da ein Umweg, und ich schien nicht vorwärts zu kommen.

Am Nachmittag in Mettendorf. Dort lebt ein Außendienstmitarbeiter einer Firma, die Kaffeepads verkauft. Da er natürlich tagsüber unterwegs ist, werden die Pakete bei seiner Mutter abgeliefert, einer netten älteren Dame weit jenseits des Rentenalters, die mir angesichts der fortgeschrittenen Zeit und fünf großer Pakete eine Tüte Plätzchen anbot. Sie sagte, sie habe Kinder, Enkel und Urenkel in ausreichender Zahl und daher ein Überangebot an selbstgemachtem Weihnachtsgebäck. Und das schmeckte ganz hervorragend. Hoffentlich nimmt sie ihre Rezepte nicht mit ins Grab, das wäre ein echter Verlust.

Um Fünf war ich in Neuerburg, wo ich in den besten Zeiten zwischen Zwölf und 13 Uhr auslieferte; um 1430 aus Neuerburg rauszufahren, war für mich spät. Nun war es also Fünf. Niemand hatte mehr mit mir gerechnet. Der Tierarzt zeigte sich mit einem Gesichtsausdruck zwischen Schock und Erstaunen und während ich seine Sachen in die Garage stellte, brachte mir die ganze Familie Plätzchen und Kaffee in einem Thermobecher. Ich war geplättet und wusste gar nicht, was ich dazu sagen sollte, außer mich angemessen zu bedanken.
“Den Becher können Sie behalten, ich hab genug davon.”
“Passen Sie auf, der Becher ist undicht”, fügte seine Frau hinzu.
“Nein, der ist nicht undicht… der äußere Teil hat ein nadelgroßes Loch, da zieht sich vielleicht Spülwasser rein, das später auslaufen kann, aber der Kaffee bleibt drin.”
Ich fühlte mich dabei an Dialoge mit Melanie erinnert. 🙂
Ich war mindestens gerührt. Und dafür, dass jene Frau das ist, was man wohl einen “Besen” nennen könnte, mit der ich erst nach Monaten warm geworden bin, macht sie hervorragende Plätzchen. Hut ab.
Vielleicht war aber auch das Leben nicht sehr freundlich zu ihr gewesen. Das Ehepaar hat einen Sohn von schätzungsweise Mitte Zwanzig und eine Tochter von vielleicht Anfang Zwanzig, und die durchaus hübsche und freundliche junge Frau ist wohl das, was man früher mal “geistig zurückgeblieben” nannte… ich weiß nicht, wie man das heutzutage nennt, “retardiert” klingt jedenfalls zu gestelzt; kurzum: sie hat das Gemüt einer Siebenjährigen. Das kostet Eltern natürlich Kraft und Nerven, von daher habe ich heute, mit diesem Wissen, mehr Verständnis dafür als früher, dass die “Tierarztfrau” manchmal kurzangebunden bis zur Grenze der Unhöflichkeit ist und ich freue mich jedesmal ein bisschen, wenn sie mal lächelt.

Zustellung in Idenheim um Viertel vor Zehn (ja, abends), dann nach Idesheim. Peter rief mich an.
“Ich hab grade eben den Tagesbericht aufgerufen und gesehen, dass Du vor drei Minuten noch eine Zustellung gemacht hast!? Mach Feierabend!”
“Die letzten beiden mach ich jetzt auch noch…”
Kurz vor Zehn dann in der Schreinerei in Idesheim. Die Werkstatt war natürlich geschlossen, aber der Schreinermeister saß noch in seinem Büro. Und machte große Augen.
“Das brauchen wir ganz dringend am Montag Morgen… der Kunde will sein Wohnzimmer unbedingt bis Heiligabend fertig haben… vielen Dank!”
Letzter Kunde um etwa Zehn, die Pharmamitarbeiterin im gleichen Ort. Im Wohnzimmer brannte noch Licht. Auch hier große Augen. Ihr Dutzend Pakete wanderte in die Garage und sie schenkte mir ein paar Packungen, auf denen zwar jeweils ein Blutzuckermessgerät abgebildet ist, in denen sich aber Toblerone Minis befanden. Dann erst begann das Wochenende.

Die letzten beiden Tage vor Heiligabend waren wie erwartet relativ ruhig, wenn auch nicht so ein Durchhänger wie im Jahr zuvor. Montags schenkte mir die Frau des Waxweiler Tierarztes eine… Dose Bier??? Ich behielt für mich, dass ich kein Bier mochte, aber immerhin sammele ich solche Dosen, die nach was aussehen, und polnisches “VIP” Bier – warum nicht? Unsere polnischen Kollegen am Band sagten mir, es handele sich um eine beliebte Marke. Tags darauf schenkte mir der Tierarzt selbst noch eine Flasche Dornfelder Rotwein. Es kristallisieren sich irgendwann Kunden heraus, zu denen man lieber fährt als zu anderen.

Der Rest der Arbeitstage im Dezember verging nach und nach. Vor der letzten Trierer Fahrt verabschiedete ich mich von den Bandauflegern und wünschte Ihnen alles Gute. Wir warteten gespannt auf den Neustart in Koblenz, “wir” heißt Felix, Bert, Stranski und meine Wenigkeit. Die anderen machten den Umzug nicht mit, und der Engel warnte mich eindringlich:
“Ich hab den Scheiß dort von Anfang an mitgemacht, als die DG Koblenz aufgemacht hat… Koblenz ist das letzte, mach Dich drauf gefasst; ich bin garantiert nicht so bescheuert, mir das nochmal zu geben.”

1. Mai 2013

Gaytal-Kamikaze (Teil 17)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 16:25

… und im Osten, äh, ich meine natürlich AM HIMMEL standen dunkle Wolken. Die Bedrohung kam geografisch gewissermaßen aus dem Süden, wenn man die Transoflex Konzernzentrale Weinheim meint.

Die Initialzündung der Bombe, die die Schockwelle auslöste, die sogar Weinheim erreichte und zu uns zurück reflektierte, bestand aus einem einzigen, aus DEM einzigen Fahrzeug der DG Trier, das für eine Handvoll wichtiger Kunden in Belgien eingeteilt war. Ich weiß nicht, ob das Fahrzeug zur Firma des Herrn Murtaza gehörte, die für die Belieferung des Luxemburger Raums zuständig war, Fakt ist jedoch, dass sich eines Tages die Neuigkeit verbreitete, dass eben jenes Fahrzeug gestohlen worden war. Der Fahrer hatte es bei einem Anlieferstopp entweder einfach nicht abgeschlossen oder gar den Schlüssel stecken und den Motor laufen lassen, wie manche Fahrer das aus Gründen der Zeitersparnis gern tun (als ob es so viel Zeit kosten würde, den Schlüssel abzuziehen und nachher den Motor wieder anzulassen). Das Auto war jedenfalls verschwunden. Zunächst. Es wurde später gefunden – leer natürlich. Es ging die Rede, dass das zuständige Unternehmen (bzw. der mutmaßlich dafür verantwortliche Fahrer) nicht nur die gestohlene Fracht zu ersetzen hatten, sondern dass in einem solchen Fall auch eine pauschale Vertragsstrafe an Transoflex in Höhe von 100.000 Euro zu entrichten sei.

Sofort wurden die Sicherheitsbelehrungen verschärft und wir mussten alle eine solche Belehrung unterschreiben, nach der wir verpflichtet wurden, bei jedem Halt, bei dem wir das Auto aus den Augen ließen, den Wagen komplett zu verschließen. Puck weigerte sich, diese Abmachung zu unterschreiben, da diese Verpflichtung nur von Leuten geschrieben worden sein konnte, die nicht nur keine Ahnung von Juristerei, sondern auch und sogar noch weniger Ahnung davon hatten, wie der Job eines Lieferfahrers abläuft.
Okay, wenn man einen Sprinter fährt, ist die Sache noch einfach: Ich ziehe den Schlüssel ab, hänge ihn an einem Band um den Hals, drücke den Verriegelungsknopf und die Sache ist sicher. Wenn man wie Puck allerdings LKW fährt, wird die Angelegenheit komplizierter.
Anders als die Sprinter stehen die LKW an einer Rampe vor der Halle, die nicht zusätzlich eingezäunt, also von der Straße aus einfach erreichbar ist. Geht der Fahrer von der Rampe weg, um zum Beipiel etwas im Disporaum oder im Büro zu klären, um ein Paket zu suchen, um eine Palette zu wickeln oder um aufs Klo zu gehen, müsste er, gemäß der neuen Weisung, jedes Mal die Hebebühne hinten hochklappen, ein Vorhängeschloss daran anbringen und bei seiner Rückkehr den Vorgang in umgekehrter Reihenfolge wiederholen, also mindestens ein Dutzend Mal jeden Morgen. Wenn man sich auch nur oberflächlich mit dieser Sorte LKW beschäftigt hat, weiß man, dass das Öffnen und Verschließen eine Weile dauert.
Leider habe ich diesen Disput nicht weiter verfolgt, aber wenn ich mich nicht irre, gab es eine Weile darauf einen zufriedenstellenden Kompromiss.

Die nächste Folge der belgischen Bombe war, dass die Belgientour eingestellt wurde. Bei den Schulden, die der Frachtführer mittlerweile haben musste, wunderte einen das wenig. Ich glaube, das war im Oktober 2012. So weit, so schlecht.
Anfang November kam Stranski morgens zu mir und sagte sowas wie: “Haste schon gehört? Sieht so aus, als ob sie zum Jahresende das Depot hier zumachen. Hat mir ‘n GLS-Fahrer erzählt.”
Nun, ich gebe nicht viel auf solche Gerüchte, zumal dann, wenn sie von außerhalb kommen. Was zum Teufel hatte ein Fahrer von GLS damit zu tun und woher sollte der eine solche Information haben? Klang für mich nach einer Facebook-Ente. Das Gerücht hielt sich aber (eines schönen Tages fragte mich ein UPS-Fahrer, ob es wahr sei) und es wurde bestärkt, als ich Peter dazu befragte und der mir eine nur als ausweichend zu bezeichnende Nicht-Auskunft gab. Die Damen im Büro sagten ihrerseits, sie dürften nichts dazu sagen. Aha!
Nach zwei Wochen war die Information im Depot so geläufig, dass R. offiziell etwas verlauten ließ. Die Konzernzentrale Weinheim prüfe nach dem Wegfall der Belgientour die Effizienz der Luxemburger Fahrten und sollte diese Prüfung negativ ausfallen, dann werde das Trierer Depot geschlossen, weil sich für ein Dutzend Fahrzeuge und deren Fracht allein der Betrieb eines Depots dieser Größe nicht lohne.

Dann kamen also wichtig aussehende Leute mit Anzug und Schlips und Schuhen, mit denen sie die Halle nach ihren eigenen Regeln eigentlich nicht betreten durften, prüften und wägten und diskutierten und beschlossen am Ende, das Luxemburger Geschäft mangels ausreichender Gewinnspanne abzustoßen. Ich musste darüber schon irgendwie lachen, denn ich hatte gegenüber den Kollegen auf der anderen Seite der Halle im Laufe des vergangenen Jahres immer wieder Witze gemacht, dass die Firma Murtaza doch sicherlich nur eine Geldwäscherei sei, weil mit dem bisschen Fracht pro Auto bestimmt kein Gewinn zu machen sei: Die fuhren mit gerade halbvollen Sprintern und waren um 13 bis 14 Uhr zuhause, bekamen alle Auslagen ersetzt, gingen bei Mängeln einfach sofort in die nächste passende Werkstatt und genossen vollen Versicherungsschutz ohne jede Eigenbeteiligung.
Aber scheinbar war das mit der Ineffizienz genau so und das eine Auto nach Belgien hatte die ganze Sache gekippt. Es war nicht der sprichwörtliche Schmetterling in China, der mit seinem Flügelschlag über eine Verkettung von Effekten auf der anderen Seite der Welt einen Orkan ausgelöst hatte, aber ein oder zwei Diebe in Belgien hatten das Leben von über 30 Leuten kräftig durcheinandergebracht.

Anfang Dezember war es amtlich. Die DG Trier machte dicht, und das zog Ereignisse und darauf fußende Entscheidungen nach sich, die mein Leben, wenn auch weiterhin im Rahmen meines aktuellen Arbeitgebers, verkomplizieren würden.
Es gab Mitarbeitergespräche, denn die Firma JP konnte es sich ja nicht leisten, dass alle “Trierer” absprangen, man musste denen schon etwas bieten, damit sie blieben, oder besser: man musste ihnen was versprechen. Doch schon die Organisation der dafür angesetzten Gespräche empfand ich als eine mittlere Ohrfeige. Es gab Leute, die bekamen Einzelgespräche. Gut, bei Mike war das klar, immerhin war er der Disponent und Vorgesetzter. Aber auch zum Beipiel der Engel bekam ein Einzelgespräch. Ich stand letztendlich mit Elmo, dem Kleinen (sein Backenzahn of Doom meldete sich erst ein paar Tage später) und Puck zusammen in R.s Büro, gegenüber R., quasi als Protokollant, Chefoberboss JP und Peter. Mir war noch nie so konkret bewusst gemacht worden, dass ich nur ein Depp vom Dienst bin, für den sich ein Einzelgespräch nicht lohnt, und das empfand ich als verletzend. Der Boden für weiteren Ehrgeiz war damit gelegt, und Ehrgeiz ist eigentlich keine meiner auffälligen Charaktereigenschaften (glaube ich zumindest).

Wir wurden also gefragt, ob wir mit nach Koblenz gehen würden: Elmo sagte, er werde das eher nicht tun, weil er zu früh losfahren müsse, um zeitig in Koblenz sein zu können, und da fing der interessante Teil des Gesprächs an, der sich mir schon auf Grund meiner bisherigen Erfahrungen ins Gedächtnis brannte, weil mir von vorneherein klar war, dass man dieses Ereignis noch in Beziehung zu späteren Entwicklungen würde setzen müssen. Kurz: Es wurden Versprechungen gemacht, und wichtig dabei ist, dass diese vom Chefoberboss kamen; Peter stand gewissermaßen nur schmückend im Hintergrund rum.

Die Versprechungen allgemeiner Art lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
“Ihr könnt zur gleichen Zeit von zuhause wegfahren, wie Ihr es bisher gewohnt seid. In Koblenz sind Leute, die für Euch abräumen. Ihr müsst dann nur noch scannen, laden und losfahren.”
“Ihr müsst dann nicht für jede kleine Sache nach Plaidt in die Werkstatt fahren. Kleinere Sachen machen wir auch direkt vor Ort.”
Für LKW-Fahrer kam hinzu:
“Zweit- und Dritttouren wird es keine mehr geben, vielleicht einen Zwölftonner, ja.”
Für den zögernden Elmo wurden noch Details draufgelegt:
“Wenn Du kommst, sind Deine Paletten schon gewickelt und gescannt, Du musst nur noch laden.”
Puck meinte an der Stelle, dass er vielleicht noch Frühstück fordern solle als Dreingabe, aber Chef JP sagte, Brötchen spendiere man in Koblenz ohnehin immer wieder mal.

Warum war es nun (im Rahmen meiner subjektiven Wahrnehmung) wichtig, dass Peter nur da stand und selbst nichts sagte?
Wir interpretieren: Peter ist unser direkter Arbeitgeber und Ansprechpartner; würde sich von dem Gesagten etwas nicht umsetzen lassen, kann er sich darauf berufen, dass er selbst rein gar nichts versprochen habe, das habe Herr JP getan.
Dabei bin ich immer noch nicht sicher, ob Peter der Mann fürs Kalkül ist… die Rolle passt eher zu seinem Bruder, im Guten wie im Schlechten.

Die meisten sagten schließlich zu. Felix war dennoch skeptisch, ob das eine so gute Idee sei, und da war es Peter, der sich zu der Aussage hingerissen fühlte: “Guck’s Dir doch erst mal an. Du wirst sehen, in Koblenz ist alles einfacher und unkomplizierter. Es gibt zumindest nicht mehr Arbeit als vorher.”
Felix ging also mit. Klar sagte auch ich zu. Natürlich würde ich einer Arbeitslosigkeit mit Unbehagen entgegensehen, aber da war ein geradezu perverser Gedanke in meinem Kopf: Ich seh’s mir an – und sei’s nur, um über die Scheiße nachher schreiben zu können.

Die Willigen wurden an einem Wochenende nach Koblenz gebeten, um sich die Anlage anzusehen und in die Gepflogenheiten eingewiesen zu werden. Leider hatte ich an dem Tag Samstagsdienst und Puck wollte zu seinem Vater nach Gelsenkirchen fahren. Peter meinte aber, das werde schon klappen und ich solle mit Puck eben die Samstagsdienste ausfahren, das geht ja schneller zu zweit, anschließend nach Koblenz kommen, und dann könne Puck auch gleich weiterreisen. Das wurde natürlich nix, weil an dem Samstag irgendwelche hinterletzten Käffer um Saarburg Richtung Luxemburger Grenze und um Morbach herum beliefert werden wollten und die Kilometer kosten halt Zeit. Um 1130 sagten wir also endgültig ab und Puck regte sich völlig zu Recht darüber auf, dass er sich zu dieser dämlichen Samstagsaktion hatte überreden lassen.

Wie war das Endergebnis dieser klassengetrennten Gespräche denn nun? Wie bereits gesagt, gingen die meisten mit, konkret waren das Stranski, Konrad, Felix, Elmo, Puck, Bert und Milli von der Ablaufkontrolle, sowie zwei Leute von den Luxemburgern, Tom und Hyper. Angedacht war auch, die einzige Fahrerin unter Vertrag zu nehmen, aber sie fand was bei einem Immobilienmakler und entschied sich anderweitig. Aber ganz abgesehen davon verloren wir die drei besten Leute.

Mike entschied sich dazu, Peters Firma zu verlassen. Es machte für ihn auch wenig Sinn, mitzugehen, denn als Disponent fing sein Arbeitstag um 0400 an, und wenn er nicht um drei Uhr morgens zuhause wegfahren wollte, würde er umziehen müssen, und dagegen spricht ganz nachvollziehbar, dass er einen Sohn von etwa zehn Jahren hat, der in Trier zur Schule geht, und eine Frau, die ebenso in Trier als Angestellte arbeitet.
Knut ging nicht mit. Der wohnt in Hermeskeil und hatte keinen Bock auf Ortswechsel, und so ein alltäglicher Tripp nach Koblenz von Hermeskeil aus dauert mehr als anderthalb Stunden.
Der Engel sagte auch ab, mit verständlichem Hintergrund: Er hat sich ein Haus gekauft und eine Frau mit Festanstellung geheiratet. Was soll der in Koblenz? Bei seinem Einzelgespräch – und sowas sickert gern durch – ging es nach Mikes Abgang interessanterweise aber auch darum, ob er denn als Disponent arbeiten würde; wenn einer von uns als Ersatz für Mike in Frage kommen würde, dann er. Aber er wollte nicht. Wie er mir später sagte, hing das auch damit zusammen, dass er vor Trier schon zwei Jahre in der DG Koblenz gearbeitet habe und das wolle er sich nicht noch einmal geben.

Von den bürogebundenen Mitarbeiterinnen ging nur Milli mit nach Koblenz. R. wurde ins Koblenzer Team integriert; wie es scheint, ist er für die Erkundung von Expansionsmöglichkeiten zuständig. Lilly schwor sich, nie wieder in der Logistikbranche zu arbeiten, das sei ihr zu stressig. Antonius fand eine Stelle in Luxemburg, wo er zwar nach Mindestlohn bezahlt werde, aber mit über 1800 Euro sei er damit dort eindeutig besser dran als in Trier. Octavia bewarb sich auf eine höher angesetzte Stelle in der DG Donaueschingen und trat damit in direkte Konkurrenz mit Laubschi, die die selbe Stelle haben wollte, und Laubschi erhielt den Zuschlag.

Mir steht kein Urteil über die Kompetenz der beiden zu, aber es ist offensichtlich so, dass das selbstbewusste Auftreten und die noch selbstbewusstere Schnauze unserer Transohex den Ausschlag gaben, während man Octavia mit kaum anderen Begriffen als “höflich”, “freundlich”, “lieb” und “nett” beschreiben kann. Was in menschlichen Beziehungen ein Qualitätssiegel darstellt, trifft leider nicht notwendigerweise auf geschäftliche Beziehungen zu, und ich muss ganz ehrlich sagen: In so einem Job muss man darauf achten, dass einem die Fahrer nicht auf der Nase herumtanzen, denn es gibt zum einen die Testosteronbomber und Männlichkeitsfanatiker, die meinen, Frauen seien eine Art besseres Haustier, das sich letztlich zu fügen habe, und dann die allgemein Unverschämten, die ihre eigenen Aufgaben so weit wie eben möglich auf andere abwälzen wollen, nach dem Motto “Frech gewinnt!”. Octavia würde bereitwillig Dinge übernehmen, für die Laubschi Dir den langen Finger zeigen würde.
Und zuletzt behielt Octavia einen Groll gegen R., weil dieser das von ihr vorgelegte Arbeitszeugnis abgelehnt und einen anderen Wortlaut verlangt hatte. Auf weitere Büroquerelen will ich nicht eingehen, das ist nicht meine Welt.

Unsere drei Besten gingen also, aber die waren keinen Tag lang arbeitslos, denn das Schicksal bewies den dreien, dass es auch gutes Timing gab. Im Januar würde nämlich in Sehlem – im ehemaligen DPD-Standort – ein Subunternehmer von GLS ein Depot eröffnen, und der bekam so gleich einen hochqualifizierten Mitarbeiterstamm: Knut unterschrieb dort, ohne lange drüber nachzudenken. Mike wurde stellvertretender Depotleiter und der Engel bekam eine Vorarbeiterstelle. Nach kurzer Zeit fand sich übrigens auch Big M dort ein: Die Werkstatt, bei der er gearbeitet hatte, musste schon kurz nach seiner Anstellung schließen. Big M bekam den Bereich Petrisberg und Tarforst als Zustellungsgebiet, aber über den Vergleich erzähle ich später mehr.

Mike und der Engel waren daran interessiert, dass ich ihnen folge; ich bin zwar kein schneller Fahrer, aber ich habe ja scheinbar andere Eigenschaften, die geschätzt werden. Das Anliegen brachten sie mir gegenüber nie direkt zur Sprache, warum auch immer, und ich hatte auch wenig Interesse. Ich hatte mir im Umfeld meiner Transoflex-Tätigkeit einen guten Ruf angearbeitet und wollte mein Prestige für einen Aufstieg nutzen, wie klein auch immer er ausfallen möge, ich wollte was besseres im Lebenslauf stehen haben, als einfach nur “Fahrer bei …”. Klar wäre GLS wegen der Nähe bequemer (und das Nettoeinkommen auch ohne gehobene Verantwortung bei ca. 1400 E), aber ich würde dort wieder bei Null anfangen.

Ich war entschlossen, nicht auf unbestimmte Zeit der Depp vom Dienst zu bleiben oder zumindest meinen Lebenslauf etwas aufzupeppen, also traf ich die folgenschwere Entscheidung, Peter eine SMS zu schreiben: “Ich habe gehört, Du brauchst einen Disponenten? Ich hätte da Interesse.” Er antwortete, dass wir darüber reden sollten.
Dieses Sondierungsgespräch fand am Folgetag (ein paar Tage nach den oben beschriebenen Unterredungen) statt, worin Peter mir sein Drei-Säulen-Modell kurz vorstellte (das er natürlich nicht selbst so nannte) und eine Beurteilung meiner für ihn relevanten Fähigkeiten abgab. Ich habe ganz klar zu wenig Erfahrung in dem Arbeitsfeld, um Disponent zu sein. Dazu muss man quasi das gesamte Liefergebiet auswendig kennen und das trifft auf mich nicht zu. Knapp zwei Jahre sind zu wenig, um sich ein solches Wissen anzueignen. Ich sollte daher die Säule sein, die sich um organisatorische und disziplinarische Dinge kümmert. Genaueres werde er mir zusammen mit seinem Bruder darlegen, idealerweise in Koblenz, da ich ja noch nicht dort gewesen sei. Daraufhin bearbeitete ich Mike tagelang, bis er mir endlich mit einer realistischen Gehaltsforderung rüberkam: “Verlang für eine Dispostelle nicht weniger als 1600 Euro.”

Es ist hierzulande unüblich, über sein Gehalt zu sprechen, die Leute haben da irgendwie Hemmungen. Ich weiß nicht genau, warum. Die, die mehr verdienen, wollen vermutlich keinen Neid auf sich ziehen, und die, die weniger verdienen, wollen sich vielleicht nicht schämen müssen. Dem Arbeitgeber kommt das zu Gute, denn er kann gezielt dem einen mehr und den anderen weniger zahlen, ohne dass sich das rumspricht und jemandem gewisse vielleicht ungerecht erscheinende Sonderbehandlungen auffallen könnten. Ich bin dafür, das zu ändern und rede mit meinen Kollegen frei darüber, was ich verdiene, aber ich werde es zu meinen Lebzeiten vermutlich nicht mehr erleben, dass sich diese Hemmschwelle senkt.

Ende Dezember war ich dann in Koblenz und wir verglichen unsere ganz allgemeinen Standpunkte. Meine Idee von 1600 E Nettolohn waren den beiden zu hoch gegriffen. Meine aktuelle Kompetenz rechtfertigte dieses Einkommen nicht. Gegenvorschlag: 1400 E, ohne Verhandlungsspielraum. Das gelte auch für die anderen beiden. Rama sagte, wenn er jedem das volle Disponentengehalt zahle, sei es für ihn günstiger, er heuere sich jemanden an, der morgens nur zum Disponieren komme. Rhetorisch geschickt wurden Mikes überragende Kompetenzen in den Dialog eingestreut: Über zehn Jahre Fahrerfahrung, kann überall als Springer eingesetzt werden, mehrere Jahre Dispoerfahrung, LKW-Führerschein, Gefahrgutschein. Dagegen sieht fast jeder Bewerber erst einmal blass aus.
Meine Aufgabe sollte es dagegen sein, mich um Formulare, Anträge, Termine, und allgemein disziplinarische Dinge zu kümmern, wie die Überprüfung des Zustands der Autos, vor allem im Hinblick auf deren Hygiene im Inneren, denn die ließ und lässt arg zu wünschen übrig. Im Gegenzug würde man mich von der Fahrerarbeit ein Stück weit entlasten, damit ich auch Zeit hätte, diese Aufgaben wahrzunehmen; denn Fahrzeug- und Führerscheinprüfung kann man ja nur vornehmen, wenn Fahrzeuge und Fahrer auch da sind, und das ist nun mal die Zeit, in der ich selber am Band stehen muss, um meine vorrangige Arbeit als Fahrer zu machen. Wie diese Entlastungen aussehen würden, wurde nicht weiter genannt. Ich hakte nicht nach, da ich zu diesem Zeitpunkt noch davon ausging, dass der Zeitansatz in Koblenz der gleiche sei, wie in Trier: Also Bandstart um 0530, und ich war durchaus gewillt, übergangsweise früh genug in Trier aufzubrechen, um weiterhin um 0445 in der Halle sein zu können, und letztendlich in die Koblenzer Gegend umzuziehen. Ich war lang genug in Trier, ich brauch die Aussicht auf die Uni nicht mehr. Außerdem brauche ich nach dem Wegfall meiner Gersheimer “Home Base” eh mehr Platz, Umzug unumgänglich, dann ist es mir auch egal, wohin.

Die anderen beiden “Säulen” des neuen Modells sollten zum einen Stranski und zum anderen ein ebenfalls sehr erfahrener Mitarbeiter sein, den ich hier mal Dhalsim nenne, dabei ist er weder Inder noch sonderlich groß gewachsen, sondern Kongolese und eher ein Sitzriese. Die beiden haben auf Grund ihrer langjährigen Liefertätigkeit eine umfangreiche Ortskenntnis angesammelt, die sollten sich um die morgendliche Zuteilung der Fracht kümmern, genauer um die Anpassung der Zuteilung durch die unflexible automatische Disposition an den jeweiligen Tagesbedarf.
Das klang vernünftig und mein Vertrag sollte ab Februar greifen. Weihnachten war vorbei und der Januar würde wie gewohnt ruhig sein, also Gelegenheit bieten, sich einzuarbeiten.

1. April 2013

Gaytal-Kamikaze (Teil 16)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 18:57

Dann kamen schwarz-weiß-rote Tage: Im Föhrener Depot des Deutschen Paketdienstes DPD war die Bandanlage ausgefallen. Die Pakete mussten von Hand weitergeschoben werden und es blieb massenweise Zeug liegen. Der DPD suchte händeringend nach Springern, die tags drauf den Überschuss abarbeiten helfen würden.
Es war Sommer – zumindest theoretisch war wenig los – und Peter schickte mich und Big M nach Föhren.
“Sei um halb Acht dort”, sagte er zu mir.
Meinem Sinn für Ordnung folgend, war ich bereits um sieben Uhr vor Ort und ließ mich vom Disponenten vom Dienst einweisen. Und dann stand ich da und wartete und wartete und wartete.

Das DPD-Paketband lief wieder, und es läuft langsam. Die Pakete, die die Fahrer trotzdem verpassten, wurden am Bandende gesammelt und ich half den Leuten dort, weil ich nichts anderes mit mir anzufangen wusste. Das Depot Föhren besteht aus zwei Flügeln, in denen zwei getrennte Bänder laufen. Es kommt also vor, dass Pakete für Band A im Flügel B auftauchen, und dieser Fall tritt nicht selten auf. Der DPD hat zu diesem Zweck eine eigene Minitour am laufen, deren Fahrer nur damit beschäftigt ist, Pakete von einem Teil des Gebäudes in den anderen zu fahren. Ich glaube, straßentauglich ist die schrottig aussehende Kiste eh nicht mehr.
Sind nun alle Pakete von den Paletten über das Band gelaufen, werden die Durchläufer wieder aufgelegt und laufen mit der hier üblichen, gemütlichen Geschwindigkeit zurück an den Fahrern vorbei, und dann noch einmal nach vorn. Dann sind hoffentlich nur noch die Pakete übrig, mit denen wirklich keiner was anfangen kann.
Dieses Procedere dauerte bis um neun Uhr. Zwei Stunden meiner wertvollen Zeit waren bereits den Bach runter und im Zugwind war mir doch etwas kalt. Beim DPD halten die Autos nämlich an Laderampen, das heißt sie stehen außerhalb des Gebäudes. Diese Rampen sind zum Beladen natürlich offen und es zieht wie im Affenstall.

Ein Blick in die Runde zeigte mir noch etwas: Es gibt hier keine Heizung. Das ist doch nicht zu glauben – der DPD stellt hier ein Depot auf, dieser Bau kostet 9 Millionen Euro, eine Million davon allein für die Bandanlage, die mittlerweile zum wiederholten Male ausgefallen ist, und bei all dem Investitionsluxus waren ein paar Peanuts für Heizstrahler nicht mehr drin??
Dazu muss man sagen, dass dieses Gebäude nicht aus Beton besteht, es handelt sich um eine bessere Wellblechhütte. Es gibt einen Betonsockel in Fußhöhe, natürlich, aber wenn ich mich dahin bücke, kann ich mit meinen Fingern unter dem Blech durch einen Spalt ins Freie fassen.
“Das ist menschenverachtend!” sagte einer der Fahrer, den ich darauf ansprach. “Letzten Winter waren es hier drin an einigen Tagen 15 Grad unter Null; wir haben hier mit drei Jacken gearbeitet!”
(Nach dem darauf folgenden Winter berichtete mir allerdings ein Fahrer, dass im Föhrener Depot mittelerweile Heizstrahler aufgestellt worden seien.)

Der Chef dort ist ein hemdsärmeliger Typ, der auf den ersten Blick weder wie der Chef noch sonderlich unsympathisch aussieht, aber wie es scheint, wird der auch mal rabiat, wenn ihm was gegen den Strich läuft. Als ich ihn das erste Mal sah, verscheuchte er eine Verdi-Mitarbeiterin vom Tor des Geländes, die Flugzettel an einfahrende Fahrzeuge verteilte. Allgemein las ich aus dem Klang seiner Stimme, dass es sich nicht um eine Person handelt, die viel Duldsamkeit besitzt. Eindeutiges Urteil für mich: Da würde ich niemals freiwillig arbeiten.

Aber gut: Irgendwann fragte mich der Disponent, wo ich mich denn auskenne und er beschloss, mich nach Gerolstein zu schicken: Mit einem ganzen Auto voller großer Pakete für insgesamt zwei Kunden. Die Kunden selbst kannte ich zwar nicht, aber ich kannte die Straßen. Danach sollte ich zurückkommen und eine Reihe von kleineren Paketen aufnehmen – allerdings in der Gegend von Gillenfeld, wo ich mich nun gar nicht auskenne. Kein Problem, hieß es, die Disposition gebe die Stoppreihenfolge vor, das müsse (und könne) der Fahrer nicht selber machen.

Um meine Aufgabe bewältigen zu können, bekam ich eine kurze Einweisung in den Scanner und ich durfte ohne DPD-Kleidung nicht einfach losfahren. Es gab zum einen kostenlose Hemden mit irgendeiner Werbung drauf, die besagte, dass man beim DPD umweltfreundlich fahre (vermutlich ist der DPD am Emissionspapierhandel beteiligt), aber die sahen bescheuert aus, also wählte ich ein Originalhemd vom DPD. Gutes Material. Zu dem Zeitpunkt ging ich noch davon aus, dass die etwas mehr als sechs Euro, die für diese Variante fällig waren, (zu zahlen vom Arbeitgeber, also Peter) eine Art Pfand oder eine Leih- und Reinigungsgebühr seien, aber später wurde mir dann klar, dass ich das Hemd käuflich erworben hatte und dass es nun unerwartet zu meinem Privatbesitz zählte. (Streng genommen war es Peters Besitz, aber der fragte mich nie danach.) Eigentlich intelligent, denn wenn die Leute für die Sachen zahlen, passen sie vielleicht besser darauf auf? Ich komme jedenfalls nicht umhin, zu vermuten, dass wir bei Transoflex in der Tat mit dem billigsten ausgestattet werden, was der Textilmarkt herhält.

Ich düste also nach Gerolstein hoch, leider nicht auf der schönen Strecke an der Kyll entlang, weil die Straße nördlich von St. Thomas immer noch gesperrt war. Stattdessen über Neustraßburg und rüber nach Densborn. Die zwei Kunden in Gerolstein waren schnell abgefertigt und ich ging was zu essen kaufen.

Der DPD-Scanner ist ein klobiges Ding und man bedient ihn natürlich ganz anders als das Motorolagerät bei Transoflex. Wählt man einen Kunden, erscheinen die Zahlencodes der zu liefernden Pakete auf dem Display. Scannt man den Barcode auf einem Paket, verschwindet dessen Zahlenreihe. Ist das Display also leer, hat man alle.
Die Tourreihenfolge kann man weder beeinflussen noch ablesen, wenn ich mich recht erinnere, wohin es als übernächstes gehen würde, blieb also im Dunkeln. Dabei genieße ich eigentlich gern den Vorteil, auf diese Dinge Einfluss nehmen zu können und gegebenenfalls Informationen vorgreifen zu können.

Zurück in Föhren bekam ich ein halbes Auto mit kleinen Paketen für eine Anzahl von Privatkunden in einem mir völlig unbekannten Gelände. Hängen und Würgen war da angesagt. Das Verfahren mit Kunden, die nicht zuhause sind, erklärte mir zum Beispiel erst jemand am zweiten Tag: Dafür gibt es nicht nur einfache Benachrichtigungszettel (von denen man mir keine mitgegeben hatte), sondern diese DPD-Zettel haben einen aufgedruckten Barcode, den man scannen muss, um die Benachrichtigung für das System zu aktivieren. Aber beim ersten Mal stand ich da und wusste nicht, was ich machen sollte.

Gegen Ende von Tag 1 erlöste mich der Scanner vom Stress: Die Batterie war alle und ein Ladegerät hatte man mir nicht gegeben. Also zurück ins Depot zum Abmelden. Dort stellt man sich in die Schlange der anderen Fahrer, die an einem Fenster und einem Tor vorfahren, um nicht ausgelieferte oder abgeholte Pakete abzugeben und um Quittungen für ihre Nachnahmesummen zu erhalten. “Den Beleg heben Sie bitte drei Monate lang auf”, sagte die Dame am Schalter später zu mir. Ich wartete in dieser Schlange über eine halbe Stunde lang – man sollte also wohl am besten als erster oder auf den letzten Drücker ankommen, weil man nichts machen kann, als dumm rumsitzen, wenn man keinen kennt, mit dem man sich unterhalten könnte.

Am Tag 2 hatte ich dann ja mehr Plan von der Sache: Ich kam gegen halb Neun, was keineswegs zu spät war, bekam ein Zustellungsgebiet, einen Scanner und Pakete zugeordnet, die schon da lagen, wo sie sein sollten, ich nahm einen Stapel Benachrichtigungszettel an mich und erfragte noch zwei, drei Bedienungsdetails, die mir am Vortag noch nicht ganz klar gewesen waren. Der Tag war anspruchsvoller als der vorherige, aber dank der gewonnenen Informationen und Erfahrungen war die Sache weit nicht ganz so stressig. Was an Stress blieb, ergab sich daraus, dass ich wieder mal wo unterwegs war, wo ich mich nicht auskannte, südlich und östlich von Hermeskeil.

Ich sah auch interessante Orte… zum Beispiel sah ich mal Züsch, wo einer unserer Stammkunden sitzt, auf einem Reiterhof, dessen Einfahrt unter LKW-Fahrern berüchtigt ist. Diese Einfahrt sah ich nun mit eigenen Augen und verstand endlich, was mit “der Dachkante” und “der Regenrinne” gemeint war.
Dann fuhr ich in einen Ort, der “Abentheuer” heißt, und ich fragte mich, warum ein Dorf in so schöner Lage touristisch nicht besser erschlossen wird. Die Klanggleichheit mit dem Wort “Abenteuer” drängt einem doch eingängige Werbeslogans geradezu auf: “Abentheuer erleben!”, “Willkommen im Abentheuer-Land!” und so weiter. Die Landschaft ist reizvoll und lädt zum Wandern und Entspannen ein.

Just in dieser Zeit schien Konrad das Glück hold zu sein: Er fand einen Job als Lagerist. Nicht in Luxemburg aber weit besser bezahlt mit geregelten Arbeitszeiten. Ich wünschte ihm alles Gute.
“Jetzt lernt meine Tochter endlich mal ihren Vater kennen!” sagte er und ging. Ohne die Runde Kaffee zu schmeißen, die er uns schuldete, nachdem er einmal quasi stoßseufzend gesagt hatte, er werde uns allen einen Kaffee ausgeben, wenn er mal keine Bodenleisten von der Firma Häfele in seiner Beladung haben würde. Diese Bodenleisten kommen in knapp armdicken, mehrere Meter langen Paketen, die manchmal nur knapp drei Meter haben, manchmal aber auch nur knapp noch in den Sprinter passen. Sie fliegen einem den ganzen Tag im Weg rum. Immerhin sind die Dinger nicht empfindlich. Dass wir die liefern, ist wohl der Überredungskunst der Transoflex Außendienstler zuzuschreiben, denn so mancher Schreiner hat darüber schon den Kopf geschüttelt:
“Das ist doch bescheuert! Grad eben war DHL mit den Paletten da, und jetzt kommst Du und bringst die Leisten extra!”

Ich vermisste Konrads Humor. “Pass mal auf, der ist in drei Monaten wieder da…” meinte Big M und grinste dazu, als habe ihm die Vorsehung Einblick ins Schicksalsbuch gewährt. Ich war mir mit Puck einig: “Warum sollte er so blöd sein??”

Aber kurz vor Weihnachten war Konrad tatsächlich wieder da. War er so blöd?
“Was machst Du denn wieder hier?”
*grunz*
Hm… der machte ein wirklich düsteres Gesicht.
“Wie geht’s Dir denn?” fragte ich vorsichtiger.
“Besser.”
Scheinbar war ihm gleich am “ersten” Tag nicht nach Reden. Ich ließ ihm Zeit.
Irgendwann kam er dann heraus damit. Der neue Job hatte an sich gute Konditionen, aber es handelte sich um ein Lager für Lacke und Lösungsmittel – und wie es scheint, lösten die allgegenwärtigen Dämpfe eine allergische Reaktion bei ihm aus.
“Wenn ich da schon reinkam, hatte ich das gefühl, mir hätt einer eine mit ‘nem Vorschlaghammer verpasst.”
Schließlich hörte er, dass in den letzten Jahren bereits zwei Mitarbeiter an Krebs gestorben seien, da habe er sich große Sorgen gemacht, aber der Tropfen, der das Fass zum überlaufen brachte, war tatsächlich ein solcher: Ein Spritzer Lösungsmittel traf ihn am linken Arm.
“Mir ist die Haut vom halben Oberkörper abgefallen!” erzählte er und zeigte mir die Restwunde am Unterarm: So stelle ich mir eine Napalmverbrennung vor.

Zu diesem Zeitpunkt war Big M schon nicht mehr bei uns. Seine Migräne und seine Blutungen waren nicht zu stoppen und er hatte sich telefonisch krank gemeldet. Nach seinem Unfall hatte er mir die Krankenscheine durch einen Fensterspalt ins Auto geworfen, aber diesmal unterblieb das. Peter fragte mich, ob ich da was wüsste, aber Big M war nicht erreichbar, ich konnte ihm nichts sagen. Als ich Big M mal traf, sagte der, er habe das Attest per Post an Peters Adresse geschickt, aber der hat es scheinbar nie bekommen. Unsere Leute waren regelmäßig im Verzug, was die Einsendung ihrer ärztlichen Krankenbescheide betraf – was soll der Arbeitgeber da denken?
Peter ist in dieser Hinsicht tolerant, wie es scheint, aber das Schicksal holte Big M auf ganz andere Art und Weise ein: Jemand sah ihn im Blaumann auf einem Werkstattgelände in Euren, und dieser Jemand war ein Bekannter von Mike. Mike erfuhr also von der Schwarzarbeit, dem entsprechend erfuhr es auch Peter und Big M wurde fristlos gefeuert.
Mike ist ein Musterbeispiel an effektivem Networking. Der kennt alle und jeden und jeder trägt ihm Informationen zu. So rief er mich eines Abends an, als ich schon ins Bett gehen wollte und teilte mir mit, dass ich die Seitenscheibe vom Auto nicht hochgefahren hatte – einer seiner Informanten war vorbeigefahren, hatte das Auto erkannt und die Information an Mike weitergeleitet. Unglaublich.

Big M hatte nicht nur die Firma verlassen, er machte sich auch sonst rar. Im Sommer hatte er mindestens zweimal pro Woche bei mir am Tisch gesessen, um zu reden oder zu spielen. Nach seinem Abgang war es schwer, geradezu unmöglich, ihn zu fassen zu kriegen. Zum einen schuldete er mir noch 50 E und zum anderen hatte er noch ein Buch von mir, dazu noch eines, das ich für meine DSA-Gruppe selbst geschrieben hatte, das war viel wertvoller als 50 E. Er war nie zuhause, rief nie zurück, kam auch nicht vorbei. Ich schrieb ihn fast komplett ab.

Den Kleinen erwischte es Ende Sommer ähnlich. Der hatte sich Ende Frühjahr eine Steißfistel eingefangen. Unangenehme Sache, ich hatte selbst mal eine. In der Regel dauert der Heilungsprozess vier bis sechs Wochen, in meinem Fall waren es acht Wochen, in denen ich krank geschrieben war, weil es ein paar Komplikationen gab. Die Wunde muss von innen nach außen zuwachsen, weil sich sonst ein Hohlraum bildet, der ein neuer Infektionsherd werden kann und so weiter. Beim Kleinen dauerte es über drei Monate, bis er wieder zur Arbeit kam. In dem Zeitraum hatte er sich gegen einen Aufhebungsvertrag wehren müssen, den Peter ihm vorgeschlagen hatte – was eigentlich gegen die guten Sitten verstößt. Der Kleine solle selbst kündigen, und wenn er auskuriert sei, werde man ihn sofort wieder einstellen. Nun kommt der Kleine aus einer Familie, die nichts am Lappen hat – wovon soll er leben? Zuletzt lief es darauf hinaus, dass er bei halbem Gehalt mit Krankenschein zuhause blieb.
Als er dann wieder da war, lief die Sache nicht mehr wirklich rund. Er hatte weiterhin Schmerzen und nahm dagegen irgendwelche Schmerzmittel. Allerdings nicht solche, die Otto Normaldosenbiertrinker gegen Kopfschmerzen nehmen würde, sondern echte Bomben mit 500 mg Wirkstoff pro Tablette oder sogar mehr. Er sagte, die schwächeren hätten keine Wirkung. Da fragte ich mich doch, ob er sich im Laufe seiner Krankheitsgeschichte der letzten Jahre nicht irgendwo ein Suchtproblem eingefangen hatte. Nicht zu seinem Ruf trug auch eine Information bei, die irgendwoher gekommen war: Man hatte ihn am Steuer eines Wagens gesehen, wie er mit irgendwelchen alten Leuten herumfuhr. Er beteuerte, er gehe keiner Schwarzarbeit nach, sondern habe im Rahmen einer ehrenamtlichen Aufgabe für eine gemeinnützige Organisation lediglich einmalig ein paar Leute von A nach B gefahren.

Als der Steiß wieder sitzen konnte, wurde es ein Backenzahn, der klopfend auf sich aufmerksam machte. Der Kleine arbeitete weiter, fuhr in der Trierer Innenstadt und nahm seine Bomben. Das vernebelte ihm scheinbar in einem Maße die Sinne, dass er Dutzende Kunden wieder mitbrachte. Er sagte, die Medikamente machten ihn schläfrig und er habe lieber eine Pause eingelegt. Peter schickte ihn nach Hause und die Kündigung gleich hinterher. Und das mitten in der Vorweihnachtszeit. Als ob das Jahr nicht schon beschissen genug gewesen wäre…

10. März 2013

Gaytal-Kamikaze (Teil 15)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 17:46

Rudi war also gegangen, den Kleinen plagte noch sein Steiß, zwischendurch hatte Felix Urlaub und auch Big M bekam neue Probleme: Er klagte immer wieder über Migräneanfälle, manchmal bekam er Nasenbluten, ohne, dass irgendein besonderer Grund auszumachen gewesen wäre.
Als Idee, was mit Big M anzufangen wäre, wenn denn ein anderer Wittlich fährt, wurde er an einem Tag mit mir zusammen ins Auto gesetzt und bekam die Südwesteifel zu sehen. War ein guter Tag, hat Spaß gemacht, zumindest die meiste Zeit. In Irrel überredete er die Fleischwarenfachangestellte der Metzgerei Schares, uns beiden je eine gebratene Frikadelle für insgesamt 2,40 E zu geben (was nur 10 Cent pro Stück unter dem Preis ist, den ich ohne Schwatzen bezahlt hätte) und in Echternacherbrück fand er es witzig, wie ich angesichts des Fehlens meiner Lieblingsmarke Orangensaft bei NORMA lieber blankes Wasser trank. Er erzählte das auch gleich mehreren Leuten im Laufe der folgenden Tage, wobei er immer mehr Verstimmung in seine Darstellung meiner Stimme zu legen pflegte, als von mir tatsächlich vorgenommen oder zumindest beabsichtigt.

Er hatte aber weiterhin gesundheitliche Probleme. Das schaltete ihn hier und da für einen Tag oder auch mal länger aus. Mike mutmaßte, dass Big M blaumachte, so wie Mike jeden zu verdächtigen pflegte, der länger als einen Tag krank war – das einzige Verhalten, das mich an Mike wirklich störte. Dabei gab es Zeugen. Sowohl Elmo als auch Puck hatten bei verschiedenen Gelegenheiten an verschiedenen Tagen beobachtet, wie Big M plötzlich Blut aus der Nase lief, Elmo war es schließlich, der ihn dazu überredete, mal zum Arzt zu gehen. Big M verbrachte sogar ein paar Tage zur Beobachtung im Krankenhaus. Ich wollte ihn besuchen, fand aber das richtige Haus nicht. Ich bin auch nur ein Laie, aber ich vermute, dass seine Symptome auf den Stress zurückzuführen waren. Natürlich hat man in einer Kfz-Werkstatt ebenfalls Stress, aber es handelt sich um eine andere Art von Stress. Ich nehme an, dass das ständige Gerenne nichts für einen übergewichtigen Typen wie Big M war und ist, dass es sich also um den Preis handelte, den er dafür zahlte, in der Regel knappe zwei Stunden früher daheim zu sein als ich.

Ein Abgang wurde sogar mit positiver Erleichterung aufgenommen: Konrad verließ uns, er hatte einen Lagerjob gefunden, der ihm das doppelte Einkommen und geregelte Arbeitszeiten bescherte. “Jetzt lernt meine Tochter endlich mal ihren Vater kennen!” sagte er dazu, und das war wohl keine Übertreibung. Die Tochter war gegen Ende Mai 2011 geboren worden und ich erinnere mich noch, dass ich aufgefordert wurde, die Glückwunschkarte zu unterzeichnen, obwohl ich noch keinen Dunst hatte, um wen es ging.
Wir wünschten ihm alles Gute. Ich brachte Big M die Mitteilung, der nur grinste und sagte: “Pass mal auf, der ist in drei Monaten wieder da.” Warum sollte er sowas tun?

Die Morbacher Tour ist kein Zuckerschlecken. Da steckt zwar viel Überlandfahren drin, und ich mag ja Landschaft (im Gegensatz zum Stadtbild), aber Morbach selbst ist ein Hexenkessel. Wie soll man das anders nennen? Das Städtchen hat 18 Ortsteile, deren Bewohner fast alle stolze Morbacher sind, die es nicht einsehen, zur Erleichterung der Arbeit der Lieferdienste den Namen des jeweiligen Ortsteils in die Adresse zu schreiben. Die schreiben dann einfach “Morbach” und unsereins muss sich dann die Lage der Straßen merken und sie der richtigen Gegend zuordnen. Kein Zuckerschlecken. “Das Leben ist kein Ponyhof!”

Wie dem auch sei: Es gab kein Sommerloch in diesem Jahr 2012 und wir ackerten mindestens so viel, wie zu “normalen” Zeiten. Wir brauchten neue Leute.

Mike, der jeden kennt (und bei Leuten, die er nicht kennt, kennt er welche, die die kennen), brachte einen neuen Fahrer für die Wittlich-Tour mit und war begeistert. Der Typ kannte die Tour und viele Kunden bereits mit Namen. Big M machte sich erneut Sorgen um seinen Job – ich hatte das im Teil 10 schon einmal kurz erwähnt. Den neuen Wittlicher Fahrer will ich aus Verschleierungsgründen mal “Brötchen” nennen.
Brötchen fuhr seine Tour ordentlich. Nicht rekordverdächtig, aber ordentlich. Seine Einteilung in Samstagsdienste war nicht ganz einfach, weil er ohnehin immer wieder tauschen musste, er ist nämlich Musiker bei einer Band, die Deutschrock spielt. Coverband, aber immerhin, und das mit soviel Hingabe, dass er den Namen der Band auf dem Unterarm tätowiert hat. Er spielte auf kleineren Konzerten und war immer dabei, wenn’s um Musik ging. Leider hat er auf mein Anliegen, mal eine Demo-CD zu besorgen, nie reagiert.

Leider führte seine Band- und Konzertfixiertheit allerdings auch dazu, dass er gleich seinen ersten Wochenenddienst verpennte. Mike und Konrad warfen daraufhin die beiden Touren zusammen (damals Konrads letzter Samstagsdienst) und fuhren gemeinsam eine große Runde.
Brötchen legte generell eine etwas zu lockere Arbeitsauffassung an den Tag. Dies machte sich mehr in seiner Disziplin bemerkbar und nicht so sehr in seinem Verhalten gegenüber den Kollegen. Mir zumindest ging er nicht auf den Keks, obwohl ich mir schon gewünscht hätte, er würde mehr Ordnung an den Tag legen. Nun ja, man muss seine Arbeitstätigkeit, die sich immerhin bis in den Herbst zog, nicht weiter groß auswalzen, ich beschränke mich dann einfach darauf, wie sie endete: Nachdem er ja immer wieder mal einen Fehltag gehabt hatte, meldete er sich irgendwann für mehrere Tage ab; er sei beim Aussteigen an der Bordsteinkante umgeknickt und könne nicht gut laufen. Okay, für mich kein Grund, ihm etwas zu unterstellen. Was Peter am Abend allerdings auf Facebook las, fand er in seiner Funktion als Arbeitgeber nicht so witzig: Brötchen veröffentlichte dort einen Kommentar, in dem er fragte, wer denn sonst noch so in “die Luke” komme. (“Die Luke” ist “Lucky’s Luke”, eine Art Kneipe in Trier, aber es kann auch ein anderes Lokal sein, es ist eine Weile her und die Erinnerung schwindet.) Ja, Brötchen, das war sicher schlau. Peter schickte ihm dem Screenshot und sagte, das sei ja interesant, was er da schreibe. Brötchen versuchte sich rauszureden, dass er nur gefragt hatte, wer denn dorthin gehe, da stehe ja kein Wort davon, dass er selber hingehe oder dort sei. Peter kaufte ihm das nicht ab (und ich auch nicht) und kündigte ihn mit Verweis auf den überfälligen Krankenschein fristlos.

Etwa zeitgleich kam ein anderer Typ von UPS zu uns, der die Morbacher Tour übernehmen sollte. Den nenne ich “den Kahlen”, in Anlehnung an seine nicht vorhandene Frisur. Andere nannten ihn “Pimmelkopf”, aber das ist mir zu vulgär.
Der Kahle machte den Job ebenfalls ordentlich und arbeitete auch noch am Wochenende als Türsteher, weil er scheinbar das Geld brauchte und noch Energie für’s Wochenende übrig hatte.
Ich fand ihn ganz lustig, ich mochte seinen Humor, auch wenn er ernsthaft einen an der Klatsche hatte. Kam mir vor wie der kleine Bruder eines Berliner Freundes. Dessen Mimik und Körpersprache (und Frisur) ist etwa die gleiche, wenn auch weniger zur Albernheit neigend. Leider hatte auch der Kahle seine Probleme, denn er musste ja ebenfalls alle paar Wochen am Wochenende ran. Er warf dann auch schonmal Termine durcheinander und kam an “seinem” Samstag eine Stunde zu spät oder verpasste seinen Wochenenddienst komplett. Auch schien er anfällig für Krankheiten: Er fiel mehrfach wegen Erkältung, Kopfschmerzen oder schmerzender Glieder aus. Auch er gab mir keinen Grund, an seiner Aussage zu zweifeln, schweres Husten, laufende Nase, gerötete Augen, geschwollener Kopf – alles, was man nicht braucht. Allerdings kostete ihn die Verschleppung des ofiziellen Attests ebenfalls den Job, nachdem er ihn ein paar Monate gemacht hatte.

Sein ebenfalls zu uns gewechselter UPS-Kollege “Stranski” dagegen blieb. Der sagte, er wolle dem Stress bei UPS entkommen und war irgendwie auf dem Radar von Mike aufgetaucht, der ihn kurzerhand abwarb. Stranski übernahm die Bitburger Tour und erwies sich in vieler Hinsicht als neuer Kalaschnikow. Er war immer als erster Fahrer da: Um vier Uhr morgens. Er könne eh nicht schlafen, und wenn er so früh komme, gebe ihm das genügend Zeit, alles vorzubereiten. Also mir reicht da auch die halbe Zeit, aber wenn er meint… ich war einmal eine Minute vor ihm da: Da hatte ich die Zeitumstellung verschwitzt und war eine Stunde zu früh aufgestanden.
Wenn dann das Band auslief und alle Pakete von den Paletten runter waren, hatte der sein Auto fertig geladen, nahm sich seine Papiere und fuhr vor acht Uhr morgens los.

Meine eigene Tour war mittlerweile zu sehr gewachsen, als dass ich das noch geschafft hätte. Anfang Sommer 2012 war das noch so. Da dachte ich noch: Jetzt hast Du’s geschafft. Meine Abläufe waren effizient, ich kam zwischen 0750 und 0815 aus dem Depot raus und war zwischen 1500 und 1600 zuhause. Gute Zeiten. Ich kam sogar in die ganz ungewohnte Zwickmühle, ZU FRÜH in Neuerburg fertig zu sein, ja: zu früh. Das hieß um etwa halb Eins. Ich musste immer wieder entscheiden, ob ich tatsächlich nach Daleiden fahren würde, um den Apotheker dort vor dessen Mittagspause zu erwischen, oder ob ich die Ecke 3DI ignorieren sollte, um die Apotheke Waxweiler vor deren Mittagspause zu erreichen – je nachdem, wer mehr Pakete bekommen sollte.
Diese Entscheidung trieb ganz seltsame Blüten. Manchmal hatte ich um zehn vor Acht meine Papiere in der Hand und konnte anhand meiner Fracht abschätzen, dass ich in genau solche Schwierigkeiten mit diesen beiden Mittagspausen kommen würde; also ging ich ins Verschlusslager und quatschte noch bis 0815 mit Antonius, weil ich dann in Waxweiler eine Punktlandung zum Ende derer Mittagspause hinlegen könnte.

Doch die Dinge änderten sich. Auch nach Knuts Urlaub blieben Kordel, Welschbillig, Newel, Trierweiler, Ralingen und Welschbillig bei mir. Dafür gingen Zemmer, Orenhofen und Speicher endgültig an die Bitburger Tour. Die Bitburger Tour selbst wuchs und bald waren die Dörfer westlich von Bitburg nicht mehr zumutbar. Die kamen dann auch zu mir. Oberweiler, Brecht, Baustert, Oberweis, Bettingen, Messerich, Röhl, Sülm, Trimport, Dahlem, Idenheim, Idesheim wurden Teil meiner Standardtour. Diese Orte hielten zwar nicht immer alle einen Kunden für mich bereit, aber alles in allem steckte dort eine Stunde mehr Arbeit am Tag für mich drin. Der Feierabend verschob sich also unwiderbringlich auf nach 16 Uhr vor, trotz organisatorischer Gegenmaßnahmen meinerseits.
Früher hatte ich solche Orte mit einem schnellen Abstecher von Mettendorf oder Neuerburg aus abgehandelt, in Waxweiler hatte ich aber den letzten Kunden, ich fuhr bei Plütscheid auf die Autobahn Richtung Wittlich und düste nach Hause.
Damit war nun Schluss. Nach Waxweiler fuhr ich über Krautscheid nach Weidingen, dann Baustert, Oberweis, Bettingen, weiter nach Peffingen und Holsthum, Dockendorf, Wolsfeld und Meckel, von dort aus über Gilzem oder Idenheim nach Idesheim und schließlich nach Welschbillig. Eine Stunde mehr Arbeit, weil auch ein Superfahrer wie Stranski nicht mehr als 80 bis 85 Kunden an einem Tag fahren konnte. Ich schaffte gerade mal 60, und 60 Kunden bedeuteten, dass ich gegen sieben Uhr abends nach Hause fand.

Stranski war also schnell und gründlich, zwei Eigenschaften, die selten in einer Person auftreten, zumindest in unserem Geschäft. Leider war er wie auch sein Vorgänger Kalaschnikow nicht in der Lage, zu erklären, wie er das schaffte. Ich muss daher versuchen, meine eigenen Beobachtungen zu analysieren, und da fallen mir nur zwei Dinge wirklich auf.

Zum einen das Laden des Transporters. Stranski verliert nicht viel Zeit mit Sortieren. Der weist quasi einer Hauptstraße (in Bitburg zum Beispiel die Saarstraße) eine Querreihe in der Ladefläche zu, das gleiche gilt für mehrere Nebenstraßen, die zusammen sowas wie eine Reihe bekommen. Er stapelt dann unabhängig von der Reihenfolge so auf, dass die Ladesicherheit gewährleistet ist und sucht dann aus diesem “Mauerstück” die Teile aus, die er beim jeweiligen Kunden braucht. Das kostet ihn scheinbar weniger Zeit, als er durch gründlicheres Einladen (meine Devise: Ein Blick und das Paket ist gefunden) verlieren würde. Ich finde das Verfahren erstaunlich, aber auch gefährlich. Wenn ich durch einen Zufall ein Paket zu scannen vergesse, muss ich das halbe Auto wieder ausräumen, und ähnliches gilt, falls in einer Sendung ein Doppellabel vorkommt (was glücklicherweise selten ist). Aber er fährt gut damit. Das sollte ich mir abgucken und muss dafür beim Beladescan sehr aufmerksam sein.

Zum anderen scheint Stranski viel zu laufen. Kelvin hatte seinen Job schon im Laufschritt erledigt, was ich nicht einsehe, schon gar nicht im Sommer. Ich gehe mit zügigem Schritt, aber ich laufe nicht, denn ich will nicht völlig verschwitzt vorm Kunden stehen, wenn es sich vermeiden lässt. Stranski scheint zu rennen. Ich kam zum Beispiel in Bitburg vertretungsweise zu Hela. Der Mitarbeiter der Warenannahme war gerade damit beschäftigt, Paletten zu stapeln und ein paar Dinge auf dem Hof zu reorganisieren, um Platz zu schaffen. Ich machte auf mich aufmerksam, er winkte mich nach drinnen, ich brachte das eine Paket ins Gebäude hinter das Rolltor und wartete. Nach einer knappen Minute kam der Mitarbeiter und zeigte sich ganz erstaunt.
“Was? Mal einer von Euch, der Zeit hat? Dein Kollege ist ständig nur am Hetzen.”
Was ich nicht zu tun bereit bin, ist, Leute zu drängen. Damit macht man sich nur Feinde, denn es fördert die gegenseitige Abneigung. Lieber mal kurz warten, die kommen schon, sobald sie Luft haben. Kostet natürlich Zeit.

Vielleicht könnte ich mir auch diese Verfahrensweise angewöhnen, aber ich will es nicht. Nicht zuletzt deshalb, weil ich nicht das Gefühl habe, dass Geschwindigkeit belohnt wird. Ich kann keinem empfehlen, vor 16 Uhr nach Hause zu kommen. Das Management wird das merken und sich denken: “Aha, der ist schnell – dem können wir mehr Stopps geben.” Und schon hat man mehr Arbeit. Da diese Stopps nicht aus der Luft gezaubert werden, bedeutet dies, dass die Arbeitslasten wenn möglich sozialisiert werden. Die schnelleren Fahrer entlasten damit die langsameren an deren Peripherie. Das ist natürlich nicht so ganz das, was sich so mancher vorstellt, vor allem, wenn er vorher für ein Unternehmen gearbeitet hat, in dem die Tourgebiete in Stein gemeißelt sind – anders als bei uns, wo man zwar ein Gebiet zugeteilt bekommt, wo aber auch die Devise gilt: Was morgens auf Deinem Scanner steht, IST Dein Tourgebiet. Da gibt es kein “da fahr ich nicht hin, das ist nicht mein Gebiet!”
Es hängt also vom Beobachter ab, ob dieses Verfahren begrüßenswert ist oder nicht. Ich jedenfalls empfehle neuen Fahrern, sich Zeit zu lassen, sobald sie merken, dass sie dauerhaft vor 16 Uhr zuhause sein können.

Im Falle meiner eigenen Tour hatte mein Zuwachs an Arbeit natürlich andere Ursachen, denn wie ich sagte: Stranski ist ein super Fahrer, ebensolches gilt für Knut. Das Ausufern der Paketbestellungen in deren Gebieten sorgte dafür, dass ich Teile ihrer Gebiete übernehmen musste. Und die nächste Vorweihnachtszeit rückte mit schnellen Schritten näher.

Gaytal Kamikaze (Teil 14)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 12:42

Die Zeit trübt jede Erinnerung und viele, viele Einzelheiten sind bereits verloren gegangen.
Ich glaube, im Fluss der Beschreibungen, was in meinem Arbeitsleben so läuft, war ich zuletzt etwa am Ende des zweiten Quartals 2012 angekommen, und um die Ereignisse der Zwischenzeit nachzuvollziehen, existiert nur eine Sammlung von Stichwörtern. Ich glaube, ich wollte zuletzt noch über Rudi und seinen Abgang sprechen, den marokkanischen Araber mit dem Hang zum religiösen Konservatismus, um es freundlich auszudrücken.

Um die Entwicklung kurz zu rekapitulieren, wie sie bereits im Teil 10 der Reihe Gaytal Kamikaze beschrieben ist: Rudi kam im Frühjahr zu unserer Truppe und wurde dem Bitburger Bereich zugeteilt, das heißt, er stand am Beginn des Paketbands zwischen mir und den Bandauflegern und er lernte den Job von Bert, der Konz-Saarburg übernehmen sollte, weil er da unten in der Gegend wohnt. Rudi befand sich also in der Einarbeitungsphase, und jeder würde auch heute noch einsehen, dass neue Leute mehr Verständnis und Unterstützung brauchen. Ich versuchte also, ihm die Prinzipien beizubringen und in welcher Reihenfolge man die notwendigen Dinge morgens tut, um effizient zu arbeiten.
Erstens nimmt man Pakete vom Band.
Zweitens verpasst man ihnen einen Beladescan.
Drittens stapelt man sie in Reihenfolge ihrer vorgesehenen Beladung.
Viertens lädt man die Pakete ins Auto.
Fünftens setzt man die Stoppliste, also die Reihenfolge der Kunden, fest.

Irgendwie kam das nicht alles bei Rudi an. Dass er lange für seine Tour brauchte, war am Anfang klar. Während der ersten paar Wochen braucht jeder lange, aber in der Regel stellt sich irgendwann Routine ein und man kommt durch Hilfe von außen und durch eigenen Verstand auf Verbesserungen, die die tägliche Arbeitszeit verkürzen.
Nur nicht bei Rudi. Der fuhr auch nach drei Monaten noch fast so lange wie am ersten Tag und war immer am jammern, dass er das nie schaffen werde.
“Der Kurde hat zwischendurch noch ein Nickerchen gemacht und war trotzdem um drei Uhr fertig!”
“Wer ist dieser Kurde? Das ist UNMÖGLICH! Ich werde NIE vor fünf zuhause sein!”
Aber gut, ich bin ja kein Unmensch und unterstützte ihn weiter, so gut es ging, indem ich zum Beispiel Pakete für ihn vom Band nahm, während er Pakete stapelte, einräumte, oder seine Stoppliste bearbeitete. Ich betete die Prioritätenliste mehrfach hoch und runter. Ergebnislos. Er machte die Dinge weiter so, wie er sie für richtig erachtete, auch wenn es nicht richtig war, was er tat. Er war davon überzeugt, alles richtig zu machen – und dass es andere Umstände waren, die seinen Tag verdarben… oder andere Leute.

Wohl auch durch den Stress, den er hatte (und den er sich selber machte), wurden seine Nerven nicht besser, bis er sie nach und nach verlor. Er war zunehmend unhöflich zu Kollegen: Wenn etwas nicht lief, wie er das wollte, wurde er gegenüber den Damen in der Ablaufkontrolle durchaus schon mal “unwirsch”. Auch gegenüber Kunden – einer meiner Tierärzte, den er vertretungsweise beliefert hatte, nannte es sogar “frech wie Rotz”: “In der Zeit, die meine Frau brauchte, um vom Esstisch aufzustehen und zur Haustür zu gehen, hatte der schon zweimal geklingelt und dann wurde er auch noch frech, dass man gefälligst Verständnis dafür haben solle, dass er wegen Ramadan nichts essen und trinken dürfe – als ob wir was dafür könnten.”
Da war Rudi bei Frau S. natürlich an die falsche geraten, denn die ist das, was man im maskulinen Volksmund wohl “einen Besen” nennt. Ich habe auch ein paar Monate gebraucht, bis ich sie aufgetaut bekommen habe.

Toppen wir nun den “bislang krassesten Fall”, wie er in Teil 10 dieser Reihe beschrieben wurde. Damals hatte er Laubschi ja mit einer unglücklichen Wortwahl dazu aufgefordert, seine Pakete aus der Ecke mit den Irrläufern zu nehmen. Das geht noch besser: Als er mal spät dran und als einer der letzten Fahrer noch im Depot war, machte er Musik im Auto an und beschallte die Halle mit irgendetwas Arabischem. Unsere Transohex war davon gar nicht begeistert, sie wollte in Ruhe ihre Arbeit im Verschlusslager machen und forderte ihn auf, “das Gedudel” abzuschalten. Daraufhin soll er sowas gesagt haben wie “Fick Dich!”
SOLL er gesagt haben. Transohex Laubschi ging damit sofort zum Chef R., der bestellte Rudi ein und wollte hören, was der dazu zu sagen habe. Rudi stritt alles ab und man hört, er habe auf Allah geschworen und gesagt, er könne das unmöglich gesagt haben, weil es nicht Teil seiner Kultur sei. Schließlich sei er auf den Trichter gekommen, eine Verschwörung gegen sich zu vermuten. Eine Verschwörung, die er nicht fürchte, weil man sich nur vor Gott fürchten solle (er sagte dies auch bei anderen Gelegenheiten, bei denen er sich ungerecht behandelt fühlte, öfter und reckte dabei immer ominös den Zeigefinger gen Himmel). Vielleicht hätte man seiner Paranoia einen Funken Glauben schenken können, wenn es nicht mindestens einen Ohrenzeugen seines Ausbruchs gegeben hätte. Big M war in seinem Wagen zu Gange und hatte die Sache gehört, allerdings hat er zu spät erfahren, dass ein Termin bei R. angesetzt worden war.

Aber er kündigte auch an, er werde nicht mehr lange bleiben. Im Frühsommer sagte er einmal, er werde im Dezember nach Irland gehen, um dort im Rahmen eines Praktikums seine FH-Abschlussarbeit zu verfassen. Aha!? War mir gar nicht klar, dass er Englisch konnte. Aber ich hatte auch keine Gelegenheit, diesbezüglich etwas festzustellen.

Mit seinem Verhalten brachte er fast jeden gegen sich auf, vielleicht mit Ausnahme von Bert. Und meiner Wenigkeit. Ich räumte vorerst weiter Pakete für ihn ab und half ihm, wo ich konnte, obwohl er mir langsam auf den Keks ging. Ich fuhr meine Unterstützung langsam zurück, indem ich auch Pakete durchlaufen ließ, worauf er sich lauthals darüber beschwerte, dass ich ihn im Stich ließe. Bert redete ruhig, Mike eher ungehalten mit ihm: “Sei froh, dass Du neben Dominik stehst, jeder andere hätte Dir bereits in den Arsch getreten!” Mike hatte Recht – denn ich investierte jeden Tag mehr als 15 Minuten meiner eigenen Zeit in seine Aufgaben. Aber diese Unterredung mit Mike führte dann dazu, dass er endgültig zu der Meinung kam, Mike und ich seien die Köpfe der Verschwörung gegen ihn, und dass wir ihm absichtlich immer mehr und mehr Pakete auf die Tour disponierten, um selbst noch früher Feierabend und ihn fertig zu machen. Er ging in seiner egomanischen Verblendung sogar soweit, laut zu vermuten, dass nur er allein so lange fahren müsse und dass alle anderen um drei oder halb vier spätestens zuhause seien. Dieses Selbstmitleid kotzte mich zunehmend an.

Der Höhepunkt trat im Zuge des Ramadan ein. Er machte wie üblich alles so, wie er allein es für richtig hielt – und setzte sich irgendwann mit gequältem Gesichtsausdruck auf die Ladefläche seines Transporters.
Gesichter machen, ja, das kann er, wenn ich das noch schnell einschieben darf. Wir hatten da mal einen Vortrag von Peter, der sich darüber beklagte, dass sich Fahrzeugschäden gehäuft hatten. Er sprach niemanden direkt an, jeder, der einen Lackschaden verursacht hatte, wusste, dass er gemeint war. Es ging um fünf oder sechs Leute. Ich war dabei, Rudi war dabei. Der aber stand da… wie soll ich das beschreiben? Er lehnte sich stehend an die Wand, die Stirn am erhobenen Unterarm, und machte ein Gesicht wie das Leiden Christi, wie man so schön sagt. In seinem Fall vielleicht: “Allah, warum prüfst Du mich so?” Ich hätte fast lachen können damals.
Während er also so da saß, auf seinem Trittbrett, wie nach einem Marathonlauf, lief ein Bitburger Paket nach dem anderen durch. Ich machte ihn darauf aufmerksam und fragte, was er da mache. Er ging sofort in die Luft und sagte, ich sei ignorant und noch andere Dinge, die ich im Detail vergessen habe. Nicht vergessen habe ich, wie er schließlich sein Ego aufblähte, dass es kaum mehr in die Halle passte: “Ich bin ein richtiger Mann! Ich bin nach Deutschland gekommen, ohne Verwandte, ich habe Deutsch gelernt und hier studiert! Das habe ich geschafft!” (Ich habe bis heute nicht verstanden, was das mit der damaligen Situation zu tun hatte.)
“Ja, schön… ich bin nach Japan gegangen… ohne Verwandte, ich habe Japanisch gelernt und auch dort studiert… warum glaubst Du eigentlich, Du seist was Besonderes?”
“Ich lasse mich hier nicht unterkriegen! Ich bin ein richtiger Mann!”
(Ich GLAUBE, dass er das mit dem “richtigen Mann” auch so meinte, dass er als Einziger mutig gegen Unrecht ansprach, während alle anderen Fahrer sich angstvoll unter das kapitalistische Terrordiktat duckten – oder so ähnlich.)
“Du willst ein richtiger Mann sein? Dann arbeite doch mal wie einer! Bislang arbeitest Du eher wie ein kleines Mädchen! Ich muss auch Leistung bringen, wenn ich mal nen schlechten Tag habe!”
Peter kam in diesem lauten Moment dazu, zog meine Aufmerksamkeit auf sich und sagte zu mir, ich solle noch heute durchhalten, ab morgen werde sich da was ändern.
Der Moment war sogar so laut geworden, dass Leute, die mich seit meiner Einstellung kannten, direkt erstaunt darüber waren, dass ich mich auch aufregen konnte.

Nun ja… es ging bereits länger das Gerücht, dass Rudi gehen müsse, nicht zuletzt wegen seiner Querelen mit Kunden, und mein Tierarzt war nicht der einzige, der sich über ihn beschwert hatte. Fast jeder wusste, dass Rudi nicht über seine Probezeit hinaus beschäftigt werden würde; nur Rudi wusste es nicht – und Peter war der einzige, der nicht wusste, dass es bereits jeder andere wusste. Irgendwie eine seltsam lustige Situation.
Der Tag darauf: Rudi wurde morgens, nachdem er das Auto in die Halle gestellt hatte, von Peter einbestellt. Rudi fiel aus allen Wolken, das hatte er nicht kommen sehen. Wie hätte er das auch kommen sehen können, so geblendet von seiner eigenen Selbstüberzeugung?
Das traf ihn so hart, dass er, wie mir Octavia erzählte, am Nachmittag erneut vor der Halle auftauchte, in der Hoffnung, Peter vorzufinden, um ihn zu bitten, seine Entscheidung rückgängig zu machen. Muss ihn einige Überwindung gekostet haben, seinen Stolz für diesen Auftritt einmal zu schlucken. Peter ließ sich allerdings nicht sehen und unsere Damen waren allesamt froh, dass er endlich weg war. Und Mike bekam noch einmal Mordgedanken, als er Rudis Transporter ausräumte: Da fanden sich Dutzende Abholbelege, die Rudi eigentlich als Quittung an Kunden hätte abgeben sollen und ein halbes Dutzend PET-Flaschen voller Pisse, die Rudi zwar gefüllt, aber nie entleert und entsorgt hatte.

Zwischendurch hörte man Gerüchte, er sei als Promoter zu einem bekannten Elektronikdiscounter gewechselt. Ich weiß nicht, ob ich dem Gerücht Glauben schenken kann, denn Rudi hat keine Persönlichkeit oder Einstellung, die für den Kundendienst – ganz zu schweigen von Werbung – in auch nur der geringsten Weise zu gebrauchen wäre.
Man hörte auch von Versuchen, als Fahrer bei DPD und GLS zu landen. Beim DPD sei er über zwei oder drei Probetage nicht hinausgekommen und bei GLS habe er es verschissen, weil er sich zu realitätsfremd gab, wie man sagen könnte. Hier also die Geschichte, die ich gehört habe:

Er hatte sich bei GLS beworben, die damals noch aus dem Saarland hochgefahren kamen, um Trier zu bedienen. Er wurde einem der Trierer Fahrer als Praktikant zugeteilt und wurde von diesem gewissermaßen an der Haustür abgeholt. Aus irgendeinem Grund kam er zu der Meinung, dies würde für immer so bleiben – ich habe auf seine festgefahrenen Denkmuster ja bereits hingewiesen: Wenn er morgens bei der Überprüfung seiner Sendungsliste eine Touränderung wahrnahm, war er auch regelmäßig der Meinung, das werde so bleiben: “Bleibt das jetzt so? Für immer?” Allein die Art der Frage nervte mich schon. “Nein, nichts ist für immer. Das bleibt so lange so, bis man auf etwas anderes kommt.” Rudi mochte halt keine Veränderungen. Der braucht einen Job, wo er jeden Tag das selbe macht, ohne Änderung der Routine. Für alles andere ist er geistig nicht flexibel genug.
Wie dem auch sei: Bald schon ging es auf seiner GLS Tour darum, dass er morgens ins Depot kommen müsse, wie jeder andere auch. Das sah er ja gar nicht ein und er fragte, ob man ihn nicht immer morgens abholen könne, um die Tour zu fahren. Da war der Fahrer schon ein bisschen ungehalten: “Du schwingst Deinen Arsch gefälligst ins Depot und lädtst Dein Auto selbst!” Und beim Management soll er es vergeigt haben, als er im Augenblick der Wahrheit verlangt haben soll, dass er garantiert nicht mehr als 60 Kunden pro Tag fahren müsse. “Es gibt keine GLS Tour mit nur 60 Stopps!”
Da ging er hin und war nur noch als “die Pfeife” bekannt.

Ich bitte allerdings zu beachten, dass ich mich für den Wahrheitsgehalt dieser Äußerungen nicht verbürgen kann, die kamen über mehr als drei Ecken zu mir und ich weiß ja, dass manche Zeitgenossen eine Geschichte gern mal ausschmücken.

An einem sonnigen Herbsttag war er auf Kurzbesuch wieder da. Gekleidet in beste arabische Ästhetik… glaube ich. Sandfarbener Leinenanzug mit bordeauxrotem Hemd, D&G Sonnenbrille, feine Lederschuhe in hellbraun. Ich wär beinahe blind geworden. Er hatte an dem Tag eine Unterredung mit Peter, die der mir freundlicherweise eine Weile darauf schilderte. Wie leider alle in Ungnade gefallenen “Ausscheider” hatte auch Rudi noch Lohnforderungen, brachte diese aber ganz anders als die anderen auf seine eigene Art vor. Er habe eine gute Arbeit in Luxemburg gefunden und verdiene 7000 E im Monat. Auf die paar Hundert Kröten könne er natürlich verzichten, das Geld sei nicht so wichtig, aber es gehe ihm um sein Recht. Er sprach gern von “seinem Recht”, das er sich zum Teil irgendwie zusammensponn und das er auf seine extrem selbstbezogene Art auslegte. Das passte natürlich alles nicht zusammen, denn eigentlich war er doch mit seinem FH Studium noch nicht am Ende, oder? Das sollte doch erst nach einem sechsmonatigen Praktikum in Irland, beginnend im Dezember 2012, zu Ende sein, oder? Ich neige dazu, ihm nicht zu glauben, wenn er was von einem 7000 E schweren Job erzählt, den kriegt man ohne Abschluss nämlich nicht einfach so. Das einzige, was Luxemburg realistisch macht, sind seine Französischkenntnisse; was alles andere betrifft, traue ich ihm eher zu, eine Lüge zu erzählen, um nicht als Loser dazustehen, um vorzugeben, er habe was erreicht, auch ohne uns. Klingt wie verwirrter Kram? Rudi IST ein wirrer Typ. Er will sich ja nur vor Gott fürchten… ob dessen Prophet nicht auch gepredigt hat, dass Stolz eine Todsünde ist? Bei den Ähnlichkeiten zwischen christlichen und moslemischen Glaubensdogmen würde es mich nicht wundern. Er ist in der Tat der Einzige, dessen Abgang ich nicht bedauere, nicht im Geringsten.

1. Januar 2013

Einschub zum neuen Jahr

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 19:59

Frohes Neues!

Ich hänge MONATE mit meinen Notizen hinterher. Tut mir sehr leid, aber das hängt nicht damit zusammen, dass ich keinen Bock mehr auf Code Alpha hätte. Das schreckliche Jahr 2012 hat mir kaum Zeit und Nerven gelassen, mich darum zu kümmern. Oft habe ich mir das vorgenommen, aber letztendlich habe ich dann die freien Tage mit Spielen verbracht, weil’s schlicht weniger Hirnleistung verlangt.

Egal – also ein schneller Einschub, dem dann Geschichten aus dem vergangenen Jahr hoffentlich bald folgen:

Das Depot in Trier hat dicht gemacht und die Transportfirma, für die ich arbeite, musste sich ein anderes Lager suchen. (Merke: Lager = Distributionsgruppe einerseits und Transportfirma andererseits sind verschiedene Dinge. Ist nicht jedem klar, also erwähne ich es vorsichtshalber.) So ergab es sich, dass die ganze Sache nach Koblenz zurückverlagert wurde, nachdem man erst im März 2011 nach Trier gekommen war.
Lustig daran war, dass man dies zuerst in Frageform von Fahrern anderer Unternehmen hörte, die fragten, ob das Gerücht wahr sei. Das Gerücht machte sich also erst ein paar Tage in unserer Firma breit, bevor die Leitung sich dazu entschloss, Klarheit zu bringen…

Die Belgientour war abgesprungen und dann stellte sich heraus, was ich von Anfang an vermutet hatte: Unsere “Luxemburger” Kollegen arbeiteten mit suboptimalen Frachtzahlen und deren Chef entschloss sich dazu, diese Touren ebenfalls einzustellen. Blieb noch Peters Firma, aber für zwölf Touren ein Depot zu betreiben, lohnte sich für den Konzern nicht. Wir mussten uns was anderes suchen und die einfachste Lösung schien die Rückkehr in den mütterlichen Schoß, sozusagen.

Alle Fahrer wurden gefragt, ob sie bereit wären, mitzukommen, und es wurden auch einige Versprechungen gemacht: Wir müssten nicht früher aufstehen, sondern es wären Leute vor Ort, die unsere Pakete vom Band nähmen und grob stapelten. Wir müssten nur noch einladen und fahren. Ein ganz klarer Vorteil ist, das wir dann eh quasi an der Plaidter Werkstatt vorbeifahren, und kleinere Dinge wie Reifenwechsel u.ä. könne man dann eben schnell morgens vornehmen. Außerdem müssten die Fahrer wegen der größeren Zahl der verfügbaren Fahrer (in Koblenz arbeitet die zweite Hälfte unserer Firma, die ja nicht nur von Peter sondern auch von seinem älteren Bruder geführt wird) auch nur noch etwa alle zwei Monate einen Samstagsdienst fahren. Eigentlich klingt es zu gut, um wahr zu sein. Viele mutmaßen, dass man uns in ein paar Monaten die Pistole auf die Brust setzt und sagt, dass wir doch früher kommen müssten, weil die Abräumer auf Dauer zu teuer seien.

Wie dem auch sei: Es ergab sich, dass Knut, der Engel, und Mike nicht mit nach Koblenz gehen wollten. Mike als Disponent muss früh im Lager sein, müsste also umziehen. Peter hätte den Engel gern im Dispoteam gehabt, aber der lehnte ab.
Knut sagt, er wohnt zu weit weg, um jeden Tag 90 Minuten oder mehr zur Arbeit zu fahren. Der Engel und Mike sind verheiratet und deren Frauen haben Jobs in Trier. Verständlich, dass die da wenig begeistert sind.
(Als Nebeneffekt führte dies dazu, dass ich nach Elmo der Fahrer mit der zweitlängsten Verweildauer in der Firma bin.)

In dieser Situation entschied ich mich zu einem offensiven Schritt: Ich schrieb Peter eine SMS, dass ich, in Abwesenheit von Mike und dem Engel, Interesse an einem Disponentenjob habe, und er dachte eine Weile darauf herum, bevor er Anfang Dezember mit einem Konzept rüberkam.
Sein Dispoteam sollte aus drei Köpfen bestehen – zwei mit extensiver Ortskenntnis und einer, der Ahnung von Organisation, Planung und Disziplin hat. Welcher würde ich wohl sein?
Wegen der langen Anfahrtswege (ich werde weiterhin an der Luxemburger Grenze fahren) wurde mein Tourgebiet verkleinert. Das Postleitzahlenbiet 54689 fällt raus, von mir “3DI” genannt (Dasburg Dahnen Daleiden Irrhausen), ebenso die kleinen Käffer vor Irrel (vermutlich behalte ich aber Ralingen, weil ich nicht anders kann, als da durchzufahren). Also nur noch Haupttour – die Weglassungen sparen mir zwischen einer und zwei Stunden Zeit, und das kommt mir sehr zu Gute, ich hab nämlich keinen Bock, ständig nach Vier nach Hause zu kommen.
Wir erhalten außerdem mehr Touren, einen LKW und einen Sprinter mehr, um flexibler zu sein, und von dem “Luxemburgern” wechseln zwei Leute zu uns, Tom und Hyper (deren Namen natürlich ebenfalls verfälscht sind), glücklicherweise zwei vernünftige Menschen. Eine Fahrerin von drüben hatte ebenfalls mit dem Gedanken gespielt, fand aber etwas interessanteres im Immobilienbereich.

Ende Dezember wurde alles klar gemacht – ich ziehe in die Koblenzer Gegend um, sobald ich eine Dreizimmerwohnung gefunden habe. Ich freue mich direkt darauf, den Leuten die Hammelbeine lang zu ziehen. Außerdem mag ich Dokumentationsaufgaben. Sonst hätte ich kein Blog.

Warum brauche ich eine Dreizimmerwohnung?
Keineswegs, weil ich nun unter die Großverdiener gegangen wäre (obwohl mein Gehalt um ein paar wenige Hundert Euro steigt), sondern aus einem weitaus trockeneren Grund:
Meine Großeltern leben beide dauerhaft im Altersheim und das will finanziert sein. Da die Schenkung meines Elternhauses weniger als zehn Jahre her ist, ist die Schenkung hinfällig und muss rückabgewickelt werden. Ich habe das Haus daraufhin zum Verkauf angeboten und bekam Anfang Dezember ein Angebot, das mir gut genug erschien (und der Makler riet mir auch dazu).
In Folge dessen lagert all mein Zeug, das in Gersheim untergebracht war, im Keller in Trier. Da ich nicht will, dass meine über 25 Jahre gesammelten Bücher anfangen zu müffeln, reicht eine Zweizimmerwohnung mangels Regalplatz nicht mehr aus. 60 bis 70 Quadratmeter wären also das angepeilte Ziel.

Zunächst muss ich vermutlich tatsächlich ein paar Tage pendeln, dann im Hotel wohnen und dann hoffentlich bald eine Wohnung für mich und Melanie finden.

Der kommende Erzählabschnitt wird dann auch nicht mehr “Gaytal-Kamikaze” heißen, obwohl sich mein Tourgebiet nur unwesentlich ändert. Den Titel habe ich bereits festgelegt und bis dahin wünsche ich erwartungsvolle Spannung.

30. September 2012

Gaytal Kamikaze (Teil 13)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 16:25

Ich möchte auch einen Fall schildern, der mir ernsthaft Sorgen bereitet hat, mich aber trotz allem nichts gekostet hat. Die Angelegenheit trug sich zu, kurz nachdem ich auf die Eifeltour umgestiegen war, genau war das am 11. Oktober 2011.
An dem Tag hatte ich wegen Reparaturbedarfs des Sprinters einen gemieteten Renault zugewiesen bekommen, dessen Bedienung sich von der eines Sprinters natürlich deutlich unterscheidet.
Auf der Bundesstraße zwischen Ehrang und Quint nun, bei weniger als 55 km/h, stellte sich mir so ein Bedienproblem. Ich war kurz abgelenkt und in diesem kurzen Zeitraum war der Ford Ka vor mir wegen der rot gewordenen Ampel stehen geblieben. Als ich das bemerkte, blieb mir nur noch die Vollbremsung. Trotzdem kam es mit einem deutlichen “FUMP!” zu einer spürbaren Kollision, ich konnte sehen, wie die beiden Damen in dem Wagen vor mir durchgeschüttelt wurden.

Warnblinker an, aussteigen, Schaden besehen, Daten austauschen. So sollte es sein.
Aber erstens war kein Schaden zu entdecken. Oder… bei genauem Hinsehen zeigte das Nummernschild meines Transporters eine kaum merkliche Delle auf. Am Ford war rein gar nichts zu sehen, nicht einmal ein Kratzer am Berührungspunkt. Und zweitens: Ich war der einzige, der Daten rausrückte. Ich wusste, dass ich für den Fehler verantwortlich war, der zu der Situation geführt hatte, die mir von den übrigen Verkehrteilnehmern genervte Blicke eintrug, also gab ich der Dame meine Telefonnummer mit Namen, Nummernschild und Arbeitgeber, mit der Aufforderung, sich zu melden, falls oberflächlich nicht erkennbare Schäden gefunden würden. Dann ging die Fahrt weiter, ich sagte Peter Bescheid und bekam einen Termin beim Vermieter des Renault.
“Das ist alles???” fragte der am Nachmittag.
“Das ist alles…” antwortete ich mit Hinweis auf das unmerklich veränderte Nummernschildblech. Der Vermieter sah sich nicht genötigt, dafür Schadenersatz zu fordern. Die Tage gingen ins Land.

Im November erhielt ich zuerst einen Anruf der Polizei, in der ein Beamter mir mitteilte, dass die Fahrerin des Ford Strafanzeige wegen fahrlässiger Körperverletzung gestellt habe, “weil sie sich sonst nicht zu helfen wusste”. Sie habe ein paar Stunden nach dem Unfall über Nackenschmerzen geklagt und sei in einem örtlichen Krankenhaus behandelt worden. Dem Beamten am Telefon schien neu zu sein, dass ich der Dame alle notwendigen Kontaktdetails übergeben hatte. Sie hatte den Zettel möglicherweise verloren. Danach erreichte mich wie am Telefon vereinbart ein Schreiben, in dem ich aufgefordert wurde, meine Sicht der Dinge darzulegen. Ich schilderte meine ungeschickte Ablenkung, die quasi nicht vorhandenen Materialschäden, die bereitwillige Übergabe meiner Daten, und brachte mein Bedauern zu dem Geschehen zum Ausdruck.
Wieder vergingen Wochen.

Am 12. Januar 2012 teilte mir die Staatsanwaltschaft mit, dass das Verfahren gegen mich eingestellt sei. Wegen der Ordnungswidrigkeit eines Auffahrunfalls müsse ich jedoch möglicherweise mit einem Bußgeld von Seiten der Polizei rechnen. Die meldeten sich prompt am 17. Januar und teilten mir mit, dass auch dieses Verfahren eingestellt worden sei. Ich habe nicht damit gerechnet, schadlos aus der Sache herauszukommen, aber scheinbar hat der Bagatellschaden am Fahrzeug, dazu noch ausschließlich am Fahrzeug des Unfallverursachers, die Ermittler davon überzeugt, dass die geschädigte Dame die Einschränkung ihrer Gesundheit ein wenig übertrieben dargestellt hat.

Wenige Wochen später wurde ich mit Günther Wallraff konfrontiert. Zumindest verbal. In einer Bäckerei in Neuerburg. Ich war dorthin gegangen, weil eine in der Nähe wohnende Privatkundin, wie das in knapp 50 % der Fälle so ist, am frühen Nachmittag nicht zuhause war, und ich wollte das Paket loswerden. Man nahm es dort gern an und ließ mich versprechen, eine Benachrichtigung in den Briefkasten der Dame zu werfen.

“Haben Sie schon gehört, dass der Wallraff bei DHL war und was der dort rausgefunden hat?”
Ich muss mich beinahe geehrt fühlen, dass die Fachverkäuferin hinter der Theke davon ausging, dass ein einfacher Transportfahrer weiß, wer “der Wallraff” ist. Nein, ich wusste noch nichts von der neuesten Aktion des Grand Seigneurs des investigativen Journalismus (fand aber später raus, dass er keineswegs bei DHL, sondern bei GLS recherchiert hatte). Ihr Text lief darauf hinaus, dass ich einem ja Leid tun könne, mit dem Job, den ich da mache. Ich erklärte ihr also die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Transoflex und den anderen Paketdiensten, und je öfter ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich auf die Idee, dass man es bei Transoflex noch am besten trifft – ich glaube, meine Hauptkritikpunkte entstammen dem Geschäftsgebaren der Subunternehmer. Ich bin jedenfalls ganz zufrieden damit, dass Transoflex sich auf Geschäfts- und Stammkunden konzentriert, dass ich über 90 % meiner Arbeitszeit zu Kunden fahre, die ich jeden Tag, mehrfach pro Woche oder zumindest einmal im Monat anfahre. Ich muss also nicht das gesamte Straßennetz meines Einsatzgebiets kennen, um jeden Kunden zu finden. Hat man die Tour ein paar Mal gefahren, braucht man keinen Navi mehr, und das spart ja Zeit. Und so weiter. Nicht zuletzt handelt es sich bei dem Subunternehmen, für das ich arbeite, um einen sehr kleinen Betrieb mit etwas mehr als einem Dutzend Mitarbeitern; die Atmosphäre ist damit sicherlich besser als in den Depots, wo 60 Touren bedient werden.

Diese Begegnung in der Bäckerei war allerdings nicht die einzige “Konfrontation” mit Wallraff, noch zwei weitere Kunden sprachen mich in der Folgezeit auf diese Dokumentation an. Und nur kurz danach kam eine “Nachahmung” dazu, als ein Journalist namens Reinhard Schädler die gleiche Aktion beim angesehenen Unternehmen DHL brachte und seine Geschichte unter dem Titel “Die Paketsklaven” veröffentlichte. Auch da gab”s unter meinem Kunden einen gewissen Konversationsbedarf.
Und wie ich sagte: Ich sehe das Problem eher im Subunternehmertum als in den Statuten des Transoflex-Netzwerks. Der Konzern selbst, der der Österreichischen Post gehört, ist gar nicht so groß, ist eigentlich nur ein Verwaltungsapparat (mal abgesehen davon, dass die Kühlwarensparte “Thermomed” direkt zum Konzern gehört), der Lizenzen an Satellitendepotbetreiber wie unseren vergibt, der theoretisch ein eigenverantwortlicher Unternehmer ist, der wiederum die Touren an Fuhrunternehmer vergibt. Das heißt in “meinem” Fall genau genommen, dass der Chef des Depots Trier ein leitender Angestellter eines Unternehmers ist, der mehrere Depots subunternehmerisch von Weinheim aus (wo auch Transoflex angesiedelt ist) führt. Natürlich zahlt Transoflex den Vertragsnehmern nicht mehr als unbedingt notwendig, und über diese Vertragskette geben die Vertragsnehmer die wirtschaftlichen Zwänge nach unten weiter. Der Fahrer ist das letzte Glied der Kette, der Letzte, den die Hunde dann beißen.

Aber Geld ist ja nicht alles, was als Faktor reinspielt, obwohl sich letztendlich alles auf dieses ultimative Motivationsmittel zurückführen lässt.
Der Subunternehmer JP kauft hauptsächlich alte Kisten, die andere Paketdienste abstoßen. Er lässt sie in seiner eigenen Werkstatt wieder straßentauglich machen und vermietet sie für (angeblich) 1000 E im Monat mit Kilometerpauschale an seinen eigenen Subsubunternehmer, zum Beispiel Peter. Alte Kisten haben die Eigenschaft, dass öfters mal etwas kaputt ist, und dann muss der Subsubunternehmer den Fahrer nach dessen Feierabend oder an dessen freiem Wochenende zur Werkstatt schicken, die 125 km von Trier entfernt liegt, damit der Schaden dort gerichtet wird – und der Subunternehmer JP verdient zusätzliches Geld genau daran, dass er das Billigste vom Billigen gerade noch vor der Verschrottung gerettet hat (um es mal mehr oder minder überspitzt auszudrücken; nach meinem persönlichen Empfinden eher minder). Ein teuflisch geniales Konzept irgendwie. Dem Fahrer gegenüber wird diese Zeit- und Geldverschwendung (der Subsubunternehmer muss ja die Betriebskosten für die insgesamt 250 km lange Fahrt tragen) damit gerechtfertigt, dass dies ja selten vorkomme und dass er den Wagen schließlich auch zum Pendeln zum Arbeitsplatz und für private Kurzstrecken wie zum Einkaufen oder Möbeltransport nutzen dürfe.

Ich kann auf den privaten Teil dieser Nutzungserlaubnis bequem verzichten – aber für mich zählt jedes Wochenende, jeder Tag, an dem ich ausschlafen kann, gerade im Hinblick darauf, dass mein durchschnittlicher Arbeitstag ab halb vier Uhr morgens, bzw. ab Ankunft im Depot um fünf Uhr aus zehn bis zwölf Stunden Arbeit, sieben bis acht Stunden Schlaf und einer Stunde zum Essen besteht. In der verbliebenen Zeit, die bis zum Schlafengehen zwischen sieben und acht Uhr abends bleibt, bin ich in der Regel zu müde, um irgendwas kreatives oder sonst etwas, was ein gewisses Maß an Konzentration braucht, zu leisten. Wie ein Betrunkener, der den Weg nach Hause noch irgendwie schafft, hält meine Anspannung, die mir konzentriertes Arbeiten ermöglicht, bis zu dem Zeitpunkt, wo ich die Wohnungstür hinter mir schließe. Ab dann möchte ich oft genug nur noch da sitzen und die Wand anstarren.

Das Dumme ist, dass mir das am Wochenende oft ebenso geht. Ich habe Spiele, die ich gern mal zu Ende spielen würde, um zu sehen, wie es ausgeht, aber mir fehlt die Energie dazu. Ich spiele also nur kurzfristige Sachen, ein bisschen Counterstrike vielleicht. Man kann es jederzeit ausmachen und muss nicht groß über sein Vorgehen nachdenken; anders, als es bei Rollenspielen oder Strategiespielen in der Regel der Fall ist. Und dann ist das Wochenende vorbei und eine weitere Woche meines Lebens rast an mir vorbei, ohne dass ich viel davon merken würde. Zwischen Bett und Fahrersitz habe ich sonst kein Leben. Warum besteht mein Blog wohl in erster Linie aus Einträgen zu meinen beruflichen Abenteuern? An Wochenenden ist das etwas anderes, aber auch ein Treffen mit Freunden und Kollegen muss erst mal organisiert werden und scheitert oft in letzter Sekunde daran, dass einer krank ist oder sonst einen Grund zum Absagen hat.

Dabei lief es zu Beginn des laufenden Jahres immer besser. Ich kannte das Tourgebiet, komme mit den allermeisten meiner Kunden blendend aus (und bin auch ausgesucht höflich zu den zwei oder drei Typen, mit denen ich nicht so klarkomme), und war oft schon zwischen drei und vier Uhr zuhause. Das lief der Organisation im Betrieb scheinbar zu gut, und auch das Schicksal machte dicke Striche in meine optimistisch gewordene Arbeitszeitenrechnung. Dass Big M einen Unfall hatte war eines, dass der Kleine wegen einer Steißfistel ausfiel, etwas anderes, aber die Einsatzgebiete wurden versuchsweise verschoben, um zu sehen, ob man nicht mehr Effizienz rausholen könne.
Das lief so richtig scheiße.
Rudi bekam von mir Zemmer, Orenhofen und Speicher (und kleinere Orte wie Hosten, Auw und Herforst) und ich übernahm dafür seinen Norden, also Orte wie Oberweiler, Bickendorf, Biersdorf, Ließem, Wissmannsdorf und Rittersdorf, und seinen Süden, das heißt Kordel und Welschbillig. Man sollte eigentlich meinen, dass das nicht kompliziert ist, aber man kann einen solchen Test nicht auf ein paar Tage ansetzen und dann der Meinung sein, dass Ergebnis stünde damit fest.
Das lief zum Beispiel so, dass ich um 14 Uhr aus Waxweiler wieder herausfuhr und dann für zehn Kunden in den Bitburger Käffern noch weitere zwei Stunden benötigte. Ich bin sicher, dass sich dieser Schnitt nach einem Monat oder so deutlich gebessert hätte, aber die Disposition (das ist Mike) sah davon ab, uns weiter damit zu belasten. Rudis Fahrzeit änderte sich gar nicht (weil er sich in seinem Puff noch ebensowenig auskannte, wie mit dem für ihn neuen Gebiet) und meine erreichte wieder spürbar unangenehme Längen.
Objektiv betrachtet endete der Versuch viel zu früh und hatte in erster Linie ein Absinken der Arbeitsmoral zur Folge. In zweiter Linie könnte man als positiven Aspekt eine Erweiterung der Ortskenntnis meinerseits nennen, immerhin.

Aber weitere Dinge kündigten sich an. Natürlich wollte auch Knut mal Urlaub nehmen. Wer bot sich nach Mikes Ansicht als Vertretung besser an, als derjenige, dem man die beste Lernfähigkeit zuschrieb: ich.
An einem sonnigen Tag, an dem es sich wegen niedriger Frachtzahlen nicht lohnte, eine einzelne Tour in die Südwesteifel zu schicken, fuhr ich mit Knut durch Ehrang, Biewer und Pfalzel, durchs westliche Industriegebiet, nach Euren, Zewen, Igel, nach Newel, Butzweiler, Trierweiler, Sirzenich, Ralingen. Außer seinem Gebiet fuhren wir noch die Südhälfte meines Bereichs, zwischen Irrel und Mettendorf, wo wir um etwa 15 Uhr den letzten Kunden besuchten. Ich machte Notizen zu besonderen Situationen wie Kellerapartments oder Anliefervereinbarungen, Mittagspausenzeiten und so weiter. Ich weiß jetzt auch, wo Mikes Frau arbeitet und dass die beiden einen dicken BMW fahren. Der Lerneffekt bei der Ortskenntnis nach einem Tag mitfahren ist natürlich annähernd Null, aber die Notizen sollten sich noch als kostbar im Sinne der Zeitersparnis erweisen.

Das gab mir natürlich auch Gelegenheit, mir ein genaueres Bild von Knut zu machen, und der wäre ein brauchbares Untersuchungsobjekt der Soziolinguistik.
Er hatte zuvor eine Weile als Fahrer bei Bofrost gearbeitet und kennt daher die Eifel ebenfalls sehr gut. Er nimmt es mit seinem Auto auch sehr ernst… wenn ich einen Stapel Pakete aus dem Auto hole, mache ich die Heckklappe für gewöhnlich mit dem Fuß zu. Er sieht das gar nicht gern; ebensowenig, wie wenn ich das Datum einer negativ beurteilten Reinlichkeitsüberprüfung in den Staub auf der Karosserie schreibe.
Zwei Unfälle habe er im Leben gehabt, und die habe er nicht zu verantworten gehabt. Einmal sei ihm eine ortsfremde ältere Dame rückwärts in die Front gefahren, als die an einer Ampel die Spur wechseln wollte und dazu hinter ein neben ihr wartendes Auto gelangen musste, aber keinen Blick in den Rückspiegel warf. Bei anderer Gelegenheit habe er bei über 100 km/h mit einem Sprinter gleich zwei Rehe gleichzeitig erwischt – dem einen flog der Kopf glatt in Einzelteilen weg, während der Rest unversehrt leblos am Straßenrand zurückblieb; das andere, davor laufende, kam genau senkrecht vor den Kühler und war danach als Reh nicht mehr zu erkennen.

Knut ist des weiteren ein Partymensch. Er hört abgefahrene Technomusik und kann Genres unterscheiden, von denen ansonsten bestenfalls gründlich nachforschende Fans aus Japan je gehört haben. Seine Vorstellung von Spaß hängt mit wilden Zuckungen zusammen, die seinesgleichen für Tanz halten, und er geht auch auf entsprechende Festivals, wie zum Beispiel “Nature One”, das mir natürlich gänzlich unbekannt ist.
Wie nun kommt ein Technojünger mit einem unverbesserlichen Metalfan wie dem Engel so blendend klar? Knut ist, wie angesprochen, ein wahrer Meister der Psycholinguistik, natürlich ohne das zu wissen. Er passt seinen Kommunikationsstil gekonnt der Person an, mit der er gerade zu tun hat, während viele andere im Arbeitsumfeld nur eine Unterscheidung zwischen, sagen wir, Kunden einerseits und Kollegen andererseits treffen. Er unterscheidet scheinbar auch zwischen Gleichgestellten, ich finde das bemerkenswert. Sein Platz in der Halle ist unten beim Engel, da geht es recht ungezwungen zu. Als er mit mir unterwegs war, hatte ich das Gefühl, dass er sich in meiner Gegenwart zusammennahm, und zwar ohne, dass es zwanghaft gewirkt hätte, er schien auch weiterhin ganz locker in dieser angepassten Rolle.

Ich würde am Wochenende nicht mit ihm auf Tour gehen wollen, und ich meine jetzt nicht auf Pakettour, sondern durch lokale Kneipen wie “Lucky”s Luke”, dafür hat er ein zu ungezügeltes Verhältnis zum Alkohol. Es heißt, Big M habe ihn mal retten müssen, als Knut sich in angetrunkenem Zustand mit einer Handvoll anderer, ebenfalls nicht mehr nüchterner Wochenendler angelegt habe, aber um darüber etwas zu sagen, fehlt es mir an Informationen, denn ich glaube garantiert nicht, was mir eine einzelne Quelle zuträgt, auch wenn es “die erste Hand” ist, aus der das kommt. Knut jedenfalls macht seine Arbeit gewissenhaft und man kann sich auf ihn verlassen, und darauf kommt es mir an, selbst wenn es vielleicht Ereignisse gegeben hat, die ihn erst auf einen geradlinigen Pfad diesbezüglich zurückgebracht haben – wie gesagt: unbestätigte Geschichten.

19. August 2012

Gaytal Kamikaze (Teil 12)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 21:45

Ich wollte ja noch über die Kosten reden, im Sinne von Kosten, die der Fahrer so zu tragen hat, wie es scheint.
Lack- und Karosserieschäden trägt grundsätzlich der Fahrer, wenn er sie verursacht hat. Ob das “grob fahrlässig” geschieht, oder ob er sich beim vorsichtigen Manövrieren um eine enge Kurve lediglich um zwei entscheidende Zentimeter verschätzt hat, interessiert niemanden. Wie es scheint, weigert sich die Versicherung des Unternehmens hartnäckig, überhaupt irgendwas zu zahlen. Zumindest bekommen wir an der Basis das erzählt.

Konkret: Zuerst hatte schließlich auch ich den gelben Pfosten bei der Ausfahrt aus dem Depot gestreift. Das Blech unter dem Scheinwerfer war verbogen und der Lack abgeschabt, das Plastikteil unterhalb der Schnauze des Sprinters brach und es bildete sich ein Riss von 20 cm. Kostenpunkt: Schätzungsweise 400 Euro.

Beim Wenden in einer Straße berührte ich mit dem Trittbrett das Zauntor eines Kunden, mit der Folge, dass der Haltepflock des Tors in der Mitte abgewinkelt wurde, soll heißen: Er kam nicht mehr in seine Einfahrt, bzw. nicht mehr heraus. Und ich dachte noch: Was kann so ein Stück Metall schon kosten? Ha! Da kam ein Handwerker, um den alten Stab abzusägen, besorgte dann einen neuen Stab und kam erneut, um diesen einzusetzen. Rundstahl, 40 cm lang, 20 mm Durchmesser, mit angeschweißten Griff zur leichteren Handhabung: 150 Euro inklusive Mehrwertsteuer. Dabei kann ich mich noch glücklich schätzen, dass der betroffene Kunde zu einer vernünftigen Sorte Mensch gehört. Man hört von anderen Leuten, die sich bei solcher Gelegenheit das ganze Tor neu machen lassen.

An einer anderen Stelle, während der Fahrt, war ich auf der Suche nach einer Hausnummer und fuhr langsam eine Straße runter. Ein hinter mir aufschließendes Fahrzeug überholte mich daher – just in dem Moment, als ich den Blinker setzte und in die Toreinfahrt links einfahren wollte. Das gab eine Schramme, bei dem anderen mehr als bei mir. Nach meinem ersten Eindruck war der andere Schuld, aber meine Gewohnheit, selbstkritisch zu sein, lässt mein Gewissen nicht ruhen: Habe ich vielleicht zu kurzfristig geblinkt? Habe ich in die Spiegel geschaut? Ich kann mich nicht erinnern. Diese Maßnahmen laufen so nebenläufig ab, dass ich nicht mehr bewusst darauf achte. Ich würde mich wundern, wenn ich nicht geschaut hätte, aber ich weiß es eben nicht mehr. Es ist nicht auszuschließen, dass beim Blick in Innen- und Außenspiegel das überholende Fahrzeug im jeweils entscheidenden Moment nicht mehr im Sichtbereich war, und Kopf drehen bringt im Sprinter ja nichts. Peter meinte jedenfalls, dass dies ein Fall von beidseitiger Schuld sein dürfte – was heißt, dass jeder auf seinen eigenen Kosten sitzen bleibt.

Der Schaden “verschwand” bald danach: Rudi streifte beim Rausfahren meinen Wagen an genau der Stelle. Ich weiß nicht, was daraus geworden ist, mich haben noch keine Ersatzforderungen erreicht.

Bei nächster Gelegenheit fuhr ich zur Apotheke in Irrel und fand “meinen” Parkplatz vor dem Torbogen zum Hintereingang von einem Handwerker besetzt. Auf dem Kundenparkplatz standen zwei Wagen, ein kleiner PKW und eine Art Geländewagen, dahinter war noch ein Platz frei, und da fuhr ich hin. Ich hörte ein Geräusch, als sei ein großer Blumentopf aus Ton umgefallen und dachte mir in der Sekunde noch nichts dabei – bis ein Kunde aus der Apotheke kam und beim Anblick meines Fahrzeugs das Gesicht verzog. Ich setzte also wieder ein kleines Stück zurück und sah nach, was los war: Hinter dem Geländewagen versteckten sich zwei Metallpfosten, die verhindern sollten, dass der Eingang zugeparkt wurde. Die beiden waren für mich völlig unsichtbar gewesen.
Ich informierte Peter, dann den Apotheker. Der schockte mich gleich, als er erwähnte, die beiden Pfosten seien eine Spezialanfertigung (in Leuchtturmform) von einer heute nicht mehr existenten Schlosserei gewesen, das klang gleich mal wieder nach dreistellig. Aber er beruhigte mich: So wie er das sehe, sei nur die Bodenplatte etwas verzogen und die rot-weiße Lackierung sei eh bereits nicht mehr im besten Zustand. Er wolle mit einem Fachmann reden und mich dann anrufen.
Der Anruf kam am folgenden Mittag und er sagte, der Betrag sei nur geringfügig; er werde das übernehmen, ich könne ja mal etwas Schokolade für die Damen in der Apotheke mitbringen. Ich ging in einen Supermarkt, kaufte zehn Tafeln verschiedener Sorten Milkaschokolade, ließ sie hübsch verpacken und überbrachte sie bei nächster Gelegenheit.

Das bedeutet, ich war das Problem der geschädigten Partei los, aber die Delle in der Karosserie war ja noch da. Big M polierte den roten Lack des Pfostens aus der Tür, damit dies weniger auffällig war, aber wie viel ich davon noch zu tragen habe, ist bislang unklar. Big M machte mir Hoffnungen, er könne mir die Karosserie richten und die angekratzten Stellen neu lackieren lassen, ohne, dass ich mehr als einen Fünfziger dafür würde zahlen müssen. Noch ist nichts geschehen, und das hängt zum Teil mit Peters Zögerlichkeit zusammen. Big M versuchte ihm klar zu machen, dass er das könne, aber Peter beantwortet solche Anliegen meist mit einer Verschiebung auf später. Wenn ich also will, dass da was geschieht, muss ich selbst dranbleiben.

Und als ob das nicht genug wäre: Bei der Abfahrt von einem Kunden auf dem Dach des HELA Baumarktes nahm ich die Kurve der Rampe zu eng und machte einen weiteren Kratzer in die hintere rechte Hälfte des Fahrzeugs. Auch hier sind die Kosten noch nicht abzusehen. Vielleicht kriege ich Big M dazu, sich darum zu kümmern, wenn ich Urlaub habe.

Jedenfalls kam es in jener Zeit zu einer Häufung von Fahrzeugschäden. Unser Subsubunternehmen kam binnen eines Monats auf etwa 4000 Euro, niemand kann sagen, woran das lag. Peter, nicht angetan, hielt eine dem entsprechend emotionale Rede dazu. Konrad war davon so beeindruckt, dass er just an dem Tag beim Rausfahren noch einmal den gelben Stahlträger streifte, wodurch die rückwärtige Abdeckung seines rechten Frontscheinwerfers herausgedrückt wurde. Ich selbst war an diesem Tag sehr nervös und geriet in eine oder zwei kritische Situationen, die glücklicherweise ohne Folgen blieben.

In Folge dessen blieb die an sich kritische Situation leider statisch: Im Monat zuvor hatte es geheißen, wir sollten bis zu sieben “neue” Autos bekommen (wobei die Definition von “neu” ja dehnbar ist). Das Ende vom Lied war, dass EIN neues Auto kam (und das war RICHTIG neu mit nur ein paar Tausend Kilometern auf dem Tacho) und wir ansonsten auf den schrottigen und mit Minimalaufwand gewarteteten Kisten sitzen blieben.

Kommen wir zu etwas Unterhaltsamerem.
Felix wurde zum Depotchef zitiert, weil er Abholware nicht mitgenommen hatte. Es handelte sich, zugegeben, um ein sperriges Paket, das man ihm ziemlich zu Beginn seiner Tagestour geben wollte. Ohne sich mit Peter oder Mike abzusprechen, vertröstete er den Kunden, die Ware sei ihm zu groß, da er den ganzen Tag drumherum würde arbeiten müssen, und es werde vielleicht noch ein LKW kommen, um es abzuholen. Natürlich waren die LKW-Touren für den Tag bereits verplant, Elmo und Puck hatten an dem Tag nichts in der Gegend zu tun und folglich holte auch niemand das Paket ab. Warum er das Paket nicht am Ende des Tages noch geholt hat, versteht vermutlich nur er selbst, aber für Felix ist jegliche Arbeit nur ein notwendiges Übel, dass man so schnell wie möglich hinter sich bringt. Ich habe seine Arbeitsweise zu einem früheren Zeitpunkt bereits beschrieben.
Er bekam also eine Rüge, und wer den Schaden hat, braucht für den Spott ja nicht zu sorgen. Er musste sich so einige Witze darüber gefallen lassen, was ihm zu groß oder zu schwer sei, ganz zu schweigen von sexuellen Anspielungen über seinen Umgang mit Damen aus den Altersheimen, die er beliefert und wo er auch öfters zu Mittag isst.

Aber auch ein Großkunde in Longuich beschwerte sich über ihn, weswegen er noch einmal zum Chef zitiert wurde. Laut Kunde war Felix unhöflich gewesen, ich nehme also an, dass ihm in seiner selbstgemachten Hektik eine unvorsichtige Bemerkung rausgerutscht ist, oder der Kunde hatte eine Dienstleistung eingefordert, die er zu leisten nicht willens war, zum Beispiel Aufstapeln von Paketen an einer bestimmten Stelle und nicht einfach nur hinter dem Lieferwagen – ich weiß es nicht und es mangelt mir auch an Neugier, solche Fälle genau zu hinterfragen, wenn der Betroffene nicht selbst damit rausrückt. Jedenfalls erzählt man sich, dass Felix jenen Kunden seitdem mit einer ausgesuchten Höflichkeit bedenkt – allerdings auf eine Art und Weise, die durchblicken lässt, dass er es gezwungenermaßen tut. Puck, der ja Paletten zum gleichen Kunden bringt, erzählte mir jedenfalls, dass man dort dazu übergegangen sei, Felix mit einem gewissen Humor zu betrachten, vor allem, wenn er sowas sagt wie: “… und einen schönen Tag für Sie!!” oder “Ich habe heute keinen guten Tag…”. Solche Darlegungen sind natürlich ohne die ihm eigene Intonation nur halb so lustig, aber Eingeweihte amüsieren sich darüber.

Eine Weile häuften sich derlei Beschwerden, er bekam jeweils was auf den Deckel und irgendwann legte sich diese Phase auch wieder. Aber seine Eigenarten behält er. So war er eine Woche krank gemeldet und ich schickte ihm eine SMS mit dem Inhalt “Gute Besserung, Du alter Simulant! :-)”, inklusive des Smileys, der jedem Halbdebilden klarmachen sollte, dass es sich um eine humoristische Äußerung handelte. Er stattdessen schickte nicht nur mir eine Mitteilung zurück (“Dass meinst Du jetzt nicht ernst, oder???”), sondern beschwerte sich auch noch bei Big M (“Ich verstehe da absolut keinen Spaß!”), der herzhaft darüber lachte, so wie es von mir beabsichtigt war.

In diesem Zusammenhang ist ein Ereignis bemerkenswert, das ich scheinbar noch nicht erwähnt habe. Puck war den ersten Monat da, da hatte Felix mit Peter ausgemacht, wegen eines Familientreffens früher Schluss machen zu können. Peter rief daher Puck an, der wegen einer Palettenlieferung in der Nähe war, damit dieser Pakete aus Felix’ Wagen mitnehmen und ausliefern könne. Felix hatte zu diesem Zweck wohl den Schlüssel zum Lieferwagen in einem Schuppen seines Hauses hinterlegt und Peter dies auch mitgeteilt, aber Peter hatte gleichzeitig nicht durchblicken lassen, dass jemand etwas holen kommen würde. Felix wiederum hatte scheinbar Peter einen früheren Reisezeitpunkt als den tatsächlichen mitgeteilt, und ich nehme schlicht an, dass er dies tat, um irgendwelchen Eventualitäten vorzubeugen, damit er seinen Zug nicht verpasste. Keine große Sache, oder?

Felix ist aber leicht paranoid, gerade in dieser schwierigen Zeit, wo er sich andauernd wegen diverser Fehlverhalten hatte rechtfertigen müssen. Puck kam also an entsprechender Stelle an und fand Felix noch vor. Ich muss schon mutmaßen, dass Felix in dem Moment den Verdacht hegte, Peter habe jemanden geschickt, um zu überprüfen, ob die Geschichte mit der Familienreise auch stimme. Und da Felix in solchen Sachen ja absolut keinen Spaß versteht, nicht wahr, kam ihm Pucks ganz normaler Humor auch reichlich quer. Puck hatte nicht damit gerechnet, Felix noch anzutreffen und überlegte einen kurzen Moment, was er lockeres sagen könne. Felix jedenfalls sagte später zu mir, Puck habe den Eindruck von jemandem gemacht, der bei einer Heimlichtuerei erwischt worden sei, er habe “rumgedruckst”.
Was hat er gesagt?
“Hallo! Peter schickt mich, um Dir ein paar Pakete zu klauen.” *grins*
Niemand – außer Felix – könnte sowas ernst nehmen. Er wies also den Weg zum Wagen und machte sich davon. Unterwegs telefonierte er mit dem fröhlichen Winzer und teilte diesem die “beunruhigenden” Neuigkeiten mit. Der Winzer rief daraufhin mich an, da ich Puck ja schon seit Jahren kenne, ob ich der Meinung sei, Puck habe sich von Peter vielleicht irgendwie dazu bringen lassen, Felix wegen der vielen Kundenbeschwerden durch eine solche Aktion sozusagen abschussreif zu machen. Das ist natürlich purer Unsinn, da Puck einer der ethisch festesten Personen ist, die ich kenne. Er hat andere Fehler, aber bei sowas würde er nicht mitmachen.
Ich übte mich also in mediatorischer Kommunikation und die Sache ging vorbei, ohne dass Beziehungsschäden entstanden.

Zum Abschluss: Ich war überrascht, als sich irgendwann eine scherzhafte Bemerkung von mir in die Tat umsetzte und ich im Dezember 2011 tatsächlich der Fahrzeugreinlichkeitsinspektor wurde. Ich sollte also jeden Montag prüfen, ob die Leute ihre Autos gereinigt hatten, und Peter legte mir gleich ans Herz, nicht zu streng zu sein. Inwiefern konnte ich streng sein? Ich lege ja nur Notizen vor, in denen Fahrzeugkennzeichen Fahrern zugeordnet und mit einem Vermerk versehen werden, ob der jeweilige Fahrer seinen Führerschein noch hat und ob er sein Fahrzeug gereinigt hat. Was für einen Handlungsbedarf er als Chef aus diesen Notizen interpretiert, ist allein seine Sache.
Ich sehe das Auto außen an: Liegt grober Straßenschmutz vor, ist das Auto “außen ungereinigt”, gleiches gilt, wenn der grobe Schmutz mit einem Hochdruckstrahler zwar weggespült wurde – aber diese Geräte richten gegen den feinen, festgebackenen Staub rein garnichts aus. Ich erwarte keine Politur, aber einen Schwamm oder eine Bürste könnten die Leute schon benutzen. Sieht natürlich nicht jeder ein.
Ich sehe das Auto innen an: Das schnelle Mittagessen hinterlässt Brotkrümel und andere Reste, zum Beispiel Flaschen, Getränkedosen, Servietten oder Verpackungen. Die haben im Auto ebenso wenig verloren wie Straßendreck, der mit den Schuhen reingetragen wird, oder die dreckig-gelb-braune Schmierschicht, die nach dem Tabakrauchen an der Innenseite der Windschutzscheibe anhaftet. Darüber hinaus scheint es, als ob manche Leute ihre Limonadenflaschen zwischen den einzelnen Trinkakten nicht verschließen, dann finden sich an den Türen oft klebrige Spritzreste. Im schlimmsten Fall finde ich Kaffeereste in der Ablage vor dem Fahrer, wo sich ein Becherhalter befindet. Ich erwarte auch hier keine Grundreinigung, aber wenigstens den Staub runterfegen könnte man doch!? Weniger Strenge macht sich bei mir dadurch bemerkbar, dass ich innen wirkklich nur nach groben Verschmutzungen suche – ungefegt, Restmüll oder Getränkespritzer? “Innen ungereinigt”.

Ich habe Verständnis dafür, dass herbstliches Wetter die Motivation zur Reinigung nicht fördert. Bei Regen stelle ich mich nicht auf den Parkplatz, um den Matsch runterzuwischen. Dabei stehe ich als Kontrolleur unter einem besonderen Druck: Mein Auto MUSS das sauberste sein, und wenn es nicht das sauberste ist, muss es doch zumindest beanstandungslos sein. Wenn es wirklich hässlich aussieht, fahre ich zur Waschanlage bei der Firma Hess. Aber das kostet drei Euro, die mir niemand ersetzt.

Ich traf dort einen der Luxemburger Fahrer, der mir nicht nur erzählte, dass sie alle solchen Kosten ersetzt bekämen, sondern auch in der Regel nicht für Fahrzeugschäden haften müssten und darüber hinaus auch noch 300 Euro mehr im Monat hätten – bei durchschnittlich halber Arbeitsbelastung, in Paketzahlen ausgedrückt. Die sind um Zwei zuhause, mal abgesehen vom Weihnachtsgeschäft vielleicht, und ihre VIER LKWs fahren auch nur eine Tour am Tag, was Elmo und Puck bestenfalls im ruhigen Sommer erleben; die fahren in der Regel zweimal, und wenn sie Pech haben, müssen sie sogar drei Touren fahren.

Im vergangenen Februar wurde aber auch die Waschanlage ausgeschaltet: Bei Minus 20 Grad froren die Anlagen ein, an ein Reinigen der Fahrzeuge war nicht zu denken.
Als die Kälte zuschlug, hatten wir morgens im Lager Temperaturen unter dem Gefrierpunkt. Allein die Büros der Ablaufkontrolle waren geheizt. Irgendwann spürte ich meine Fingerspitzen und mein Gesicht nicht mehr. Im Büro fragte ich den Chef daher (wörtlich), ab welcher Temperatur die Statuten der Distributionsgruppe denn die Inbetriebnahme der vorhandenen Heizung erlaubten?
“Hm,” sagte er, “das muss ich mir noch überlegen.”
Er überlegte schnell. Ab dem folgenden Tag wurde die Halle auf ca. 15° C geheizt. Das war angenehm. Aber man musste mit den Rolltoren aufpassen.
Die Tore hinten, wo die LKWs be- und entladen werden, sind immer auf, solange ein LKW da steht. Zwischen LKW und Mauer bleibt jedoch immer ein Spalt frei, der sich bemerkbar macht, sobald das große Rolltor an der Vorderseite des Gebäudes geöffnet wird, weil zum Beispiel der Belgienkurier hinein-, bzw. die Luxemburger herausfahren möchten. Das Luftvolumen des gesamten Lagers kühlt innerhalb von weniger als einer Minute völlig aus.
Das Management beklagt sich natürlich über die Heizkosten, und das sind die Leute, die in beheizten Büros arbeiten. Wir Fußsoldaten sagen: Solche Kosten berechnet man in die Jahresgewinnerwartung gefälligst von vornherein mit ein!

22. Juli 2012

Gaytal-Kamikaze (Teil 11)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 18:34

Jaja, wie hältst Du’s mit der Religion? Es spricht sich herum, dass ich Atheist bin. Stan, einer unserer Bandarbeiter und aus den USA zu uns ausgewandert, reagierte darauf in einer Weise, wie man sie Amerikanern mit wenig Bildung zuschreibt:
“Was? Du verehrst Satan?”
“Nein, wenn ich Satan anbeten würde, wäre ich ein Satanist, oder? Atheist zu sein bedeutet, dass man nicht an die Existenz übernatürlicher Kräfte glaubt.”
“Du glaubst also lieber an Dich selbst… meine Söhne sind auch so.”
“Ich halte es jedenfalls für sehr unwahrscheinlich, dass es einen Gott gibt.”
“Dann musstest Du vermutlich noch keine wirklich harten Zeiten durchmachen.”
“Was meinst Du?”
“Eine schwere Krankheit zum Beispiel.”
“Nein, sowas hatte ich noch nicht.”
“Dann warte mal ab.”

Rudi jedenfalls kann sich die Welt auch nur erklären, wenn er sie auf den magischen Einfluss eines Gottes zurückführt. Die Idee, dass es KEINEN “Masterplan” für die Existenz des Universums geben könnte, passt gar nicht in seinen Kopf.
“An was glaubst Du dann?”
“Ich glaube, dass sich die Welt durch wissenschaftliche Mittel erklären lässt; und wenn uns heute das Wissen dazu fehlt, werden wir es im Laufe der Zeit sicherlich finden.”
“Du glaubst also, dass alles mit einem Urknall angefangen hat und dass wir uns aus Affen entwickelt haben? Sag mir, wo sind die Beweise dafür?”
“Da musst Du einen Physiker fragen. Oder Darwin lesen.”
“Aber die Evolutionstheorie ist schon seit 20 Jahren vernichtet! Wie kann man daran glauben?”
“Ich weiß ja nicht, wer die vernichtet haben soll, aber jedes Jahr erscheinen hunderte von wissenschaftlichen Abhandlungen, die die Evolutionstheorie stützen. Genetiker und Molekularbiologen bestätigen, dass die Evolution aus unserer DNA ablesbar ist.”
“Bist Du voll überzeugt oder meinst Du, Du könntest Deine Meinung noch ändern?”
“Natürlich kann ich meine Meinung ändern, wenn ich die Hinweise auf die Existenz übernatürlicher Kräfte entsprechend gestärkt sehe.”
“Dann setzen wir uns mal zusammen und reden darüber.”

Er setzte, was mich irgendwie freute, einen Gegenpunkt zu Stan, wenn auch unbeabsichtigt. Er erzählte von einer Freundin, deren Arbeitskollegin einen nahen Verwandten verloren hatte. Daraufhin stellte sie Gott in Frage; es könne keinen solchen Gott geben, der ihr diesen Menschen, der nichts Böses getan hatte, nehmen würde, also gebe es keinen Gott. Wie kann ein Gott gerecht sein, der Strafen und Schicksalsschläge scheinbar rein willkürlich verteilt? Soll heißen: Kann es nicht ebenso sein, dass man sich eben unter dem Eindruck harter Zeiten von seiner Religion abwendet?
Wer an Gottes Gerechtigkeit glauben will, muss unbedingt auch an den “großen Plan” in der Schöpfung glauben, sonst kann man den frühen Tod guter Menschen und das lange Leben bösartiger Zeitgenossen nicht vor dem eigenen Verstand rechtfertigen. Ich ziehe es vor, Gott aus der Gleichung zu subtrahieren und von einem Universum, in dem Dinge einfach so geschehen, ohne Plan, auszugehen. Rudi kann das nicht und entdeckt den Missionar in sich. In Ausnutzung ihrer seelisch instabilen Situation gelang jedenfalls die Konvertierung der vom Leben gebeutelten Arbeitskollegin; man verstehe den Begriff “Ausnutzung” aber bitte nicht als “in böser Absicht”. Wer ehrlich glaubt, der meint es ehrlich gut, und ich glaube, dass viel von dem Bösen in unserer Welt guten Absichten entspringt. Bei der Bringung des Seelenheils hat schließlich so mancher bereits übertrieben, und nicht alle diesbezüglichen Maßnahmen sind so makaber-lustig wie die Praxis einzelner mormonischer Splittergruppen, die bedeutende Persönlichkeiten posthum zu Mormonen umtaufen (zum Beispiel Gandhi!).

Interessanterweise will Rudi das mit Konrad zusammen machen… was irgendwie interessant sein könnte, erstens, weil Konrad noch nie zu einem Treffen erschienen ist, und zweitens wegen des konfessionellen Grabens: Konrad ist Katholik und Rudi ist Moslem. Ich bezweifle, dass ein solches Treffen je zustande kommt, aber es kann ja nicht schaden, ein paar Diskussionspunkte zusammenzustellen… warum zum Beispiel ein Gott, der allgegenwärtig und allwissend ist, von einem Mann (Abraham) einen Treuebeweis verlangen muss (dass er seinen eigenen Sohn tötet), obwohl er doch schon immer gewusst haben muss, dass Abraham ein treuer Gläubiger sein würde. Dann ist dieser Gott entweder ein Sadist oder eben nicht allwissend.

Wir wollten uns ja schon einmal treffen, aber einfach nur zum Essen, das heißt, Rudi, Konrad und ich. Die Idee war von Konrad ausgegangen, nachdem er erfahren hatte, dass Rudi aus Marokko stammt. Konrad hatte einmal einen Schwager aus Marokko, der ein hervorragendes Lammcouscous zu kochen fähig war. Leider war mit dem Tod seiner Schwester dieser Schwager verloren gegangen und nun sah er eine gute Gelegenheit – und ich wollte sie nutzen. Wir machten eine Zeit und einen Ort aus, Rudi besorgte Lammfleisch und Zutaten und wartete darauf, dass Konrad ihn wie verabredet abholen würde, da er selbst aus technischen Gründen gerade kein Auto hatte. Aber der Konrad kam nicht. Wie üblich. Entgegen meiner Hoffnung reichte auch die Aussicht auf ein gutes Essen nicht aus, um ihn zu locken.
Am Montag darauf sprach Konrad kein Wort, und ich war auch nicht in Stimmung für eine Konversation mit ihm. Anders als früher, wo ich ein Essen vorbereitet hatte, hatte ich nichts verloren, aber enttäuscht war ich dennoch.
So ging das dann bis Mittwoch, da ging ich zu ihm zu sprach ihn an. Konrad fuhr zusammen und schaute mich an wie einer, der erwartet, gleich seine Zähne vom Boden aufsammeln zu müssen. Ich erklärte ihm, dass wir uns nicht die nächsten Wochen anschweigen könnten und dass er mir ruhig erzählen könne, was ihm dazwischengekommen sei.
“An dem Sonntag Morgen war ich mit meiner Freundin in Trier und auf dem Rückweg haben wir uns ganz furchtbar gestritten. Da hat die mich mitten in der Pampa aus dem Auto geworfen und ich musste 25 km zu Fuß heimgehen. Da hatte ich auch keine Lust mehr, noch mit irgendeinem zu telefonieren.”
Irgendwie beschleicht mich der Verdacht, dass Konrad in einer erpresserischen Beziehung lebt: “Entweder, Du tust, was ich sage oder ich verlasse Dich, und dann siehst Du Dein Kind nie wieder!” Im Dunstkreis meines eigenen sozialen Umfelds war bereits ein solcher Fall aufgetaucht. Irgendwie habe ich aber auch den Verdacht, dass Konrad seiner Freundin erst auf den letzten Drücker von seinen Plänen, nach Trier zum Essen zu fahren, erzählt hatte, wodurch sich der Doppeltermin (morgens mit der Freundin und nachmittags zu uns nach Trier) und die dadurch erst möglich gewordenen Probleme des Tages ergeben hatten.
Wie dem auch sei: Ein Schuss in den Ofen war es allemal, und umso seltsamer ist es zu hören, dass ausgerechnet diese beiden mich zur Religion bekehren wollen.

Übrigens hatte Konrad auch mit Felix und dem Winzer mal ausgemacht, sich morgens zu einem Frühstück im Pausenraum zu treffen – das setzte allerdings voraus, spätestens um kurz nach Fünf in der Halle zu sein. Konrad, in üblicher Manier, kam um kurz vor halb Sechs und es blieb keine Zeit fürs ausgemachte Frühstück. Die beiden anderen boten mir seinen Teil an, aber ich lehnte dankend ab, da ich jeden Morgen zuhause frühstücke und ich beim Arbeiten mein Blut im Kopf und nicht im Bauch brauche. Die zwei redeten dann auch den Tag über nichts mit Konrad. Irgendwie ist der Typ schon eine arme Sau, aber ganz unschuldig ist er daran nicht.

Springen wir wieder ein paar Wochen nach vorn in der Zeit: Der Winzer musste aus gesundheitlichen Gründen aufhören (er fand schließlich wohl zurück in den Schoß des Familienunternehmens) und wir fanden nach langem Hängen und Würgen einen Nachfolger. Wie soll ich den nennen? Der Kleine hatte ihn aufgetrieben und zum Probearbeiten überredet, nachdem wir wegen eines Batterieschadens an der 440 ein Überbrückungskabel gebraucht hatten. Beide wohnen am Weidengraben, wie auch Puck und meine Wenigkeit, nur in einem anderen Haus, und kollektiv nenne ich sie in Anlehnung an ihre Vornamen “die M&Ms”, aber ich will ja keine Klarnamen nennen.

In Anlehnung an seine Körperfülle nenne ich den neuen mal “Big M”.
Big M hatte zuvor bei Heister gearbeitet, einem durch Radiowerbung weithin bekannten Unternehmen, das vorrangig mit Autos handelt, und natürlich auch mit den Dienstleistungen drumherum; Big M ist gelernter Mechaniker, der mit einem hervorragenden Prüfungszeugnis Geselle geworden war. Jetzt kann man sich kaum vorstellen, dass man irgendwo noch weniger verdient als in meinem Job – aber es ist so. Seit Big M bei uns arbeitet, verdient er über 100 E mehr als vorher. Seine Kündigung wurde auch dadurch motiviert, dass man sich bei Heister nicht einmal die Mühe machte, ihm Aufstiegschancen auch nur vorzugaukeln. Big M wollte ja irgendwann seinen Meister machen, wurde aber immer vertröstet, ebenso ging es ihm mit seinen Ersuchen, ein Gehalt zu bekommen, das seiner Leistung entsprach.

Kurz und gut: Er ergriff die Gelegenheit beim Schopf, ließ Heister hinter sich und wurde Fahrer bei uns. Es muss ein echt mieser Job gewesen sein… denn Aufstiegschancen gibt es bei uns überhaupt keine, es würde gar keinen Sinn machen, einem Mitarbeiter etwas solches vorzumachen. Es gibt nur den Chef, den Disponenten und die Fahrer. Der Disponent ist 37 Jahre alt, selbst wenn er nicht bis zur Rente in dem Laden bleibt, treibt es ihn frühestens in ein paar Jahren woanders hin. Und seien wir mal ehrlich: Wer als Fahrer in dieser Firma bis zur Rente bleibt, kann sich für die Zeit danach schonmal eine hübsche Brücke zum drunter wohnen suchen.

Big M lernte schnell, machte sich gut, wurde aber vom Pech verfolgt.
An dem ersten Tag, an dem er ohne Begleitung die Tour in Wittlich bediente, hielt ihn die Polizei an, und den Beamten war das Fahrzeug nicht geheuer. Sie begleiteten ihn zur nächsten DEKRA Werkstatt und ließen den Wagen unter die Lupe nehmen. Fazit: “Dieses Fahrzeug ist nicht straßentauglich und stellt eine ernste Gefährdung der Verkehrssicherheit dar.” Achse verzogen. Blattfedern gebrochen. Bremssystem mangelhaft. Getriebe auf der Kippe. Einen Drogentest machten sie auch, zur Sicherheit. Immerhin waren weder Drogen noch Alkohol im Spiel. Dennoch: Ein Bußgeld von 138 Euro, und sein Führerschein hängt seitdem am seidenen Faden, der Fall ist noch nicht entschieden.
Big M brauchte ein anderes Fahrzeug, nachdem man ihn drei Stunden festgehalten hatte. Peter stellte es zur Verfügung und rief mich an, worauf ich nach dem Ende meiner Tour noch nach Wittlich fuhr und Big M bei der Erledigung der verbliebenen Stopps behilflich war.

Auch dieses Ersatzfahrzeug brach einige Tage darauf zusammen und verweigerte die Leistung. Big M war daher des öfteren zu Gast in der Werkstatt im fernen Plaidt und bestätigte, was bislang nur gemutmaßt worden war: Von den drei Leuten, die dort die Autos herrichten, hat nur einer, ein Russe von über 50, das Mechanikerhandwerk tatsächlich gelernt. Die anderen beiden, Yoghurt und Frank, sind nur angelernt. Und Big M war nicht begeistert von deren Fähigkeiten. In den wenigen Stunden, die er dort war, fand er die Fehler bei drei Transportern, die bereits seit Tagen untersucht wurden. Bei einem zum Beispiel war ein wichtiges Metallteil abgefallen – man frage mich nicht nach den notwendigen Fachbegriffen, davon habe ich keine Ahnung. Frank schweißte daraufhin einfach ein neues dran. Das neue Teil fiel nach drei Tagen wieder ab. Warum? Weil das neue Teil aus einem anderen Metall bestand und die unterschiedlichen Wärmeausdehnungskoeffizienten die Schweißnaht bersten ließen. Big M zeigte sich total begeistert. Wir ebenfalls, denn schließlich hängt unser Leben davon ab, dass in dieser Werkstatt qualifizierte Arbeit geleistet wird.
Der Chefoberboss bot ihm sofort einen Job an und um den Umzug nach Plaidt würde er sich ebenfalls kümmern. Big M lehnte ab. Die Frage nach dem Gehalt war nur ausweichend (also gar nicht) beantwortet worden.

Wenige Tage später nahm ihm ein LKW-Fahrer im Wittlicher Industriegebiet die Vorfahrt; Big M wich gerade noch so aus, setzte das Auto aber in den Graben, was die gesamte Ladung durcheinanderschaukelte wie Würfel in einem Lederbecher. Dabei gingen Behälter mit Lack kaputt. Big M schaufelte das Gröbste aus dem Wagen, fuhr zu einer namhaften Firma für Tiefkühlkost und bat dort um Utensilien für die Reinigung, die man ihm großzügig gewährte. Die unfreiwillige Neugestaltung des Laderaums war noch das Mindeste, denn viele andere Pakete waren durch den Lack verschmutzt bis gar beschädigt und der Inhalt unbrauchbar geworden.
Ob der Fahrer des fraglichen LKWs zur Rechenschaft gezogen werden konnte, ist mir zum aktuellen Zeitpunkt nicht bekannt.

Zwischendurch brachte Big M einen Bekannten mit, einen klassischen Sozialverlierer, kurz vor volljährig, der an wichtigen Punkten in seinem Leben die notwendigen Entscheidungen mangels Taten immer wieder an die Wand gefahren hatte. Ich nenne ihn wegen einer Tätowierung auf seinem Unterarm Yagi. Peter hatte sich wohl einverstanden erklärt, ihm durch offizielle Aussicht auf einen Job den Führerschein mit Hilfe des Arbeitsamts zu ermöglichen.
Yagi arbeitete ein paar Tage mit uns. Er fuhr mit Big M, der ihm zeigte, wie die Technik funktionierte und all das – aber Yagi scheiterte an seiner kurzen Aufmerksamkeitsspanne. Wenn man mehrere Kunden hat, die eine größere Zahl Pakete vom gleichen Versender erhalten, muss man aufpassen, dass man in der Eile nicht ein falsches ausgibt, aber leider passierte etwas solches. Glücklicherweise wurde es nach wenigen Tagen wieder gefunden, aber zuerst hatte man dem betroffenen Kunden erklären müssen, dass ein Paket mit seiner Ware verschwunden war. Yagi machte lauter kleine Fehler, und sicherlich keine bedeutenderen, als andere Neulinge. Aber ich habe den Eindruck, dass er deswegen deprimiert war und aus dieser Anspannung heraus noch weitere Fehler machte, sodass sein Ego keine Chance hatte, wieder ins Reine zu kommen. Der Knoten platzte nicht, stattdessen lief das Fass über. Yagi vergaß, eine Nachnahme von ein paar Hundert Euro zu kassieren, obwohl vor dem Bildschirm, in dem man seine Unterschrift setzt, ein Fenster mit Lautsignal erscheint, das in aller Deutlichkeit daran erinnert, dass es sich um eine Nachnahmesendung handelt. Niemand weiß, wie er das übersehen konnte. Ich glaube, er war einfach nervös, unausgeschlafen und hatte eine Art Aussetzer. Big M schimpfte mit ihm, er solle sich zusammenreißen, wo ein bisschen mehr Einfühlungsvermögen sicherlich ratsam gewesen wäre. Yagi fuhr, gedemütigt durch sein eigenes Unvermögen, die nächste Entscheidung an die Wand: Er rannte davon. Im übertragenden Sinne natürlich, aber er kehrte dem Depot den Rücken und sah eine weitere kleine Hoffnung in seinem wohl eher aussichtslosen Leben schwinden.

Anfang Juni meldete sich der Kleine krank: Steißfistel. Er konnte nicht mehr sitzen, die Beule musste entfernt werden. Etwa um die gleiche Zeit setzte mich Mike angesichts zu geringer Frachtzahlen für einen Tag mit Knut in ein Auto, damit ich mir dessen Tour mal ansah. Ich machte mir Notizen zu Hintereingängen, Garagen, Abstellgenehmigungen, Warenannahmezeiten und Mittagspausen. Hauptsächlich Industriegebiete, vornehmlich Trier West. Gar nicht mein Ding. Aber mir dämmert, dass Mike die Hoffnung hegt, ich könne eine Art Allrounder werden, der jede Tour gut genug kennt, um bei Krankheit oder Urlaub des eigentlichen Fahrers im Notfall einspringen zu können, ohne gleich überfordert zu sein.

Weniger als einer Woche später telefonierte ich um etwa 13 Uhr mit Big M wegen einer Freizeitangelegenheit nach Feierabend. Um etwa halb Vier erhielt ich einen Anruf von Felix, in dem er mir mitteilte, dass Big M einen Unfall gehabt habe und er deshalb in Witllich aushelfen müsse, weitere Details kenne er noch nicht.
Am Abend telefonierte ich mit Peter. Wie es aussieht, war ihm eine Britin unter Missachtung der Vorfahrt in seine rechte Seite gefahren, etwa auf Radhöhe. Den weiteren Blechschäden nach zu urteilen war sie danach mit der Länge des Autos in die Seite des Sprinters geschleudert. Big M traf keine Schuld. Es hieß, die Polizei habe ihn sogar gelobt: Er hatte im entscheidenen Moment das Steuer noch nach links gerissen und damit den Aufprallwinkel zugespitzt, die Personenschäden wären sonst gravierender gewesen.
Dabei waren sie gravierend genug: Big M hatte sich das rechte Knie heftig an der Lenksäule angeschlagen und den Rücken verzogen. Der Rücken war nach ein paar Tagen Ruhe wieder in Ordnung, aber das Knie war dick geschwollen und es zeigte sich, dass die Gelenkkapsel gerade mal nicht abgerissen war.
Im schmerzfreien ersten Moment, als man ihn in den Krankenwagen schob, hatte er noch zu Peter gesagt: “Ach, ist nicht so schlimm, ich komm morgen wieder.” Der Kleine war ja krankgeschrieben, er wusste, dass es gerade wieder eng war und er wollte niemanden im Stich lassen.

Fünf Wochen später hielt er es zuhause nicht mehr aus, verweigerte eine Reha und kam wieder zur Arbeit. Der Arzt hätte ihn noch eine Weile krankgeschrieben, aber da es ihm so wichtig schien, ließ er ihn gewähren – “auf eigenes Risiko”.
Big M kam zur Arbeit – der Kleine war immer noch auf Krankenschein – und klagte über Schmerzen im Knie, aber er wolle durchhalten. Die einen mutmaßten, er habe lediglich Angst um seinen Job und traue sich deshalb nicht, den Krankenschein zu verlängern, die anderen nannten ihn schlicht einen Deppen, weil er in seinem jugendlichen Aktionismus seine Gesundheit gefährdete. Big M ist erst 20 und damit der jüngste in der ganzen Halle. Sogar Antonius ist älter. Der Kleine ist wohl der dritte in dieser Reihenfolge.

In diesen fünf Wochen brach das so genannte Sommerloch an – nur dass wir dieses Jahr nichts davon merkten. Der Engel und Knut bekamen die Tour des Kleinen mit dazu, ich übernahm die Gegend von Trierweiler und Newel für Knut, Rudi musste nach Zemmer, Orenhofen und Speicher fahren, je nach Bedarf fuhr der Engel, Rudi oder meine Wenigkeit die Kunden in Kordel und Welschbillig. Felix bekam immer wieder ein paar Posten aus der Wittlicher Tour, die meist von Mike gefahren wurde. Das Sommerloch füllte sich mit der Fracht zweier fehlender Mitarbeiter, und als Felix seinen einwöchigen Sommerurlaub antrat, hatten wir anderen ein Gefühl wie an Weihnachten – und das ist in diesem Geschäft keineswegs etwas positives.

Knut und der Engel, so unterschiedlich ihr Musikgeschmack auch ist, sind sich in Fragen von Humor und Sprüchen so gleich wie eineiige Zwillinge. Natürlich machen die beiden Sprüche, und wenn man unterm Steiß etwas herausgeschnitten bekommt, muss man sich um den Spott nicht weiter kümmern, gerade bei so dauergefrusteten Leuten wie dem Engel. Ich will das im Einzelnen nicht widergeben, ich bin allerdings der Überzeugung, dass dieses Geblöke nichts anderes ist als genau das: Dumme Sprüche, die nicht ernst gemeint sind. Auch denen beiden ist klar, dass der Kleine sich seine Fistel nicht ausgesucht hat, und dass er im Gegensatz zum Engel, der seinen Führerschein wegen zu hoher Geschwindigkeit über drei Monate lang nicht hatte und damit seinen Kollegen gehörig auf den Senkel ging, keineswegs schuld an dem Zustand war. Der Kleine offenbarte allerdings eine bedauerliche Verwundbarkeit gegenüber solchem Verhalten. Es scheint, dass er sich zuhause vergräbt, nur den nötigsten sozialen Kontakt hält und am liebsten überhaupt nicht mehr zu Transoflex zurückkehren möchte, weil er glaubt, der Häme nicht gewachsen zu sein. Dabei hält er sich an einem Strohhalm fest: Ein früherer Arbeitgeber hat ihm scheinbar angeboten, ihm einen LKW-Führerschein zu bezahlen, falls er sich zwei Jahre lang vertraglich fest verpflichtet. Irgendwie passt das nicht zusammen. Wenn dieser alte Chef so toll ist, warum hat der Kleine dann irgendwann mal gekündigt? Auch Big M ist der Meinung, dass der Kleine sich einer Art Wunschdenken hingibt, und dass ihm nur die innere Stärke fehlt, den Sprücheklopfern übers Maul zu fahren, wie man so sagt. Was mir noch mehr Sorgen macht, sind die Schmerz- und Schlafmittel, die der Kleine von seinem Arzt erhält. Er sagt, die gewöhnlichen Medikamente zeigten nicht genug Wirkung, weswegen er sehr starke erhalte, richtige Wirkstoffbomben. Ich hoffe, dass er keine Langzeitfolgen wegen dem Zeug zu tragen hat.

Natürlich machten wir uns auf die Suche nach Vertretungen. Für Felix kamen zwei Jungs aus Koblenz runter, Peter trieb einen jungen Mann aus der Saarstraße auf, wegen seines Namens nenne ich ihn Kelvin II.
Der war Mechatroniker, lernte auch fix, hatte aber auch mehrere Eisen im Feuer, wie sich zeigte. Nach wenigen Tagen war er bereits so weit, dass er 50 Stopps in Wittlich in einer angemessenen Zeit fahren konnte. Der zu dem Zeitpunkt noch abwesende Big M machte sich in dieser Zeit wirklich Sorgen um seinen Job. “Wenn der Wittlich fährt, was fahr dann ich?” Als ob es nichts anderes gäbe, was Big M fahren könnte. Es schien sich nämlich u.a. zu konkretisieren, dass Konrad Ende Juli endgültig und tatsächlich die Firma verlassen würde, für einen Lagerjob, der ihm mehr Geld und mehr Zeit für seine Familie bringen würde.
Aber auch mit Kelvin II. sollte es nichts werden. Er werde nach Chemnitz gehen, erklärte er nach etwa zwei Wochen. Er habe einen Sohn im Alter von sechs Monaten, der dort wohne, und den könne er fast nie sehen, wenn er in Trier bliebe (vor allem bei dem Gehalt, das wir bekommen). Ich fragte ihn nicht nach den genaueren Umständen dieser Familientrennung und wünschte ihm viel Glück.

Danach brachte Mike einen Fahrer, der zuvor schon als Fahrer und das auch noch im Bereich Wittlich gearbeitet hatte. Mike war begeistert. Der Neue kannte nicht nur die Gegend auswendig, sondern auch noch alle Kunden. Er müsse noch die Kündigungsfrist bei seinem aktuellen Arbeitgeber abarbeiten und stehe dann ab der letzten Juliwoche zur Verfügung. Auch diese Neuigkeit schmeckte Big M natürlich gar nicht und er sieht schon mit Schrecken der Mitteilung entgegen, dass man ihm die Tour um Morbach herum geben werde, obwohl noch niemand etwas solches gesagt hat.

13. Mai 2012

Gaytal-Kamikaze (Teil 10)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 20:03

Noch mehr Leute sind uns abhanden gekommen:
Dan war der erste. Bei dem hatte sich herausgestellt, dass bei einem Kunden drei Pakete fehlten. Es handelte sich um eine bekannte Parfümeriekette und der Inhalt der drei Pakete hatte einen vierstelligen Wert. Die Gesamtlieferung war über 150 Pakete groß, also sollte jemand hingehen, um das vorhandene Material zu zählen, es könnte ja beim Durchzählen der Pakete ein Fehler passiert sein. Da schickt man natürlich einen mit diplomatischem Geschick, mit entsprechender Rhetorik und vertrauensschaffender Ausstrahlung. Mich. Nun gut, ich war die natürliche Wahl in diesem Fall, nicht zuletzt, weil ich das Lager bereits stellvertretend beliefert hatte und weil der Leiter des Lagers aus Neunkirchen stammt; meine bisherige Erfahrung der vergangenen Jahre besagt, dass man von Saarländer zu Saarländer “im Ausland” in der Regel einen guten Draht zueinander hat, und ich verstehe diesen Draht auch auf Betriebstemperatur zu bringen – ein gemeinsamer Dialekt wirkt verbindend und ich würde die Gespräche als sehr harmonisch bezeichnen.
Die Gesamtanzahl der Pakete stimmte zwar, aber vier davon gehörten zusammen und bildeten eine Einheit. Es fehlten drei und dabei bliebs. Dan meldete sich erst krank und kündigte dann fristlos.

Danach ging Charley. Der kam eines Morgens zu mir und sagte: “Du, ich glaub, ich hab voll Scheiße gebaut… ich hab ein Paket abgestellt und jetzt isses weg…”
Seine Geschichte dazu: Er war morgens zehn Minuten vor der Öffnung zu einer Apotheke gekommen und weil er nicht warten wollte, stellte er das Paket einfach vor die Tür. Leider fand der Apotheker das Paket nicht dort vor, wo Charley es angeblich hingestellt hatte. Bei dem Inhalt handelte es sich um Medikamente im Wert von knapp 2000 Euro. Auch Charley kündigte daraufhin fristlos.

Nun erscheint es natürlich verdächtig und wie eine Art Schuldeingeständnis, wenn die Leute die Flucht antreten und fristlos kündigen, aber es gibt auch andere Auffassungen: “Wenn jemand was teures verliert oder kaputt macht, kündigt er fristlos, weil er dann sofort in Hartz-IV rutscht und sein Konto nicht gepfändet werden kann.”
Das klingt plausibel, für mich als Laien, aber ich verstehe zu wenig von den juristischen Hintergründen, um eine Meinung dazu zu haben.

Am erschreckendsten war irgendwie der Abgang des fröhlichen Winzers. Der hatte kein Paket geklaut, verloren oder zerstört, sondern was ganz anderes. Wir wissen ja alle, dass mit dem was nicht stimmt, wenn er still ist, und so erzählte er vor Wochen, dass er sich ganz heftig mit seiner Freundin gestritten habe und dass sie sich trennen wollten. Sich von der Frau trennen, die er die ganze Zeit als “perfekt” bezeichnet hatte? Na ja, dachte ich noch, so ist das halt mit Jugendlichen, die übertreiben im hormonellen Überschwang gern ein bisschen.
Von anderer Seite wurde mir erzählt, dass die beiden sich schon öfter heftig gestritten hatten, aber letztendlich doch sehr aneinander hingen und immer wieder zusammengekommen waren… der fröhliche Winzer lachte sich dennoch in Kürze eine andere Frau an, aber aus seinen Erzählungen musste ich schlussfolgern, dass es sich um eine rein körperliche Beziehung handelte. Scheinbar eine Tierärztin oder eine Tierarzthelferin, die zu unseren Kunden gehörte. Er sagte ihr nach, vermehrt 20-Kilo-Säcke Hundefutter zu bestellen, nur um ihn zu ärgern und zu sehen. Wie dem auch sei – eines Tages meldete er an, demnächst einen Arzttermin zu haben, ging nach der Tour dorthin und wurde just in die nächste psychotherapeutische Anstalt eingewiesen. Wir rechnen nicht damit, dass er nochmal auftaucht.

Dass er ganz ausfallen würde, kam völlig überraschend, und Peter musste tags darauf einen Fahrer aus Koblenz nach Trier bestellen, damit Wittlich beliefert werden konnte. Der brachte den Wagen mit der Nummer 440 mit – das war der Wagen des Winzers, den dieser vor ein paar Monaten wegen eines Motorschadens zur Werkstatt nach Plaidt gebracht, dann aber einen anderen Wagen erhalten hatte, die 440 war zunächst in Koblenz eingesetzt.
Die 440 fuhr nun also mit wechselnden Fahrern wieder in Trier und es ergab sich, dass in diesen Tagen meine 560 zur Werkstatt musste und ich erhielt bis zur Übergabe des Wagens 540 die 440. Glücklicherweise fand ich darin eine CD, die ich dem Winzer vor langer Zeit mal geliehen hatte, unversehrt sogar. Die CDs vom Winzer waren leider in keiner Hülle untergebracht und sahen extrem unbrauchbar aus, völlig verkratzt. Ich warf sie beim Säubern des Fahrzeugs weg. Ich fand allerdings auch einen kleinen Plastiklöwen, den der fröhliche Winzer immer dabei gehabt hatte – den werde ich ihm bei Gelegenheit schicken. Ich erzählte Felix von dem Plan, aber der meinte, der Winzer werde sich für den Löwen kaum interessieren. Ich mag sentimental veranlagt sein, aber ich glaube, dass solche kleinen Dinge oft große Wirkungen haben können, gerade bei emotional instabilen Menschen.

Und – Konrad wird Ende Juni gehen. Er hat einen Job mit besseren Arbeitszeiten und besserer Bezahlung gefunden, in irgendeinem Speditionslager.

Was bedeutet dies für die “Schichtung” der Belegschaft? Das bedeutet, dass nur noch der Engel dienstälter sein wird, als ich, und ich bin am 17. Mai ein Jahr dabei. Anders ausgedrückt: Am 1. Juli werden der Engel und ich die einzigen am Band sein, die am 17. Mai 2011 bereits dort gearbeitet haben. Alle anderen sind fort, die meisten aus nicht eben positiven Gründen. Ich muss aber erwähnen, dass ich drei Leute nicht in diese Rechnung mit einbeziehe: Elmo, Mike und Peter sind natürlich auch noch da, aber Elmo ist LKW-Fahrer, Mike ist der Disponent und Peter ist der Chef, in meiner Wahrnehmung ist das eine andere Klasse von Leuten als “die, die am Band stehen”.

Wir brauchten also dringend neue Leute, und das scheint schwierig zu sein.
Peter brachte an einem schönen Morgen einen zu mir und sagte, ich solle ihm zeigen, wie der Laden so läuft mit Scanner und Beladen und so weiter. Zwanzig Minuten später meldete er sich ab und ward nie wieder gesehen. Peter kam zu mir und fragte, wie ich den denn so schnell vergrault hätte? “Das ist ein Student, der sucht einen Nebenjob. Der hat eben erst erfahren, dass es sich hierbei um einen Vollzeitjob handelt. Der hat keine Zeit, 50 bis 60 Stunden die Woche zu arbeiten.”

Auch Bert brachte einen Freund mit, der Interesse hatte, der schien ganz intelligent und umgänglich – hatte aber erst seit wenigen Wochen einen Führerschein. Als er den Wagen rückwärts auf seinen Platz einparken sollte, brach er in Schweiß aus und wäre wohl blass geworden, würde seine Hautfarbe dies zulassen. Drei und eine halbe Kurve sind dazu zu bewältigen: Ins Tor, um den Disporaum herum, zwischen den gelben Pfosten durch und dann in die Lücke. Er schaffte das zwar nach ein bisschen Gekurbele, sagte aber, er traue sich sowas noch nicht zu.

Weiterer Versuch: Ein Russe im mittleren Alter, sah nach einer gewissen Lebenserfahrung aus. Um kurz vor Sieben meldete er sich ab, weil er zur Toilette müsse. Wir haben ihn nie wieder gesehen.

Dann ein Pole. Er lebte erst seit kurzem in Deutschland und sprach besser Englisch als Deutsch, weswegen auch der bei mir landete. Seine Schwester sei Englischlehrerin, erzählte er. Der schien auch ganz vernünftig und Mike hatte angekündigt, dass er nicht die ganze Tour mitfahren würde, da er noch andere Termine habe. Im dritten Ort, in Speicher, stieg er dann aus, um seinen Bruder zu treffen. Er werde sich dann melden. Hat er aber nicht.

Ein Russe meldete sich bei uns und wurde mir zugeteilt. Er habe in der Moskauer Großregion mit einem Zehntonner Schweinehälften von einem Schlachthof an Metzgereien ausgeliefert. Der schien auch vernünftig und erschien sogar am Folgetag noch einmal, obwohl er mit meinem Fahrstil nicht zurecht kam. Die Eifeler Kurven machten ihn nervös. “Wenn ich selbst fahre, ist das in Ordnung, aber fahr bitte nicht so schnell!”
Ich dachte erst, der macht Witze, aber er meinte das ernst, also nahm ich ich die Geschwindigkeit etwas zurück und ließ ihn in die zweite Hälfte fahren. Und er hatte das Glück, montags dabei zu sein – da ist in der Regel nicht so viel los und wir mussten nicht nach “3DI” (Dasburg-Dahnen-Daleiden-Irrhausen), was uns 45 Minuten sparte.
“Soll er nochmal mit Dir fahren?” fragte mich Mike dann am Dienstag.
“Klar, kann er, aber vielleicht sollte er auch mal eine Stadttour sehen?”
Er fuhr dann mit der Bitburger Tour. Am dritten Tag kam er dann nicht mehr.

Ein Araber machte das ganz dramatisch: Mike fuhr die Wittlichtour, der Araber fuhr mit. Natürlich wollte der auch irgendwann mal wissen, was man denn hier so verdiene, und Mike drückte sich stundenlang um eine Antwort herum. Am frühen Nachmittag ließ er dann die Katze aus dem Sack: Er könne mit 1200 bis 1300 Euro netto rechnen.
“Was!? Ich will sofort hier raus! Ich brauche mindestens 1800 Euro im Monat!”

Ein junger Trierer sprach auch mal vor, er hatte ebenfalls bereits als Fahrer gearbeitet. Zufällig trägt er den selben Vornamen wie ich… ich glaube, er war der einzige Bewerber, der von Peter abgelehnt wurde. Der war ja ganz nett, aber müsste ich seinen IQ schätzen, wäre ich noch vorsichtig, ihn gerade mal bei 75 anzusetzen. “Ich glaube nicht, dass der weiß, wie man 75 schreibt…” sagte der Kleine dazu. Mein Namensvetter jedenfalls blieb nicht und angeblich hat er eine Anstellung beim IT-Haus in Föhren gefunden.

Einen Türken hatten wir zwischendurch auch da, der nicht nochmal auftauchte.

Dann: Eine Frau. Eine zierliche Frau um die 30. Na gut, warum nicht? Mike kannte sie von früher, sie hatte für ein anderes Transportunternehmen gearbeitet und hatte sogar Ortskenntnisse im Wittlicher Raum. Man erzählte mir von ihr, dass sie ihren ersten Einsatztag in einer ganz passablen Zeit hinter sich gebracht habe. Endlich!
Aber es hat nicht sollen sein. Nach vier Tagen schrieb sie Mike eine SMS, in der sie ihm mitteilte, dass sie den Job doch nicht machen könne und dass sie den Wagen auf dem Parkplatz in der Nähe des Depots abgestellt habe. Es dauerte ein paar Tage, bis durchsickerte, was vorgefallen war:
Der Plan war, dass auch ihr Freund ab Anfang Juni bei uns arbeiten sollte, aber kaum, dass sie angefangen hatte, zerstritten sich die beiden und beide machten einen Rückzieher. Die wollten sich natürlich nach der Trennung nicht jeden Tag bei der Arbeit über den Weg laufen, und scheinbar hatte keiner dem anderen gesagt, dass er/sie nun doch nicht dort arbeiten werde. Die beiden kegelten sich also durch Kommunikationsmangel gegenseitig raus.

Es begab sich aber dennoch, dass zwei neue Fahrer gefunden wurden: Den ersten nenne ich mal “Rudi”, nachdem der Winzer ihn spontan so genannt hatte. Zu dem anderen Fahrer, der Kleine hat ihn gewissermaßen angeworben, komme ich später.

Ich weiß nicht, ob jemand Rudi an uns vermittelt hat oder wie er zu uns kam, er war halt auf einmal da, bekam von Bert die Bitburgtour gezeigt und blieb, mittlerweile seit etwa drei Monaten.
Seit er da ist, gibt Bert ständig französische Kommentare ab, durch die halbe Halle:
“Mon ami! Mon ami!” (Damit ist Rudi gemeint.)
“Was willst Du?”
“Ca va bien?”
“Oui, ca va bien. Et toi?”
“Komm her, mon ami, hilf mir einladen!”
“Du gehst mir auf die Eier!”

Jeder weiß, dass dies alles nur Spaß ist. Es ist auch lustig und lockert die Stimmung (obwohl die Stimmung das nicht unbedingt nötig hat).

Aber was soll man im Gesamtbild über Rudi sagen? Ich finde ihn nicht unsympathisch, er scheint vernunftbegabt in einem libertären Sinne. Um zu erfahren, was das für einer ist, wollte ich ihn einladen, zusammen mit Konrad, weil Rudi Couscous mit Lamm zu kochen bereit war, worauf Konrad gelinde gesagt scharf war; wir einigten uns also, dass er das Essen bei mir machen würde, dass jeder einen Anteil zahlt, und so weiter. Leider kams dazu nicht, weil Konrad, der ihn hätte abholen sollen, nicht auftauchte und auch telefonisch nicht erreichbar war… dazu später mehr.

Eigentlich fing es gut an, denn er machte nicht mehr Fehler, als jeder andere Anfänger; aber leider neigt Rudi auch zu Starrsinn und Lernverweigerung, wenn er etwas nicht versteht, dann heißt das nach meiner Auffassung in der Regel, dass er nicht verstehen will, weil es seiner fest gefügten Meinung zuwider läuft; er macht Fehler, die man nach drei Monaten eigentlich nicht mehr macht. Ein Lernprozess ist kaum feststellbar.

Zum Beispiel, dass es notwendig ist, jeden Tag ein Fahrtenbuch zu führen, in dem man festhält, wann man gefahren ist und wann man Pause gemacht hat, und wieviele Kilometer man gefahren ist. “Das dauert ja fünf Minuten! Das dauert mir zu lange!” Das Argument, dass die Behörden bei unvollständigen Fahrtenbüchern für jeden nachweislich fehlenden Tag ein dickes Bußgeld einfordern, schien nicht zu wirken. Peter führte ihm das Ausfüllen sogar vor: Datum, Kennzeichen, Stundennachweis, gefahrene Kilometer durch die Berechnung der Differenz der Kilometerstände zu Fahrtbeginn und zum Fahrtende – in weniger als einer Minute. Seitdem scheint er widerwillig ein Fahrtenbuch zu führen.

Nicht zuletzt deswegen führte Peter Konventionalstrafen ein, um die Leute zu motivieren, ihre ausgefüllten Unterlagen jede Woche bei ihm abzugeben. Puck, Konrad und meine Wenigkeit sind die einzigen Fahrer, die neben ihren Fahrtnachweisen z.B. auch ihre Tanknachweise regelmäßig abgeben. 🙂

Das Dumme mit Rudi ist aber auch, dass er die Prioritäten beim Arbeiten nicht einhält, und ich habe ihn mehrfach darauf hingewiesen:
– Komm spätestens um 0515, damit Du vor Bandstart genug Zeit zum Unterlagen- und Nachnahmeabgeben und zum Anmelden des Scanners hast
– Das Wichtigste ist das Abräumen der Pakete vom Band, damit andere nicht Deine Pakete runternehmen müssen und Du die Dinger nachher nicht suchen musst
– Das Zweitwichtigste ist das Scannen der Pakete, damit Du weißt, wie viele Du schon da liegen hast und wie viele Du noch woanders suchen musst
– das Drittwichtigste ist das saubere Aufstapeln der Pakete in sinnvoller Reihenfolge, das spart Zeit beim Einladen
– Das Viertwichtigste ist das Einladen, was im Auto drin ist, ist drin, man sollte also auch die Ladefläche beim aufstapeln nutzen
– Das Fünftwichtigste ist das Setzen der Stopps in umgekehrter Fahrreihenfolge, das macht man in kurzen Pausen und spart Zeit bei der Abfertigung.

Was macht der? Kommt ungefähr um halb Sechs, kommt erst ans Band, wenn es bereits läuft, weil er noch Geld und Unterlagen abgeben muss, dann kann er erst mal nichts scannen, weil sein Gerät noch nicht bereit ist, und natürlich braucht er erst mal einen Kaffee, nachdem er reingefahren ist. Dann beschäftigt er sich mit Stopps und konzentriert sich auf seinen Scanner, während ein Paket nach dem anderen an ihm vorbeiläuft. Oder er verschwindet einfach mal irgendwohin. Ursprünglich habe ich dann seine Pakete runtergenommen, aber das hatte einen negativen Lehreffekt. Von knapp 146 seiner Pakete hatte ich 64 in der Hand. Aber ich will ja keinen hängen lassen – bis er mich wirklich nervte:
Er fuhr seine Tour und schaffte den Kyllburger Tierarzt nicht mehr; Mike wies mir die neuen Pakete zu und ich sollte noch die vom Vortag von Rudi übernehmen. Unser Büro hatte die auf Status “Ausgeliefert” gesetzt und ich sollte sie per Nachquittung zustellen. Rudi griff drei Pakete aus seinem Auto und ich fragte ihn, ob das alle seien. Ja, das sind alle, sagte er. Ich kannte seinen Hang zur Ungeduld und oberflächlicher Arbeit:
“Bist Du sicher, dass das alle sind?”
“Ja, ganz sicher.”

Am Nachmittag kam ich dann zum Kunden und stellte fest, dass ein Paket fehlte. Der Tierarzt kannte mich und unterschrieb dennoch die Unterlagen, nachdem ich ihm versichert hatte, die fehlende Ware am Folgetag zu bringen. An eben jenem Folgetag kam Rudi dann mit Hundeblick zu mir und sagte, er habe leider noch einen Polsterumschlag für den Tierarzt gefunden.
Dass ich mich darüber ärgerte und ihm das übelnahm, verstand er gar nicht: “Das kann doch mal passieren!”
“Aber ich bin derjenige, der wie ein Idiot beim Kunden steht und dem erklären muss, dass seine bestellte Ware unvollständig ist, weil Du Deine Arbeit nicht richtig machst!”
Mit meiner Abräumerei für ihn ist es seitdem weitgehend vorbei, der muss an seiner Einstellung arbeiten.
Weil ich nett bin, versuchte ich es dann mal “vorgreifend”. Da ich relativ wenige Pakete habe, stellte ich mich VOR ihn ans Band und sagte seine Pakete an. Es nutzte nichts. Nachdem Puck, der Pakete vom IT-Haus fährt, drei oder vier in Folge für ihn abgeräumt hatte, fragte er ihn: “Sag mal, wenn Dominik Bitburg! ruft, glaubst Du, er macht Witze???”

Ein Laden in Rittersdorf sollte einmal ungewöhnlich viel Ware erhalten und Elmo sollte sie mit dem LKW hinfahren. Üblicherweise wird dann trotzdem bei Bitburg abgeräumt, weil Rittersdorf zur Bitburger Tour gehört und am Bandende, wo die überladene Trierer Tour steht, schlicht kein Platz ist.
Als dann Rittersdorfer Pakete an mir vorbeirollten, fragte ich ihn, warum er sie nicht runternehme?
“Ich fahre heute kein Rittersdorf.”
“Du musst es aber trotzdem abräumen.”
“Wieso? Ich fahre dort nicht hin.”
“Da unten ist kein Platz, um die Drucker zu stapeln!”
“Wieso kümmert Dich das? Das ist doch seine Arbeit, es muss doch jeder erst mal seine Arbeit machen! Warum soll ich das machen?”

Warum erzähle ich das? Um zu verdeutlichen, dass es ihm scheinbar völlig an Selbstreflexion mangelt. Denn das mit dem “jeder muss seine eigene Arbeit machen” hat er selbst noch nicht ganz kapiert, und seit eine Menge seiner Pakete das Band runterläuft, können ihn die da unten auch nicht mehr leiden – den letzten beißen die Hunde, und die Trierer Fahrer müssen verpasste Pakete in die Ecke mit den Irrläufern räumen.
Bei den Frauen im Büro hat er ebenfalls verschissen, denn wenn er etwas braucht, dann klingt das, als ob er Forderungen stellt, und nicht, als ob er um etwas bittet. Seine Blockadehaltung gegenüber Formalitäten (“Das verstehe ich nicht!” “Das mache ich nicht!” “Ich fahre da nicht hin!”) verstärkt diesen Eindruck durch klar erkennbare Ungeduld in seinem Tonfall. Sie halten ihn daher für frauenfeindlich. Ich glaube nicht, dass er das so meint, wie er es sagt, aber ich kann sie schon verstehen. Letztlich suchte er eine ganze Weile nach einem FedEx-Umschlag, von dem sich dann herausstellte, dass er tatsächlich vorhanden, aber mit einer falschen Postleitzahl bedruckt worden war. Er beschwerte sich darüber im Büro – obwohl die für solche Schlampereien gar nicht verantwortlich sind, der Fehler war weiter vorn in der Bearbeitungsreihe gemacht worden. Die Damen vom Büro schrieben daraufhin eine eigene Beschwerde wegen seines ungehaltenen Verhaltens und der Chef vom Depot nahm ihn in die Mangel.

Den bislang krassesten Vorfall schreibe ich seiner verunglückten Art von Humor zu.
Auf der Suche nach Paketen teilte ihm Laubschi mit, da seien welche bei den Irrläufern, er müsse sie nur aus der Ecke räumen. Und da hielt er ihr – ausgerechnet ihr, die man auch scherzhaft “Transohex” nennt – seinen Scanner hin und sagte sowas wie: “Da, Frau, mach.”
Ich zumindest behaupte, dass es sich um einen unglücklich ausgesuchten und vorgetragenen Scherz handelte, ich kann mir gar nicht vorstellen, wie jemand sowas ernst meinen könnte. Laubschi nahm das sehr ernst und war entsprechend angepisst. Ich glaube, Felix ist der einzige im Depot, den sie noch mehr hasst. Angepisst von dem Spruch war auch der Engel, der gerade dabei stand, denn der Engel geht mit Laubschi hin und wieder einen trinken. Dass es da nicht zu Handgreiflichkeiten kam, ist auch alles, was noch fehlte.

Rudi hat auch so eine Tendenz, Adressen nicht zu finden. Zum Beispiel eine “Kirchstraße”. Wo mag die wohl sein? Welches auffällige Gebäude könnte sich dort wohl befinden? Oder eine Neuerburger Straße in Bitburg? Ein Blick auf die Karte verrät einem, wo Neuerburg liegt und daraus kann man zumindest die Vermutung ableiten, in welcher Richtung die Straße aus Bitburg heraus laufen könnte. Aber auch Navis helfen ihm nicht. So rief er bei Mike an: “Soll ich echt nach Steinborn fahren? Das sind noch vierzig Kilometer ab Seinsfeld!” Er hatte Steinborn bei Daun angewählt, völlig anderer Postleitzahlenbereich, und war gleich in Panik verfallen, anstatt zu schauen, ob es möglicherweise noch ein weiteres Örtchen geben könnte, das so heißt. Zu “seinem” Steinborn waren es zum gegebenen Zeitpunkt nämlich gerade mal drei Kilometer. Und er ruft manchmal mehrfach am Tag wegen solcher Sachen an – er zeigt also auch Anzeichen von fortgeschrittener Unselbständigkeit, und die verstärkt sich natürlich mit seinem Unwillen, unklare Sachverhalte kühl überlegend zu prüfen – kostet ja alles Zeit, nicht wahr. Ein Muttersöhnchen, möchte man vermuten. Mike ist ein ruhiger Typ, aber Rudi nervt ihn ernsthaft.

Vermutlich fragt mich keiner… aber würde Peter mich fragen, könnte ich ihm nicht ruhigen Gewissens empfehlen, Rudi über die Probezeit hinaus zu beschäftigen.

26. April 2012

Gaytal-Kamikaze (Teil 9)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 18:03

Der Kurde machte sich. Er hatte seinen Gefahrgutschein geschafft, während andere im selben Lehrgang durchgefallen waren, und es schien ihm gut zu tun, er kam nur noch ganz selten zu spät zur Arbeit und schien disziplinarisch über den Berg. Er sagte nur manchmal mit einem Grinsen, dass er sich seine alte Tour in Bitburg zurückwünsche.
So vergingen ein paar Wochen und irgendwann im Dezember kündigte er dann an, ab Februar oder März werde er sich wieder beim Arbeitsamt einreihen. Da bei ihm nie sicher der Ernst von dem Spaß unterschieden werden konnte, schrieben wir das erst einmal seiner Nostalgie zu, die ihn scheinbar neuerdings mit Bitburg verband; sprich: Der neue Job als “Springer” für Notfälle und Gefahrgutfahrer erfüllte ihn vielleicht nicht und er hatte es vorgezogen, zu gehen (oder zumindest in dieser Richtung Witze zu machen).
Allerdings machte noch jemand anders eine ähnliche Bemerkung, was mich dann doch neugierig machte. Immerhin musste die Firma 600 E blechen, um die Lehrgangskosten zu zahlen, da lässt man doch den Belehrten nicht ein paar Wochen später einfach so wieder gehen? Ich fragte Peter und der sagte, er wisse von nichts. Nun gut…

Zeitsprung: Anfang März 2012. Betriebsversammlung im Pausenraum. Betriebsversammlungen sind nie ein Grund zur Freude. Der Kurde hatte mit dem Feuer gespielt und sich dabei in die Luft gejagt, bildlich gesprochen. Konkret ausgedrückt, sah das so aus und ich erläutere ein paar Abläufe, damit man sich das Gesamtbild vor Augen führen kann:

Ein Paket wird vom Kunden abgeholt und von dem für das Gebiet zuständigen Lager per Scan aufgenommen. Pakete verschiedener Kunden gelangen von dort aus in ein Zentrallager, in welchen Paletten aus Paketen zusammengestellt werden, die einem bestimmten Depot zugeordnet werden können, zum Beispiel Trier. Die ganze Palette erhält einen Barcode, der beim Be- und Entladen des LKWs gescannt wird, um das Vorhandensein der Palette zu bestätigen. Im ausliefernden Depot wird die Palette abgepackt und der Wareneingang scannt noch einmal jeden einzelnen Barcode der einzelnen Pakete, damit der Server weiß, dass die Ware vor Ort ist (der so genannte RWE-Scan). Die Fahrer nehmen die Ware ihrer entsprechenden Postleitzahlen dann vom Band und bestätigen den Empfang ihrerseits wiederum mit einem so genannten Beladescan.

Die vor unser aller Augen operierende kriminelle Gruppe, bestehend aus dem Kurden und drei Leuten vom Band (nennen wir die mal Luigi und die beiden coolen Jugendlichen), machte sich unter anderem zu nutze, dass die verwendeten Scanner durch den häufigen Gebrauch schon ein paar Gebrechen zeigten. Luigi übernahm den RWE-Scan und täuschte bei “gewünschter” Ware eine Fehlfunktion vor – das Band wurde angehalten, die Ware vom Band geräumt, und der Betrieb lief gleich weiter. Regelgetreu musste die angesprochene Ware, und es handelte sich wohl in der Regel um teure Notebooks für große Elektronikmärkte, natürlich wieder auf dem Band landen; stattdessen wurden die Computer auf eine Palette gestapelt, die Palette an die Wand für Sperr- und Gefahrgut gefahren und dort von dem Kurden in seinen Sprinter geladen. Zuhause lagerte der das ganze Zeug dann ein.
Das geschah so auffällig, dass sich keiner was dabei dachte, denn Waren aus Mischpaletten für die Elektronikketten werden oft übers Band geschickt und dann da unten wieder zu Komplettpaletten aufgestapelt, um sie in den LKW zu laden, der sie zum Zwischenhändler bringt (die Ketten kennt man ja aus der Werbung).

Vielleicht hätte das funktionieren können. Vielleicht. Aber erstens fielen die Mengen irgendwann auf, und zweitens handelte es sich zweifelsfrei um Ware, von der jeder in dem Geschäft weiß, dass sie Begehrlichkeiten unter den schwarzen Schafen weckt.
Was die Untersuchung ins Rollen brachte, weiß ich nicht, und ich habe auch nicht vor, die Angelegenheit weiter zu recherchieren. Die Sichtung der Überwachungsvideos brachte jedenfalls eindeutige Resultate. Die an der Decke hängenden Kameras sind in der Lage, in ihrerm Sichtbereich Barcodes von den Paketen abzulesen. Man kann die Software anweisen, einen gewünschten Barcode auf seinem Weg durch die Halle zu verfolgen. Und wenn jemand Ware ohne RWE-Scan mitnimmt, handelt es sich streng genommen bereits um Diebstahl (von daher sollte man niemals Ware auch nur anfassen, die noch als Palette am Kopf des Rollbands steht).
Die Sache flog also auf, die Bandaufleger brauchten von gestern auf heute drei neue Mitarbeiter. Die Diebe hatten in der Tat noch nichts von dem, was sie gestohlen hatten, verkauft und gaben alles zurück. Vielleicht wollten sie erst Gras über die Sache wachsen lassen? Warten, bis alle die Suche nach der Ware aufgegeben hatten?

Ich war vom Kurden doch sehr enttäuscht. Dass er ein Gauner war, war von Anfang an klar gewesen, aber eine solche Dummheit hätte ich ihm nicht zugetraut. Er wurde nicht angezeigt, angeblich, weil er als “Lagerist” der entwendeten Ware alles bereitwillig zurückgab. Er bekam Hausverbot im Depot und fuhr für Peter weiter – im Auftrag des DPD. Das frustrierte mich gewissermaßen, denn ich hatte noch keinen gekannt, der so viele Chancen erhalten und alle vergeben hatte, und ich fand, dass es an der Zeit war, dass er endlich für seine Dummheiten zahlte. Wenn Soldaten potentielle Mörder sind, dann sind Transportfahrer potentielle Diebe, und da ich meinem derzeitigen Beruf mit aller gebotenen Ernsthaftigkeit nachgehe, fühle ich mich doch irgendwo in meinem Ruf geschädigt, auf den ich Wert lege.

Allein, man sagte mir, dass es bei dem Stand der Dinge unwahrscheinlich sei, dass er dafür ins Gefängnis gehe – wenn da nicht ein kleiner zusätzlicher Faktor wäre: Er war zwar nicht angezeigt worden, tauchte aber natürlich in den Aussagen seiner Komplizen auf, die sehr wohl eine Anzeige erhalten hatten. Die Staatsanwaltschaft, hieß es, habe daraufhin eigenmächtig ein Verfahren gegen ihn eingeleitet. Und: Wenige Wochen zuvor war der Kurde wegen einer Schlägerei auf einem der zahlreichen Weinfeste im Herbst zu einem halben Jahr auf Bewährung verurteilt worden. Das dürfte sich nun bemerkbar machen. Aber ein halbes Jahr ist ja schnell vorbei. Zuletzt war von ihm zu hören, er wolle Deutschland den Rücken kehren und in Mossul, wo er ja einmal hergekommen war, sein Glück versuchen.

Peter berief daher also eine Betriebsversammlung ein, um alle zu informieren und wollte reinen Tisch:
“Wenn von Euch noch einer da mit drin steckt, dann soll er es jetzt sagen, oder im Laufe des Tages unter vier Augen. Jetzt kann ich noch was für Euch tun, später geht das nicht mehr.”
Es gab tatsächlich noch einer unter vier Augen ihm gegenüber zu, sich an der Ware vergriffen zu haben, und aus irgendeinem Grund fanden sich im Laufe der darauf folgenden Woche drei verschiedene Leute, die mir den Namen unabhängig voneinander zutrugen. Auch dieser Täter gab zurück, was er an sich genommen hatte und bekam seine Chance – die er, soweit ich ihn einschätzen kann, auch sinnvoll nutzen wird. Ob er allerdings mit dem Kurden und seinen Leuten vom Wareneingang zusammengearbeitet hat oder unabhängig davon sein eigenes Süppchen zu Auslöffeln kochte, ist bislang ein Geheimnis geblieben, und von mir aus kann das auch so bleiben. Ich gehe aber davon aus, dass er unabhängig gehandelt hat, da ihn sonst Luigi und die coolen Jugendlichen wohl mit in den Abgrund gerissen hätten.

Irgendwie verbreiten sich Geschichten immer, und ich frage mich, wer sie immer rumerzählt? Ich meine, einer muss damit anfangen, und wenn ich mich so umsehe, dann drängt sich mir der Gedanke auf, dass dafür ein sehr kleiner Personenkreis in Frage kommt. In einem Falle, also einer noch ganz anderen Geschichte über die Arbeitsweise des Kurden, kam die Geschichte allerdings nicht von Kollegen der Transportfirma, sondern von einer Person, die für das Depot selbst arbeitet. Ich will mich dafür nicht verbürgen und eine Gegendarstellung des Kurden zu bekommen, könnte schwierig sein, von daher erzähle ich nur nach, was man mir erzählt hat:

Es gibt irgendwo in unserem Zustellungsgebiet eine Straße innerorts am Hang, und an einer Stelle, wo sich zufällig auch ein Kebapladen befindet, fand eine Person eines Morgens ein auffälliges Paket, und aus irgendeiner unergründlichen Motivation heraus gab er es bei der erstbesten und dazu schwangeren Nachbarin ab: Den großen Aufkleber mit dem schwarzen, dreiteiligen “Ventilator” auf gelben Untergrund wusste er wohl nicht zu deuten. TATÜTATA! Dieser Fund, so gesundheitlich folgenlos er im Endeffekt auch gewesen sein mag, begründete unmittelbar einen Einsatz verschiedener Rettungskräfte, inklusive Polizei, Feuerwehr, Katastrophenschutz, und was uns sonst noch wichtig und vor allem teuer ist.
Wie man mir erzählte, ist es unstrittig, aus wessen Auto dieses Paket stammte, denn der Barcode sagt alles. Der Kurde hatte dafür natürlich keine Erklärung. Uns bleibt daher nur das Reich der Spekulation, und da will ich mich zurückhalten. Sicher ist einzig, dass der Kurde nur selten an einem Kebapladen vorbeifahren konnte, ohne anzuhalten und auch was zu essen.

Eine Folge seines Abgangs für uns war natürlich, dass wir einen neuen Fahrer brauchten, und wir fanden einen, den Mike aus einem seiner zahlreichen anderen Beschäftigungsverhältnisse vor Transoflex kannte. Ich nenne ihn mal “den Kleinen”, weil er nicht gerade groß gewachsen ist; aber soweit ich das beurteilen kann handelt es sich um einen guten Mitarbeiter, der weiß, um was es geht, wie es läuft, und welche Regeln in dem Spiel gelten. Das schöne dabei ist auch, dass er gewissermaßen in meiner Nachbarschaft wohnt. Sollte es also technische Probleme geben, dann ist morgens um 0430 jemand in der Nähe, der mich zumindest mit in die Halle nehmen kann. Ich könnte wohl auch mit Puck fahren, aber der ist mir zu spät dran.

Wenn wir schon bei negativen Themen sind, dann reden wir doch auch mal über Menschenwürde.
Im vergangenen Sommer habe ich ja beschrieben, dass ich die verfügbaren (halb-) öffentlichen Toiletten geschickt nutzen muss, wenn ich mich nicht an den Straßenrand stellen will; ich meine, man muss die zivilisatorischen Errungenschaften ja nicht verschmähen, oder? Im Sommer jedenfalls hat das Problem eine andere Qualität als im Winter, wie ich in den letzten Monaten lernen musste. Im Sommer schwitzt man nicht unbedeutende Mengen dessen, was man trinkt, über die Haut aus. Ich habe zwei bis drei Liter getrunken, Wasser und Orangensaft, ohne deshalb mehr als ein- oder zweimal eine Toilette aufsuchen zu müssen. Im Winter dagegen fällt der Faktor Transpiration aus, und wenn es einem innerhalb einer Ortschaft plötzlich überkommt (und ich stelle fest, dass dies manchmal schnell geht, wenn man die Signale vorher in guter Hoffnung sozusagen beiseite geschoben hat), dann hat man nicht die Option, sich an die Straße zu stellen und macht sich am besten einen Knoten. Nee, das geht ja nicht so einfach.

Also Schließmuskeltraining. Aber alles hat Grenzen: Das Fassungsvermögen meiner Blase, die Stärke des Schließmuskels, und das Maß an Schmerzen, die zu ertragen ich bereit bin. Ich habe auch schon schreiend am Steuer gesessen, während ich mit Bleifuß aus einem Ort raus und in den nächsten Feldweg hineingerauscht bin. Was auch nicht verhinderte, dass zwei- oder dreimal was in die Hose ging. Rettender Vorteil im Winter: Die Jacke deckt das zu. Vorteil des Materials: Es trocknet schnell.
Eine Lösung musste her: Die Pinkelflasche. Die Saftflaschen, die ich kaufe, haben einen breiten Hals, und dieses Verfahren erlaubt es mir, auch innerorts mal schnell in der Ladefläche zu verschwinden, um den störenden halben Liter loszuwerden.
Toll ist was anderes, aber was soll ich machen?

Um noch etwas allgemeines einzustreuen: Unsere Autos scheinen in der letzten Zeit verstärkt Batterieprobleme zu haben. In der Folge musste Knut mehrfach ausrücken, weil sich in seinem Auto ein Überbrückungskabel befindet. So langsam glaube ich, wir haben zu wenige davon. Ein Ersatzfahrzeug, das mir zugeteilt worden war, sprang morgens nicht an, sogar der KIlometerzähler zeigte eine Null an und das einzige Lebenszeichen bestand aus einem kurzen, leisen Surren beim Einschalten der Zündung. Ein Ersatzfahrzeug, das man Puck an die Hand gegeben hatte, machte noch nicht einmal das. Das Lenkradschloss entriegelte nicht und der Zündschlüssel ließ sich nicht drehen.

“Zum Glück” fand dies an einem Sonntag statt, an dem er mit besagtem Ersatzfahrzeug nach Plaidt fahren sollte, um seinen LKW nach erfolgter Reparatur wieder in Empfang zu nehmen.
Um halb 11 rief Puck mich an, ob ich nicht eine Idee hätte: die Schließanlage des Sprinters muckse sich nicht. Ich ging runter, zog den Metallschlüssel aus dem Gehäuse des elektronischen Schlüssels uns konnte damit immerhin die Tür öffnen. Wie gesagt: Nicht einmal die Zündung ließ sich einschalten, weil der Schlüssel sich nicht im Schloss drehen ließ. Wir gingen zu mir hoch. Der Diponent wurde verständigt, der rief den Kleinen an. Um 11 Uhr kam der Besuch, den ich eigentlich erwartet hatte. Um kurz nach 11 kam der Kleine. Auch der ließ seine Kontakte spielen und bekam um etwa halb 12 ein Starterkabel organisiert. In der Zwischenzeit kam schon der Vorschlag, “Ach komm, pack die Karten aus!”, denn immerhin hatte ich dann schon mehr Leute zusammen als für den gedachten Spielenachmittag am Tag zuvor. Gemeint war damit BANG!, aber ich konnte die Karten nicht finden. Puck konnte dann endlich lostuckern (und Elmo, der auch nach Plaidt muss, mit einer Stunde Verspätung in Zemmer abholen).

Warum hatte ich eigentlich ein Ersatzauto? Weil an dem mir zugeteilten Fahrzeug, mit der Nummer 560, zwar die Batterie keine Probleme machte, dafür aber der Motor. Enge Kurven bergauf waren ihm zu anstrengend. Da konnte es sein, dass man beim Beschleunigen auf einmal das Gefühl bekam, der halbe Motor schalte sich ab. 90 km/h Spitze auf gerader Strecke. Auffällig gerade dann, wenn man einen niederländischen LKW überholen will und dabei feststellt, dass der um oder vielleicht auch über 100 fährt. Steigungen werden da zur Herausforderung: Zwischen Neuerburg und Waxweiler hat der Hügel bestenfalls 10 % Steigung: Der Sprinter nahm diese mit Ach und Krach 40 km/h. Anfangs konnte man dem beikommen, indem man kurz anhielt und den Motor abschaltete, aber nach einer Weile war’s auch damit vorbei.

Ich erhielt zunächst einen anderen Sprinter, den man noch irgendwo in der Mottenkiste gefunden hatte. Da war sogar noch ein Kassettenrekorder drin, in dem ein Band gefangen war, das vorderasiatische Musik dudelte. Das Radio ging gar nicht. Aber der Wagen hielt nur ein paar Tage: Als ich gerade von Olewig Richtung Uni hochfuhr, fing der Motor an zu knattern; ein paar Augenblicke später strömten Abgase in die Fahrerkabine. Ich riss die Fenster auf und fuhr noch 200 m bis zum nächsten Parkplatz. Ich besah mir den Motor (als Laie würde ich sagen, dass einer der Zylinderköpfe undicht war), stellte die Überforderung meiner Kompetenzen fest, unterrichtete die Firma und ging nach Hause.
Zwischendurch wurde der Wagen von Peter in Augenschein genommen, woraufhin er mir mitteilte, dass am Abend einer kommen würde, der das Auto abschleppen sollte. Der kam kurz nach Sonnenuntergang und ich half ihm, das Fahrzeug auf dem Anhänger zu vertäuen, kritisch beäugt von zwei Damen um die Vierzig, deren Fahrzeug wir am Verlassen des Parkplatzes hinderten. Alles in allem kamen wir nur auf drei von vier benötigten Spanngurten. Streng genommen hätten wir noch einen besorgen müssen, aber der Abschlepper wollte auch irgendwann einmal nach Hause, die beiden Damen wirkten von Sekunde zu Sekunde ungeduldiger, also fuhr er so davon. Es hat wohl auch geklappt.
Und das Auto, das ich dann bekam – das war das Auto, wo die Batterie streikte.
Danach bekam ich wieder den Wagen, mit dem ich ganz zu Beginn gefahren war, mit der Nummer 540.

Rückblickend muss ich feststellen, dass ich alle Probleme – selbstverschuldet (wie Festfahren im Schlamm und Karosseriekratzer) oder nicht (besagte technische Probleme) mit der 560 gehabt hatte.
Aber zumindest der Teil mit den selbstverschuldeten Problemen sollte leider auch an der 540 nicht vorübergehen. Aber davon beim nächsten Mal.

8. April 2012

Gaytal-Kamikaze (Teil 8)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 18:55

Es ist schwierig, so viele Notizen in Fließtext umzusetzen, wenn man wenig Zeit hat, auch am Wochenende. Die vergangenen Wochenenden wurden zum Großteil dafür verwendet, meine DSA-Chronik auf den neuesten Stand zu bringen, und mittlerweile bin ich so weit, dass ich den ersten Entwurf an den Spielleiter schicken kann, damit er prüft, ob wir irgendwo Unstimmigkeiten drin haben, denn es könnte ja sein, dass ich Orts- und Personennamen falsch aufgeschrieben habe, oder dass meine Darstellung in Einzelheiten von dem abweicht, was tatsächlich gelaufen ist – ich kann nicht immer gleichzeitig Notizen machen, weil die Spielteilnahme manchmal halt meine ganze Aufmerksamkeit erfordert.
Wie dem auch sei: Die Abenteuer der alten Spielgruppe sind in ihrer Rohfassung fertig, was noch fehlt, ist eine Fehlerkorrektur und vielleicht noch etwas plastische Ausgestaltung durch bessere Umschreibungen der besuchten Örtlichkeiten.

Bei dem Thema – Spiele – kann ich auch grob bleiben, denn es ist mir in den vergangenen drei Monaten immerhin zweimal gelungen, einen Spielenachmittag der Arbeitskollegen zu organisieren, wenn auch nie ganz ohne Probleme, weil kurzfristig immer einer absagen musste. Lilly musste ihre Mutter irgendwohin fahren, der fröhliche Winzer musste für seinen Bruder einspringen, der sich den Fuß gebrochen hat, Felix hatte sich eine Erkältung zugezogen. Einmal saßen wir, das heißt, Puck, meine Freundin und ich mit Antonius allein da. Hat auch Spaß gemacht; Antonius hat sich das BANG! Komplettset gekauft und wollte es natürlich auch mal benutzen, und bei der Gelegenheit entdeckte er den neu hinzugekommenen Charakter “Santa Claus” (oder “Claus the Saint”), der zwei Karten mehr zieht, als Spieler am Tisch sitzen und an jeden eine seiner Wahl verteilt. Er zog auch just diese Charakterkarte – und wurde prompt erschossen.
“Ihr habt Santa Claus umgebracht!”
Leider hat es sich im vergangenen Monat nicht ergeben, ein weiteres Mal zu spielen. Vielleicht wird es ja um den Maifeiertag rum was.
In einem Punkt bin ich jedenfalls ziemlich sicher: Ich kann mit den anderen Fahrern durchaus BANG! spielen, das kriegen sie hin (wenn auch mangels regelmäßiger Übung noch etwas holprig), aber ich fürchte, dass ich z.B. Battlestar Galactica nur mit den “DG-Lords” (den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Depots) spielen kann, weil… die Regelverständniskapazität des durchschnittlichen Fahrers für ein derart vielschichtiges Spiel nicht ausreicht. Pandemie würde ich ihnen noch zutrauen.

Als ich eines schönen Tages spät nach Hause unterwegs war, es war schon nach Sechs und dunkel, als ich um den Verteilerkreis fuhr, huschte beim Abbiegen in die Dasbachstraße ein dunkler Schatten vor meiner Schnauze vorbei und ich ging heftig in die Eisen. Irgendein Komiker war auf dem eiligen Weg zur Bushaltestelle Nells Park einfach über die Straße gerannt – dunkle Haare, schwarze Hosen, dunkelblauer Pullover, im Zusammenspiel mit den aus Richtung Ruwer entgegenkommenden Autos (das heißt ihren blendend hellen Frontscheinwerfern) fast unsichtbar.
Kurzum, es entspann sich ein kurzes wütendes Wortgefecht, wer denn Schuld daran sei, dass ich ihn beinahe angefahren hätte. Ich war und bin eigentlich nicht der Meinung, dass 20 km/h zu schnell sind, um diese Kurve zu bewältigen, und es ist ja nicht so, dass ich einfach fahren würde, ohne einen Blick in die Umgebung zu werfen. Wie gesagt: Der Typ war fast unsichtbar unter den gegebenen Umständen. Er sagte, ich müsse langsam fahren und gefälligst richtig hinsehen, ich sagte, er dürfe in dunklen Klamotten nicht einfach auf die Straße rennen, denn wenn da ein großes Fahrzeug mit aktiviertem Blinker auf die Einbiegung zufährt, dann müsse er doch damit rechnen, dass ich auch abbiege, und dann bleibt man als Fußgänger doch lieber mal stehen, anstatt stur auf seinem Vorfahrtsrecht zu beharren und seine Knochen zu riskieren, gerade bei diesen Sichtverhältnissen und in dieser Kleidung!
Der war schon ziemlich sauer und drohte, die Polizei zu rufen. Mir war nicht ganz klar, aus welchem Grund, denn es war ja gar nichts passiert. Aber ich war müde und wollte nach Hause, also beruhigten wir uns beide ein bisschen und ich erklärte mich bereit, ihn zur übernächsten Haltestelle zu fahren, und wir würden die Sache beide vergessen. Im Nachhinein muss ich allerdings sagen, dass es durchaus seinen Reiz gehabt hätte, ihn die Polizei rufen zu lassen, denn er hätte sich vermutlich den größeren Einlauf geholt: Erstens in “Nachttarnkleidung” einfach auf die Straße rennen und zweitens ohne triftigen Grund die Polizei belästigen. Wäre bestimmt interessant geworden.
Immerhin: Ich fahre seitdem solche Abzweigungen mit erhöhter Aufmerksamkeit, gerade im Dunkeln.

An der Spitze eines grob nach Osten zeigenden Dreiecks mit Basis auf der Linie Mettendorf-Neuerburg liegt das kleine Nest Rußdorf. Im vergangenen Jahr hatte ich ein- oder zweimal Kfz-Zubehör an eine Firma dort geliefert und sollte nun im Dezember, drei Monate nach meinem letzten Besuch, vier Reifen hinbringen.
Die angegebene Adresse war verlassen, in dem Sinne, dass die Rollläden der Arbeitshalle heruntergelassen waren und scheinbar niemand da war. Leider war auch im Hause des Chefs niemand anwesend, aber ich erinnerte mich an eine alternative Adresse 200 m weiter, wo ich in einem solchen Fall Sachen abliefern könne: Auch keiner da.
Also wieder zurück zur eigentlichen Adresse, versuchte Alternativzustelung (also beim Nachbarn).
Die erste Nachbarin war eine kleine dickliche Frau, mit Brillengläsern, die den Eindruck machten, als könne man damit reines Sonnenlicht zu Laserstrahlen bündeln. Die Mimik der Dame machte auch den Eindruck, als sehe sie extrem schlecht. Ich fragte sie also, ob sie die Reifen annehmen würde. Sie sah mich zweifelnd und unentschlossen an.
“Ich weiß nicht, vielleicht haben die das gar nicht bestellt…”
“Es sind Reifen, die bekommen doch öfter solche Sachen. Und wenn er es nicht bestellt hat, dann soll er anrufen, dann hole ich das wieder ab.”
“Na gut, dann nehme ich das.”
Ich trug die Reifen die Treppe zum Balkon hoch (wo die Haustür sich befindet), ließ mir ihren Nachnamen nennen und trug ihn in das Display ein.
“Ach, für wen genau ist das denn?”
Ich las ihr den Namen auf dem Adressaufkleber vor.
“Für den A.? Nein, dann nehme ich das doch nicht, der ist nämlich im Oktober gestorben.”
“Vielleicht hat sein Sohn noch auf den alten Firmennamen bestellt?”
“Nein, nein, der hat die Firma verkauft.”
Also trug ich die Reifen wieder runter, mittelmäßig genervt duch das Hin und Her, und wollte sie ins Auto laden, als ein anderer Nachbar die Tür öffnete und mich zu ihm winkte.
“Geben Sie die nur her, ich unterschreibe dafür. Der S. macht mir da keine Schwierigkeiten, falls er die Reifen doch nicht braucht. Der hat das Unternehmen zwar verkauft, arbeitet aber für den neuen Besitzer in Bitburg.”
Ich bedankte mich und setzte mich ins Auto. Blick auf die Uhr: 15 Minuten für diese eine Zustellung – allein vor Ort. Da hatte ich die Zeit, die ich brauchte, um den Umweg zwischen Mettendorf und Neuerburg zu fahren, noch nicht mit eingerechnet, das dürften weitere 15 Minuten gewesen sein.

Im Monat drauf war ich noch einmal da, wegen einer Abholung. Die Witwe des Verstorbenen war da, wusste aber von nichts und konnte mir nach einem kurzen Telefonat mit ihrem Sohn nur mitteilen, dass das Gerät vermutlich in Bitburg abzuholen sei. Ich setzte den Abholstatus also auf “Abholung ohne Ware – keine Ware” und hatte allein an der überflüssigen Fahrzeit in dieses kleine Nest schon wieder eine Viertelstunde verloren.

Übrigens: Wenn jemand Motorsägen oder Entaster oder was für Wald- und Gartenarbeiten braucht – kauft nicht bei Solo. Ich hab jeden Monat einen Garantiefall von Solo als Abholung in Beladung. Garantiefälle von Stihl hatte ich in den vergangenen 11 Monaten exakt zwei. Und das waren keine ganzen Geräte, sondern nur kleinere Einzelteile.
Klar, Stihl ist teuer, aber das zahlt sich aus.

Am Heiligabend hatte ich mich freiwillig gemeldet, die Samstagsfahrt zu übernehmen. Ich wollte sehen, was man da so erlebt, ob viele Privatkunden noch schnell was bestellt hätten, oder ob die Leute anders drauf sein würden. Aber: Nichts von alledem. Ich hatte keine 20 Pakete im Auto, fuhr gerade mal Bitburg-Wittlich-Trier und war nach drei Stunden wieder zuhause, ohne etwas erlebt zu haben, worüber zu schreiben sich gelohnt hätte.
Insgesamt muss ich aber festhalten, dass die Weihnachtszeit etwa sechs Wochen dauert, in denen die Paketzahlen in meinem Zustellungsbereich um bis zu 50 Prozent über dem Normalen liegen, dazu kommt ein dickerer Anteil von Privatkunden in den entlegeneren Ortschaften, mit entsprechenden Auswirkungen auf die Arbeitszeit. Am Mittwoch vor Weihnachten hörte das mit einem Schlag auf und die Paketzahlen sanken unter die normale Marke, und sie sanken zwischen den Feiertagen erneut rekordverdächtig tief.

Wenn ich schon von Feiertagen rede: Ostern dauert nur eine Woche und Privatkunden halten sich dabei zurück, aber die Frisöre, Apotheken und Tierärzte stocken auf (und natürlich die Warenhäuser und Fachmärkte für Unterhaltungselektronik und Kosmetik, von denen sich aber keine in meinem Gebiet befinden). Die Woche vor Ostern wäre auch vermutlich nicht so extrem geworden, wenn uns nicht Dienstag und Mittwoch zwei LKW-Linien im Stich gelassen hätten. Die kamen so spät, dass es sich nicht mehr lohnte, sie übers Band laufen zu lassen, denn wir müssen ja auch irgendwann mal mit der Zustellung anfangen. Dienstag fehlten mir 20 Pakete, aber damit kann man noch leben. Mittwoch fehlten mir 40 Pakete. Das macht sich deutlich bemerkbar, und hinzu kam, dass am Donnerstag eine Art Torschlusspanik herrschte: 197 Pakete auf meiner Tour, fast das Zweifache des üblichen Satzes, und bei den anderen sah es kaum besser aus. Aber ich fahre nur einen kleinen der großen Sprinter – da passen bestenfalls 160 Pakete der üblichen Größenverteilung hinein.
Gleichzeitig machte die Maschine Zicken, die 560 fuhr sich, als ob der halbe Motor fehlte. Am Morgen, auf der Autobahn nach Ehrang, wollte ich mich daran machen, einen niederländischen Lastzug zu überholen; mittendrin brach auf einmal der Schub weg, Drehzahl und Geschwindigkeit sanken, der Holländer fuhr mit etwa 100 an mir vorbei und davon (haben die etwa keinen Limiter???)
Peter entschloss sich daher, die 440 aus Koblenz kommen zu lassen, das Auto, das der fröhliche Winzer gefahren hatte, bevor es wegen Motorproblemen ausgetauscht werden musste. Nun war ein neuer Motor drin, es würde also seinen Zweck erfüllen. Allerdings musste der Fahrer erst mal herkommen und ich musste meinen ganzen Krempel aus der 560 raus und in die 440 hineinräumen – in ein Modell, das viel weniger Stauraum bietet. Vor allem kostete es Zeit und ich kam erst um Viertel nach Zehn weg (normal ist derzeit 0830). Der einzige Trost bestand darin, dass die vielen Pakete mit zwei oder drei Ausnahmen alle in Ortschaften auf der Haupttour gehörten und ich schaffte es vor sechs Uhr nach Hause.

Nicht nur, dass uns die LKWs im Stich ließen: Der fröhliche Winzer ist krankgemeldet, für den kommen ebenfalls Fahrer aus Koblenz runter. Dass mir dies am Montag alle Pakete für Schweich bescherte, fand ich wegen meiner mangelnden Ortskenntnis und der Art der Pakete nicht so lustig. Unter den Paketen waren zwei Aufsteller für Apotheken, einer in Schweich, die aufrecht transportiert werden müssen, man muss sie eigentlich auf einer Palette geschnallt liefern, aber das hätte nicht ins Auto gepasst. Daneben standen zwei mobile Klimaanlagen von jeweils einem Zentner. Und der Apotheker verweigerte die Annahme, weil er das nicht bestellt habe – na dann: Nach Schweich fuhr ich sofort zurück ins Depot, um den zurückgewiesenen Aufsteller abzugeben, denn mir war sonnenklar, dass das lange schmale und vor allem nicht festgeschnallte Ding den Abend nur als Plastikschrott erleben würde. Antonius und Lilly haben auch nicht schlecht gestaunt, als sie mich um kurz vor Elf in die Halle fahren sahen. Feierabend gegen sieben Uhr abends. Ein richtiger Scheißtag. Glücklicherweise war ich den Rest der Woche von Sondertouren befreit.

In der Eifel liegt im Winter Schnee, das ist nichts neues, ich habe damit gerechnet und mich vorbereitet: eine Sonnenbrille in meiner Sehstärke musste her, aus dünn geschliffenem Glas. Da ich mit dem Hugo Boss Markenmodell, das ich für gewöhnlich auf der Nase trage, sehr gute Erfahrungen gemacht habe, wollte ich das gleiche Modell mit getönten Gläsern – gab’s aber nicht. Boss sei da eigen und nehme Modelle schnell wieder vom Markt, sagte mir die Optikerin. Na gut, dann was anderes. Letztendlich entschied ich mich für eine Ray Ban, für die ich wiederum über 300 Euro hinlegte. Aber wenn die ebenso stabil wie die Boss-Brille ist, dann lohnt sich das auch; mit dem Ding musste ich in den vergangenen zehn Jahren zweimal zum Nachstellen zum Optiker.
Ich musste auch ein drittes Mal hin, das lag aber daran, dass mir bei einer Zustellung ein Paket ins Gesicht knallte, worauf der Nasenbügel an der Schweißstelle abbrach. Ich musste den Tag über also mit der Sonnenbrille fahren, um wenigstens scharf zu sehen, ging in Neuerburg zum Optiker, der mir das Nasenfahrrad für 18 E wieder verschweißte (Peter ersetzte mir die 18 Euro übrigens). Sieht wie neu aus.

Nur ein Problem muss ich bei der Sonnenbrille feststellen: Beim Schliff muss was schiefgegangen sein, denn das Bild wird schärfer, wenn ich den Kopf um knapp 45° nach rechts neige. Sobald ich Zeit dafür habe, werde ich das reklamieren, und das wird vielleicht noch etwas warten müssen, weil ich beim Ausräumen meines motorlahmen Autos natürlich die Sonnenbrille auf der Ablage über der Sonnenblende vergessen habe! Mal gucken, wie lang es dauert, bis ich das Ding aus Plaidt zurückbekomme.

Ein Gutes hatte der Autotausch allerdings noch: Die CD, die ich dem fröhlichen Winzer vor einem knappen halben Jahr geliehen hatte (just in der Woche, wo sein Motor draufging), war noch im Handschuhfach.

5. Februar 2012

Gaytal-Kamikaze (Teil 7)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 20:01

Ich sollte auch mal von hinten aufrollen, sozusagen, und gebe wider, was mir von der Weihnachtsfeier berichtet wurde. Just an diesem Tag feierte Melanies Mutter ihren Geburtstag und da konnte ich schlecht wegbleiben. Abgesehen davon wäre es meine erste Feier mit den Chaoten von der Firma und ich konnte mir nicht sicher sein, wie diese Leute sich unter Alkoholeinfluss verhalten würden, der bei dieser Gelegenheit ganz bestimmt reichlich fließen würde. Peter bot mir einen Deal an: Ich würde den Dienstwagen verwenden dürfen, um nach Saarbrücken zu fahren, wenn ich im Anschluss noch zur Feier käme (die ganz unfeierlich in einer Ehranger Dönerbude stattfand). Den Sprit musste ich natürlich zahlen:
Mittels meines Fahrtenbuchs errechnete ich, dass der Sprinter auf 100 km 15 Liter Diesel säuft. Saarbrücken und zurück waren genau 200 km; auch bei Luxemburger Spritpreisen wäre Bahnfahren zu zweit billiger gewesen, wenn auch nicht viel.

Nach einem angenehmen Abend in Saarbrücken machte ich mich also mit Melanie gemeinsam Richtung Trier auf, und im Hunsrück begann es zu schneien. In Hermeskeil lagen bereits 20 cm Neuschnee, die Straßen waren natürlich noch nicht geräumt und ich musste die Reisegeschwindigkeit deutlich zurücknehmen. Das kam mir zugute, als ein vor uns fahrender Wagen plötztlich eine unkontrollierte Wende von 540° machte. Die über 100 m Abstand verkürzten sich auf etwa 15, hätte ich stärker bremsen müssen, wäre dies eindeutig zu Lasten der Fahrzeugkontrolle gegangen. Es ging aber gut und wir kamen nach zwei Stunden zuhause an. Es schneite auch in Trier, also rief ich Peter an und teilte ihm mit, dass ich nicht mehr komme, weil ich mich nicht darauf verlassen könne, nach dem Besuch in Ehrang wieder den Kürenzer Berg hochfahren zu können.

Was sich dort zutrug, erzählte mir Puck, der tatsächlich mit dem Bus hingefahren war. Eingeladen waren nicht nur die Fahrer des Subunternehmens, sondern auch Leute der DG, also das Büro- und Lagerpersonal, der Chef fehlte. Auch Peters Bruder und einer der Fahrer aus Koblenz war anwesend, interessanterweise auch der alte Chef aus Plaidt, der “große Peter”, wie Kalaschnikow gern sagte. Bevor man daran gehen kann, wer von den Fahrern zur Feier kam, sollte man vielleicht besser die Auswirkungen von Nichtanwesenheit beschreiben.
Antonius und Octavia hatten den Tag über nichts gegessen und hatten Hunger, aber Peter hatte beschlossen, dass nichts bestellt werde, bevor nicht alle da seien: Die Stunden vergingen, während derer Octavia sich an den Salzstangen, die als kostenloser Snack auf den Tischen standen, gütlich hielt. Sie hat wohl eine ganze Menge davon gegessen, denn irgendwann muss mal jemand gefragt haben, wer denn eigentlich noch fehle? Nein, ich war’s nicht, weil ich ja angekündigt hatte, dass ich später käme und man nicht auf mich zu warten brauche.
“Der Konrad fehlt noch!”
“Was? Der kommt doch gar nicht!”
Das führte übrigens dazu, dass der fröhliche Winzer am Folgetag kein Wort mit Konrad wechselte, weil er eigentlich mit ihm ausgemacht hatte, sie würden in Hawaiihemden und mit Sonnenhut zur Feier kommen. Nun ja, scheinbar hielt auch der fröhliche Winzer sich nicht an diese Abmachung… es muss auch schwer gewesen sein, mit seinem Nachbarn nicht zu reden, denn schließlich redet er ja sonst ununterbrochen.
Es wurde also bestellt, was die logistischen Möglichkeiten einer Dönerbude natürlich hoffnungslos überlastete. Das Essen brauchte also wieder eine ganze Weile, es war teilweise nicht mehr warm und man bekam wohl auch nicht immer das, was man eigentlich bestellt hatte. Octavia bestellte eine Pizza, gab aber, gefüllt mit Salzstangen, schnell auf und überließ Puck ihr Essen.

Nach dem Essen gab es Partyprogramm und sogar Geschenke. Mein Geschenk erhielt ich am Dienstag nach der Feier… Christbaumschmuck aus Plastik in Rot und Gold. Hat er den Krempel im Ein-Euro-Laden an der Ecke gekauft? Ich habe keine Ahnung von so Zeug, aber es war mit Abstand der hässlichste Christbaumschmuck, den ich je gesehen habe. Auch Konrad erhielt ein Geschenk: Eine Packung mit Pralinen, die er nicht mochte. Wir tauschten also, weil er meinte, der Baumschmuck könne seiner Freundin gefallen.
Dann also noch das Partyprogramm. Peter und sein Bruder veranstalteten ein Quiz, um zu sehen, wie viel die Leute eigentlich über ihren Arbeitsplatz wissen, zum Beispiel, wie viele Touren denn ab Trier gefahren würden. Dann versuchten sich die beiden Brüder darin zu übertreffen, wer den besten Fahrer habe.
“Mein Fahrer kann dies und jenes!”
“Ha! Mein Fahrer kann das und das!”
Was soweit ausartete, dass der von Mike aufgestellte Grundsatz, es solle nicht über die Arbeit geredet werden, untergraben wurde. Er versuchte zu intervenieren, was aber nicht viel brachte, und erst Felix beendete das Arbeitsgespräch:
“Ich hab keine Lust mehr! Ich komm extra zu der Weihnachtsfeier und dann wird doch nur über die Arbeit geredet!”
Ha, Felix! Der Fahrer aus Koblenz war wohl ein großer Fan von Michael Jackson und machte folgenden Vorschlag:
“Ich mach jetzt einen Tanzmove von Michael Jackson vor und dann will ich sehen, wer das nachmachen kann!”
Es handelte sich wohl um eine Art doppelte Drehung, während der man in die Knie geht und wieder aufsteht. Er machte es vollendet vor und dann ging es darum, einen Freiwilligen zu finden, der es ebenfalls versuchen würde – man könnte vielleicht auch sagen, einen, der sich freiwillig melden würde, um sich zum Affen zu machen. Natürlich meldete sich erst einmal niemand, und ohne, dass noch jemand wüsste, wer angefangen hatte, rief die versammelte Mannschaft:
“FELIX! FELIX! FELIX! FELIX!”
Und dann stand der Felix auf, lächelte verlegen und sagte: “Na ja, ich kann das zwar nicht, aber ich versuch’s mal…”
Natürlich bekam er es nicht hin, aber er hatte sich getraut. Allein dafür gebührt ihm mein Respekt, denn ich könnte gar nicht betrunken genug sein, um mich zu sowas überreden zu lassen, und ich habe kein Problem damit, vor Publikum zu singen oder auch Theater zu spielen.

Dürfen Trinkspiele fehlen? Natürlich nicht. Der Kurde erklärte, er könne eine Flasche Bier schneller leertrinken, als irgendjemand sonst. Der fröhliche Winzer nahm die Herausforderung an, es wurde gewettet, Peter ließ da einiges springen, weswegen Mike den Kopf schüttelte und am Montag danach zu mir sagte, da würden Dutzende Euro zum Spaß verpulvert, aber ein Firmenhandy sei scheinbar nicht drin. Nun ja, der fröhliche Winzer trat also im Schnelltrinken gegen den Kurden an. Er setzte die Flasche an den Hals und stürzte alles hinunter. Der Kurde ließ sich Zeit und trank gemütlich, wenn auch ohne abzusetzen. Der fröhliche Winzer forderte daher seinen Anteil an den Wetteinsätzen, aber der Kurde ist ja nicht völlig blöde: “Ach ja? Guck doch mal in Deine Flasche!”
Durch das schnelle Trinken war auch entsprechend schnell Luft in die Flasche gelangt: Es hatte sich Schaum gebildet, der sich erst nachher wieder in Flüssigkeit zurückverwandelte – in der Flasche des fröhlichen Winzers befand sich also noch ein Rest, die Flasche des Kurden war leer, womit er gewonnen hatte.

Es wurde insgesamt nicht wenig getrunken und die Flaschen wurden zur Kühlung schon mal auf das Fensterbrett gestellt. Wie es scheint, versammelte sich vor dem Fenster eine Gruppe Ehranger Jugendlicher, die mit viel Geduld aber wenig erfolgreicher Heimlichtuerei die angetrunkenen Flaschen immer wieder ein kleines Stück weit verschoben, bis sie aus dem Sichtbereich der innen Sitzenden verschwunden waren und abgegriffen werden konnten. Es kam aber scheinbar zu keinen Zwischenfällen deshalb.
Außer getrunken wurde scheinbar auch nicht wenig geraucht, was mir natürlich wenig gefallen hätte. Aber immerhin kam es trotz Alkoholkonsums zu keinen Ausfälligkeiten, eine Party mit den Fahrern könnte also meinem Sicherheitsbedürfnis nicht entgegenstehen.

Springen wir ganz woanders hin: Irgendwas muss ich wohl richtig machen, wenn Kunden mich auf einen Kaffee einladen. In Irrhausen wohnt ein Privatkunde, etwa 40 Jahre alt, denke ich, dem ich Pflegeartikel bringe. Als er das Angebot zum ersten Mal machte, war ich leider recht spät dran – ich muss nicht unbedingt später als 17 Uhr nach Hause kommen, wenn es sich vermeiden lässt. Ich dankte ihm für das Angebot und bot an, der Einladung nachzukommen, sollte ich einmal bis spätestens 1430 Uhr bei ihm sein, was durchaus vorkommen kann. Als ich diese Zeit dann mal schaffte, hatte er bereits Besuch, und beim letzten Versuch hatte ich eine heftige Erkältung mit dickem Kopf und Gliederschmerzen und lehnte erneut ab.

So ein Tag so schön wie jener Freitag? Nie wieder. Ich bin mitten in der Nacht wach geworden, weil meine Blase sich meldete und beim Gang durch die Wohnung wurde mir klar, dass dieser Tag nicht lustig werden würde. Ich war drauf und dran, mich krankzumelden, aber wer sollte die Tour fahren? Ich erwähnte ja bereits, dass meine Tour sich mangels “Nachbarn” nicht gut verteilen lässt. Und gerade an diesem Freitag sollte die Apothekenumschau übers Band laufen… ich frühstückte also spärlich und der erste Effekt der Erkältung schien aus einer gehobenen Wahrnehmung des Zeitverlaufs zu bestehen. In der Regel setze ich mich um 0400 hin, esse ein paar Scheiben Brot und trinke etwa einen Liter Tee, dann ist es Zeit, die Zähne zu schrubben und mich ins Auto zu setzen, um gegen 0500 im Depot zu sein.

Nicht so an dem Freitag. Ich aß und trank, aber die Zeit wollte nicht vergehen. Ich hatte das Gefühl, eine halbe Ewigkeit da zu sitzen und zu warten, dass die Zeit zum Gehen käme. Früher da zu sein, hat Vorteile, aber viel zu früh da zu sein, bringt auch wieder nichts, weil man bestenfalls in der Halle rumhängen kann und es ist noch keiner da, mit dem man reden könnte.
Irgendwann kam ich aber doch in Ehrang an und die Hiobsbotschaften gingen weiter: Außer dem Büropersonal, Lambert (der mich am Abend zuvor extra angerufen hatte) und mir wusste scheinbar niemand, dass die Apothekenumschau heute laufen sollte. Die Bandaufleger kamen zur üblichen Zeit um 0530 anstatt um 0500, da kochte so manchem Fahrer gleich doppelt die Galle über, denn sie hatten schlicht verpasst, sich den Stichtag einzuprägen und die Leute vom Band verschärften die Situation zusätzlich. Beim spät rauskommen versteht so mancher keinen Spaß, aber immerhin stehen Paletten mit den Zeitschriften bereits lang zuvor in der Halle rum und auf den Paketen ist groß aufgedruckt, wann sie spätestens ausgeliefert werden müssen. Von diesem Datum geht man einen Werktag nach hinten und man weiß, wann sie übers Band laufen, in diesem Fall also Montag und Freitag. Der fröhliche Winzer war also erst einmal gereizt und es dauerte zwei Stunden, bis er seine übliche Laune wiedergefunden hatte – und das war wichtig, weil ein bisschen lachen gerade an dem Tag ganz gut tat.

Nächste böse Sache: Ich war nicht der einzige, den es erwischt hatte: Puck starrte wie ein Zombie vor sich hin, Konrad fühlte sich “platt wie’n Groschen”, Engel sagte, er sei grad froh, dass er stehen könne, Mike bewegte sich ebenso in Schlangenlinien vorwärts, wie ich das tat, Antonius vom Lager hatte sich beim Heben eine Verspannung im Rücken zugezogen und bewegte sich steif wie ein Roboter. Aber alle waren gekommen, immerhin. War das gut? Vielleicht. In dem Zustand, in dem ich mich befand, muss ich Autofahren als grob fahrlässig bezeichnen. Fahren mit irgendwas unter einem Promille muss sich ähnlich anfühlen.
Alkohol hätte aber möglichwerweise die Gliederschmerzen betäubt… bei jedem Aussteigen zog es im Kniegelenk, wenn ich im Stehen hustete, hatte ich das Gefühl, ich hätte mir die Hüfte verrenkt. Aber: Konzentration! Auch der übelste Tag geht einmal vorbei, und er ging vorbei. Ich legte mich früh ins Bett und fühlte mich am Tag darauf schon bedeutend besser, nur ein etwas flaues Gefühl im Magen blieb zurück.

Nun hätte ich gern noch mehr geschlafen, aber nach dem 85. Geburtstag meiner Oma musste ich endlich mal wieder in die Heimat reisen, um meine Aufwartung zu machen, wie man heutzutage ja nicht mehr sagt. Ich war ja schein seit November nicht mehr zu Besuch gewesen und hatte erstmals mit der “traditionellen” Rundreise zu Weihnachten gebrochen. Es ging aber besser, als ich dachte, und am Sonntag war ich fast wiederhergestellt und am Montag wieder fit – pünktlich zur bislang kältesten Woche des aktuellen Winters.

Hei, was ein Spaß! Die Hauptstraßen waren weitgehend frei, weitgehend, aber die Nebenstraßen in den windigen Dörfern im Bereich Zemmer-Orenhofen-Speicher und natürlich weiter nördlich in der Eifel waren dick vereist. Einem Kunden musste ich seine beiden 30-Liter Lackfässer über 100 m zu Fuß an die Tür bringen, weil ich die Steigung mit dem Lieferwagen nicht hochkam. Ich ging stattdessen über die Wiese neben dem Bürgersteig, weil dort kein Eis, sondern eben nur Schnee lag. Ansonsten machten die Straßenverhältnisse keine Probleme, obwohl sie für spannende Momente sorgten. An einer Stelle rutschte ich auf der Landstraße aus der Kurve in den Graben und dachte mir schon in dem Moment, dass ich da nie und nimmer wieder rauskäme. Stattdessen schubste mich wohl eine Art Jojoeffekt wieder zurück. Ich hielt an der nächsten Einbuchtung an und besah mir die betroffene Seite: Keine Schäden. Nur wieder einmal Erde und Gras am Unterboden.

Immerhin blieb die kalte Woche trocken, was eine neue Eisbildung verhinderte, und bei sonnigem Wetter ist das Leben angenehmer, außerdem lief im Depot die Heizung, sodass wir immerhin auf über 10° C kamen. Ob das an mir liegt? Wohl nicht… aber ein paar Tage zuvor war es schon einmal sehr kalt gewesen und man konnte im Depot den eigenen Atem sehen. Als ich dann mit kalten Fingern und unterkühltem Gesicht zur Ablaufkontrolle ging, um meine Papiere zu holen, fragte ich den Chef dort, wie kalt es eigentlich werden müsse, damit die Statuten der DG Trier es erlaubten, dass die Heizung eingeschaltet werde. Das müsse er sich noch überlegen, sagte er. In Anlehnung an den englischen König Edward I. in Braveheart machten wir schon Witze: “Die Halle zu heizen kostet Geld – kranke Fahrer von Subunternehmen kosten gar nichts.”

Die Fahrzeuge sind jedoch außen ziemlich schmutzig; der Schlamm am Straßenrand ist zwar gefroren, aber Streusalz setzt sich trotzdem an der Karosserie fest. Aus dem Plan, das schädliche Salz abzuwaschen, wurde jedoch nichts, weil die Waschanlage wegen der niedrigen Temperaturen außer Betrieb ist!
Peter hat mich im Januar zum Kontrolleur des Reinigungszustands der Fahrzeuge berufen: Im Winter eine undankbare Aufgabe, denn zum einen fliegt einem das Streusalz nur so um die Ohren, und zum anderen werden die Fahrzeuge bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt bei Schmuddelwetter von Montag auf Dienstag wieder schmutzig. Ich kontrolliere daher aktuell nur das Innere der Fahrzeuge, ob also mal ausgekehrt und abgestaubt wurde und ob irgendwelcher Müll drin liegt. Darüber hinaus kontrolliere ich auch die Führerscheine, weil es wohl schon vorgekommen ist, dass Fahrer am Wochenende ihren Führerschein verloren und nichts davon sagten: Sollten sie ohne gültige Fahrerlaubnis erwischt werden, droht nach den mir vorliegenden Informationen ein Bußgeld von 1000 Euro, und zwar für den Fahrer UND für die Person, die für die Kontrolle zuständig ist. Der Unwille ist groß, denn schließlich wird niemand gern kontrolliert, und letztendlich schwingt bei sowas auch immer eine Unterstellung, ein Generalverdacht, mit.

7. Januar 2012

Gaytal-Kamikaze (Teil 6)

Filed under: Arbeitswelt — 42317 @ 22:08

Ich habe in den vergangenen Wochen wenig Disziplin walten lassen, was das Schreiben neuer Einträge betrifft, aber ich muss auch dazusagen, dass mich das Weihnachtsgeschäft schon auf Trab hielt. Im Vergleich zu den Sommermonaten war die Auslastung um 50 Prozent gestiegen und so manche Fahrt endete erst nach Anbruch der Dunkelheit, glücklicherweise nicht allzu viele. Auch die Expresse wurden zeitgerecht zugestellt.
Eine Sache erfüllte sich allerdings nicht: Das Frachtaufkommen steigerte sich nicht kontinuierlich zum Wochenende des 24. Dezember hin. Am 21. Dezember war noch einmal ordentlich was drin, aber am 22. fiel die Paketzahl jäh ab, sank am 23. noch weiter, und enttäuschte mich am Heiligabend vollends, wo ich doch damit gerechnet hatte, noch eine Menge Last-Minute-Geschenke fahren zu dürfen.

Stattdessen: Fünf Kunden mit elf Paketen, keiner weiter als Bitburg und Wittlich. Da Melanie frei hatte, begleitete sie mich während der Fahrt, ich fuhr um kurz nach halb Sieben aus dem Depot und um zehn nach Neun waren wir fertig. Ich fühlte mich geradezu enttäuscht. Um Zeit zu schinden, fuhr ich über weite Strecken nur 80 km/h. Dennoch stand ich um 0700 an der Tür der Bärenapotheke in Kordel, die erst um 0830 öffnet.
Rücksprache mit Mike: “Guck mal, ob ein Nachbar schon wach ist.”
Viel besser: Die Bäckerei hatte natürlich schon auf. “Ja, lassen Sie das nur hier, die von der Apotheke kommen nachher eh bei uns rein.”
Kaum zwanzig Minuten später die nächste Apotheke, in Orenhofen. Aber der Apotheker wohnt im gleichen Haus und ist außerdem Frühaufsteher: “Manchmal kann ich um Vier schon nicht mehr schlafen, dann steh ich halt auf und seh den Frühdiensten bei der Arbeit zu.”
Apropos: In einer Auslage der Apotheke liegen schokoladig braune, glänzende, sonnenförmige Stücke herum, die man nach dem Lesen der Wareninformation als Seife erkennen kann.
“Ihre Seife sieht ja aus wie Schokolade! Besteht da nicht die Gefahr, dass mal einer spontan hineinbeißt?”
“Ja klar, das ist unsere neueste Masche. Dann können wir nämlich gleich im Anschluss auch unsere Magenmedizin verkaufen.”

Um 0755 in der Bitburger Fußgängerzone, wo der Kaffeeladen eigentlich erst um 0830 öffnet, aber Mike hatte mir versprochen, dass die dortige Angestellte immer schon um Acht da sei. Um kurz nach Acht kommt tatsächlich eine Dame, die den Laden aufsperrt und ich werde die Pakete los. Dann weiter nach Wittlich, ein Laden der gleichen Kette, und schließlich zurück nach Haus, 0910 auf dem heimischen Parkplatz. Dabei hatte ich mich doch ein bisschen auf Weihnachtsdrama gefreut.

Einen neuen Fahrer haben wir unter uns, nennen wir ihn Charley, weil er Vietnamese ist (Anfang Dreißig und seit 20 Jahren in Deutschland) und ich einen schlechten Scherz machen will. Etwa 1,50 m groß, drahtig, netter Kerl, aber auch etwas neben der Spur. Seine Fähigkeit, zu verschlafen, stellt die des Kurden in den Schatten (von dem ich ehrenhalber erwähnen muss, dass er sich wirklich gemacht hat in dieser Hinsicht, seit er Gefahrgut und Frühdienste fährt). Abgesehen davon, dass er spät reinkommt und dem entsprechend spät mit der Tour beginnt, muss er sich vom fröhlichen Winzer noch Witze darüber anhören, dass er sich ja in den einen oder anderen Karton zum Schlafen legen könne.
Oder Konrad fragte ihn letztlich: “He Charley, hast Du schon mal Reis mit Mayo gegessen?”
Das ist so einer der Momente, in denen ich mich fragen muss, ob Konrad das auf eine kindlich-naive Art ernst meint, oder ob es sich dabei um seine Form von Humor handelt, denn er stellt öfter mal Fragen, von denen ich mich fragen muss, ob er das denn nun ernst meint oder ob er subtil Witze macht. Vielleicht fasse ich gerade die “Reis mit Mayo” Sache aber nur deshalb so auf, weil eine Weile die Reiswitze häufig waren. Ich kann mich leider an keinen der Sprüche erinnern, denn wirklich witzig waren sie nicht und auch in ihrer Bissigkeit waren sie wenig überzeugend.

Eine Art Witz bleibt jedenfalls bestehen: “Wenn Du ein Paket nicht findest und es ist nicht bei den Irrläufern am Ende vom Band, siehst Du am besten als nächstes bei Charley unterm Band nach.” (Das ist hartnäckiger als “Wenn Deine Sackkarre auf einmal verschwunden ist, dann suchst Du sie am besten als erstes bei Felix.”)
Ich weiß nicht warum, aber er hat die Gewohnheit, sporadisch Pakete, die für Fahrer weiter oben am Band bestimmt sind (er ist der dritte von unten), runterzunehmen und bei sich unterm Band zu lagern. Ich bin ziemlich sicher, dass er dabei den Gedanken hat, das Paket in einer ruhigen Minute der richtigen Person zu übergeben, aber seine Aufmerksamkeitsspanne ist auch nicht besonders hoch, und ich allein habe bereits zweimal Pakete, die ich beim Vorüberrollen verpasst habe, bei ihm gefunden.
Außer mit fremden Paketen hat er leider auch ein Problem mit Sauberkeit im Wagen. Kurz nach seinem Arbeitsbeginn übernahm ich den Wagen mit der Nummer 560 von ihm, und es handelt sich um den Sprinter, den ich ganz zu Beginn gefahren war. Ganz so schmutzig wie damals war das Gefährt zwar nicht, aber ich habe mich nicht wenig aufregen müssen: Der Idiot hatte wohl Limonade verspritzt oder sonst etwas in der Art verbrochen, weil es in der Ablage über dem Lenkrad klebte und an allen Plastikteilen in der Nähe des Fahrersitzes waren Ablaufspuren zu sehen, von der zuckrig festgetrockneten Lache auf dem Boden ganz zu schweigen. Auch dieser Sprinter brauchte dringend eine Innenreinigung, bevor ich es überhaupt wagen konnte, die Papiere an ihrem gewohnten Platz unterzubringen, ohne sie dabei in Reste von Sirup zu tauchen.
Leider hat Charley dieser Tage auch ein paar Probleme innerhalb der Firma, weil ihm möglicherweise Ware im Wert von 2000 E abhanden gekommen ist. Er überlegt deshalb, ob er überhaupt noch weiter hier arbeiten soll… ich hoffe mal, dass er noch eine Weile bleibt, weil er mir einen vietnamesischen Tarnanzug besorgen soll – die sehen nämlich cool aus: Schwarze Grundfarbe, darauf ein gelb-braunes Blätter- und Tigerstreifenmuster. Hab ich vor Jahren mal in einer Beilage der ZEIT gesehen. Leider konnte mir dort niemand mehr weiterhelfen, weil die Beteiligten scheinbar nicht mehr da arbeiten und die aktuelle Belegschaft keine Ahnung hat, was sie mit dem alten Material anfangen könnte.

Wo ich schon den Konrad erwähnte: Der ist ja Vater geworden, als ich gerade drei Tage im Betrieb war, und letztlich klappte er in einer kurzen Pause den Geldbeutel auf, zeigte mir ein Bild von dem Kind und sagte: “Guck mal, das ist mein Mäuselchen.” Dabei betont er die erste Silbe immer besonders.
Ich besah mir das Bild kurz (für mich sehen alle Babys gleich aus) und sagte zu ihm: “Hübsch. Aber Dir ist ja wohl klar, dass Du demnächst sterben musst?”
Er sah mich entgeistert an. “Wieso das denn?”
“Na, Du weißt doch, wie das in den Filmen läuft: Wenn da einer seine Familienbilder rumzeigt, ist das der nächste, der erschossen wird.”
Ich glaube, er hält mich für nicht weniger bekloppt, als ich ihn. Man müsste ihn mal beim Tanzen mit dem fröhlichen Winzer filmen… oder wenn der Winzer gut drauf ist, springt er bei Konrad in die Ladefläche, wenn der gerade rückwärts auf seinen Stellplatz rollt, und hüpft darin herum, dass das ganze Auto schaukelt. Konrad dreht dann die Anlage laut auf und der Sprinter schaukelt im Takt mit. Auch in diesen Momenten mag man daran zweifeln, es mit erwachsenen Leuten zu tun zu haben, aber ich fühle mich gut unterhalten.

Gehen wir mit dem Scheinwerferlicht unserer Aufmerksamkeit noch einen Platz weiter zu Felix. Der Typ schafft es, sich über seine Tour zu beschweren, unabhängig davon, wie wenig Ladung er fahren muss. Manchmal habe ich das Gefühl, dass er der Meinung ist, dass Kunden, die in ihm ungenehmen Orten wohnen und trotzdem Expresse bestellen, dies nur deshalb tun, um ihm eins auszuwischen. Letztlich hatte er einen Zwölfer in Trarbach, da ging der ab wie’n Schnitzel – oder “wie Wasserfarbe”, wie Mike sagte.
“Zwölf Uhr in Trarbach! Das könnt Ihr vergessen! Verdammte Scheiße! Ihr könnt mich mal!”
Wen er mit “ihr” meinte, weiß ich nicht, er drückte sich halt im Plural aus.

Da in der Nachweihnachtswoche wenig los war, wurden Touren teilweise zusammengelegt und es kam zu Zwangsaurlaub. Davon war auch Felix betroffen und der fröhliche Winzer fuhr die notwendigen Teile der Moseltour. Der berichtete, dass sich Kunden durchaus über Felix lustig machten, weil er sich ständig negativ äußere (“Der ist schon ein Heuler, oder?”), und dass andere sich über ihn beschwerten. Ein herausragender Fall ergab sich, als Felix im Gegenzug Teile der Tour unseres Winzers fuhr. An einem der ersten Stopps sollte er eine Abholung tätigen und es handelte sich um Aufsteller zur Warenpräsentation, die nach dem Ende des Weihnachtsgeschäfts wieder zurückgegeben wurden. Diese Aufsteller haben eine Grundfläche von etwa 40 x 40 Zentimetern und eine Höhe von vielleicht 1,70 Metern. Ich mache auch nicht gern Abholungen auf den ersten paar Stopps, weil einem das Zeug die ganze Fahrt über im Weg rum steht; aber Auftrag ist schließlich Auftrag.
Felix dagegen kam in den Laden, besah sich die beiden Aufsteller und sagte zu der Angestellten so etwas wie: “Die sind mir ein bisschen zu groß, wäre es möglich, dass mein Kollege die morgen mitnimmt? Mir stehen sie sonst den ganzen Tag im Weg rum.”
Die Angestellte kam damit klar und Felix setzte einen Termin für den Folgetag. Ihr Chef allerdings hatte von der Dringlichkeit der Abholung eine ganz andere Vorstellung und beschwerte sich bei Transoflex. Das blieb nicht geheim: Am Folgetag sah sich Felix also einer nicht enden wollenden Welle von “das ist mir zu groß” Witzen ausgesetzt, aber als er auch noch nicht einsehen wollte, dass er einen Fehler gemacht hatte, bekam er einen verbalen Einlauf von Mike (den ich fünf Sätze im Voraus kommen hörte, worauf ich den Disporaum vorsorglich verließ). Es ist ja auch nicht Mikes Art, laut zu werden, er wird nur “deutlich”, um es mal so zu nennen. In dem Disporaum schnarchte nämlich der Falli, die Kapuze ins Gesicht gezogen, in einer Ecke im Stuhl leise vor sich hin und bekam von alledem nichts mit. Felix war daraufhin eingeschnappt und sagte zu mir, er werde den ganzen Tag nichts mit dem Winzer reden (als ob die Situation dessen Schuld sei!).

Der Winzer ist ja selbst nicht ohne… meist geht es dabei um Schweich oder Niersbach, letzteres befindet sich an der Grenze dreier Zustellungsgebiete: Es liegt natürlich am Rand des Gebiets des Winzers, und gegenüber treffen sich Berts Gebiet und meines bei Binsfeld. Schweich nehme ich hin und wieder mit, weil der fröhliche Winzer so früh morgens dort ist, dass die Frisöre noch nicht geöffnet haben, also nehme ich die Pakete schon mal mit und stelle sie im Vorbeifahren auf dem Rückweg zu.
Niersbach dagegen wird schon mal Bert zugeschoben und letztlich entstand der Deal: “Du nimmst für mich Niersbach mit und ich für Dich Landscheid.”
Gesagt, getan, es war ein Freitag. Und am Montag landete das Paket nach Landscheid doch wieder bei Lambert, weil der Winzer spontane Änderungen an seiner Tour vorgenommen hatte und nicht in Landscheid gewesen war. Ganz klar, dass Bert in der Folgezeit wenig Motivation verspürte, dem Winzer noch einmal einen solchen Gefallen zu tun.
Er tat es dennoch, wieder an einem Freitag. “Wenn Du diesmal das Paket nicht zustellst, kriegst Du’s von mir!” sagte er dabei und der Winzer versprach, das Paket zuzustellen. Es kam allerdings, wie’s kommen musste, zumindest nach Murphy’s Gesetz: Der Winzer fuhr zwar tatsächlich zu der Adresse, aber der Zahnarzt hatte an jenem Tag geschlossen. Die Nachbarn wollten die Ware nicht annehmen, weil Ärztebedarf mitunter empfindlich ist und sie nicht für Schäden oder verdorbene Ware verantwortlich sein wollten. Er rief mich auch gleich an: “Haha! Der Bert wird am Montag ausflippen! Der wird mir kein Wort glauben, wenn ich ihm erzähle, dass ich das Zeug nicht losgeworden bin und er jetzt doch selber nach Landscheid fahren muss!”

Reden wir doch mal wieder ein bisschen von Kunden, ich will ja pro Eintrag die Grenze von 2000 Worten nicht zu deutlich überschreiten:
Eine Pizzeria, betrieben von einem echten Italiener, ein verschmitzt aussehender Typ mit Halbglatze und deutlichem Hang zum Reden mit Armen und Beinen. Der nun hatte einen Garantiefall mit seiner Espressomaschine, die neue war schon da und ich sollte die alte mitnehmen, um sie nach Italien zurückzuschicken. Und das war nicht so ein Senseozwerg, nein, dabei handelte es sich um einen Klotz für Profis von etwa einem Zentner Gewicht, den wir zu zweit ins Auto hievten. Der Gastwirt schwatzte dabei munter und drückte mir zum Abschied die Hand, und ob er das aus freundlicher Gewohnheit oder aus anderen Motiven machte, kann ich nicht recht beurteilen, denn sein Händedruck ist gruselig: Der Mann hatte nämlich scheinbar bei irgendeiner Gelegenheit, ich habe nicht nachgefragt, die vordere Hälfte aller Finger seiner rechten Hand verloren (mit Ausnahme des Daumens). Irgendwie wurde mir dabei heiß und kalt gleichzeitig.